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Mittwoch, 20. Juni 2012

Sieben Entscheidungen: "Weit weg" von Benjamin Gehrs

Eigentlich treffe ich keine übereilten Entschlüsse. Bei allen Dingen, die es zu entscheiden gilt, lasse ich  mir Zeit, manchmal auch sehr viel Zeit.
Als ich 16 war, überlegte ich mir, keinen Wehrdienst leisten zu wollen. Klar, rebellische Phase, „Scheiß-Bund“ und so. Nach dem Abi entschied ich mich dann doch für die Bundeswehr. Ich meine, Joschka Fischer war auch erst gegen jeden Militäreinsatz und dann, nach Srebenica, hat er halt umgedacht. Zugegeben, ich habe die Frist versäumt, in der ich gegen meine Einberufung hätte Einspruch einlegen müssen. Aber trotzdem zeigt das doch irgendwie: Ich lasse Entscheidungen in aller Ruhe reifen.
Kim meint, ich weiche ihnen aus. Neulich beim Frühstück wollte sie wissen, ob ich in naher Zukunft mit ihr ein Kind bekomme. Ohne Vorwarnung, einfach so.
„Philipp, ich möchte, dass wir eine richtige Familie werden“, sagte sie, und mir war sofort klar, dass sie den Satz schon ein paar Mal vor dem Spiegel einstudiert hatte. Sie schaute mich erwartungsvoll an und stellte, als ich nicht reagierte, nochmal klar: „Ich möchte ein Kind mit Dir.“
„Okay...“, meinte ich. „Das muss ich mir überlegen.“ Ich lächelte flüchtig und nickte aufmunternd, so wie ich es immer tat, wenn Kim Vorschläge machte, die unser beider Leben betrafen. Als Kim nach ein paar Minuten aber immer noch nicht weiter aß und mich anstarrte, wurde mir ein wenig unwohl zumute.
„Dein Kaffee wird kalt.“
Kim sah mich unentwegt an. „Dann wird er eben kalt.“ Sie schien es ernst zu meinen. Sie hasste kalten Kaffee. Ich deutete ein Schulterzucken an und blätterte in einem Katalog, der auf dem Tisch herumlag. Gelassenheit ausstrahlen.
„Dir sind jetzt Klamotten wichtiger als die Frage, ob Du mit mir ein Kind bekommst?“ Kim hatte die Arme verschränkt. In ihrer Stimme lag ein herausfordernder Ton.
„Ich habe doch gesagt, ich überlege es mir“, sagte ich in einer Lautstärke, die nur noch wenig  Gelassenheit ausstrahlte.
Damit war das Frühstück im Eimer. Der Kaffee schmeckte bitter und überhaupt war mir der Appetit vergangen. Ich meine, das konnte doch auch nicht ihr Ernst sein: Urplötzlich werde ich mit etwas Großem konfrontiert, das mein Leben komplett verändern würde, und sofort soll ich eine Lösung parat haben. So was muss man sich doch erst mal durch den Kopf gehen lassen!
Nach dem Frühstück weinte Kim jedenfalls stundenlang, während ich ihr über den Rücken streichelte und etwas von „Aber ich mag Kinder“ und „grundsätzlich“ brummte. Sie reagierte mit noch heftigeren Schluchzern, und so fuhr ich einige Zeit später nach Hause, obwohl sie sich noch immer nicht beruhigt hatte. Am Abend schickte sie mir dann eine SMS. Sie könne einfach nicht glauben, schrieb sie, dass ich mich noch nicht mit dem Thema beschäftigt habe. Tja, so war es aber. Doch das schrieb ich ihr lieber nicht.
Und nun also sitze ich hier am Flughafen, ein Ticket nach Australien in der Tasche. Einmal ans andere Ende der Welt, einfach so.
Ich krame die Packung Butterkekse hervor, die ich mir als Wegzehrung am Bahnhof gekauft habe und stecke mir einen in den Mund. Seit gestern ist nichts mehr wie vorher, und das krachende Geräusch der Kekse hat den beruhigenden Effekt, die vielen durcheinander quatschenden Stimmen in meinem Kopf zu übertönen.
Manch einer würde vielleicht von einer Verkettung von Zufällen sprechen, die mir an meinem zweiunddreißigsten Geburtstag widerfahren sind. Ich aber nicht. Ich begreife das Unvorhergesehene als eine Chance, mein Leben mit Sinn zu füllen. Aber ganz ehrlich: Bei den Ereignissen, die gestern im Laufe des Tages wie die Zahnräder eines feinen Uhrwerks ineinander griffen, hätte es auch für den größten Zweifler nur eine Möglichkeit gegeben: Sachen packen und ab nach Australien. Und genau deshalb sitze ich jetzt auch am Flughafen.
Ich hatte meine Kumpels zum Feiern in unsere Stammkneipe, das „Millers“, eingeladen. Anfangs war außer mir noch niemand da, und so traf ich an der Bar auf diesen Mick, der kurz zuvor noch in Australien gelebt hatte: Typ Weltenbummler, braun gebrannt, schulterlanges Haar. Ein Bären- oder Haifischzahn, den Teil habe ich vergessen, hing an einem dicken Lederband um Micks muskulösen Nacken, und seine behaarten Unterarme überzogen großflächige Tätowierungen, wie man sie von den Maori kennt.
Jedenfalls hatte Mick ein Jahr lang auf der Suche nach Gold Löcher ins Outback gebohrt. „Die beste Zeit meines Lebens“ meinte er und kippte einen Whisky hinunter. Ich nickte und nippte an meinem Gin Tonic. „Es ist wie bei den Cowboys im Wilden Westen“, fuhr Mick fort. „Nur die Jungs und Du und die wilde Natur.“
„Klingt aufregend“, meinte ich und fragte mich, was mir eigentlich im letzten Jahr aufregendes widerfahren war. Mir fiel das gemeinsame Wochenende mit Kim an der Nordsee ein und wie wir bei der Wattwanderung von Weitem zwei Robben beobachtet hatten. Ich entschied, Mick nicht davon zu erzählen.
„Immer zwei Wochen lang mit dem Pickup durchs Outback“, erzählte Mick. „Tagsüber Proben nehmen, abends Lagerfeuer, Zelte und Känguru-Steaks.“ Er rieb sich die großen Hände. „Dann eine Woche Urlaub am Strand: Surfen und junge Backpackerinnen klar machen.“ Mick machte eine effektvolle Pause und grinste. „Die fahren total ab auf Goldsucher.“
Plötzlich schlug er mir mit dem Handrücken in die Seite, so dass mir für einen Moment die Luft wegblieb. „Das wär' doch auch was für dich“, rief er mit hochgezogenen Augenbrauen, als habe er gerade einen sensationellen Einfall gehabt. Ich widerstand dem Impuls, meine schmerzenden Rippen zu betasten und nickte grimmig.
„Oder etwa nicht?“, bohrte Mick nach, während er in seiner Hemdtasche nestelte. Er zog eine Visitenkarte hervor und warf sie vor mir auf den Tresen: „North Eastern Goldfield Explorations, CEO Jack Hunter, 14 Harris Place, Kalgoorlie, Australia“ stand darauf. „Bestell' Jack 'nen schönen Gruß vom „Crazy German“, wenn Du hinfährst“, meinte Mick, schnippte mit einer cowboymäßigen Handbewegung einen Geldschein auf die Theke und sprang mit Schwung vom Hocker. Beim Rausgehen drehte er sich noch mal zu mir um: „Australien, Mann“, rief er. „Mach was draus! Wenn ich könnte, würde ich sofort wieder runter.“
Noch während ich die zerknitterte Visitenkarte befühlte, brummte mein Handy: eine SMS von meiner Ex-Freundin Anna. Verwirrt steckte ich das Kärtchen ein und starrte auf das Display. Ich hatte Anna ewig nicht gesehen. Als Jugendliche waren wir drei Jahre lang ein Paar gewesen. Ich dachte daran, wie ich sie mit fünfzehn das erste Mal im Ferienlager ansprach. Sie, den Schwarm aller Jungs. Wie sie mir einen Korb gab, nur um mir dann später bei der Abschlussfeier ihre Zunge in den Hals zu stecken.
Hallo Philipp, alles Gute!
schrieb Anna,
Lang ist's her – was macht das Leben? Bei mir ging's zuletzt ziemlich drunter und drüber. Habe mich von Alex getrennt und nehme mir jetzt eine Auszeit. Rate mal wo? In Australien.
Ich schnaubte. Australien, wo auch sonst? War ich vielleicht als einziger Mensch auf dieser Welt nicht in der Lage, das Leben bei den Eiern zu packen?
Damit Du Dir ein Bild machen kannst,
schrieb sie weiter,
schicke ich Dir ein Foto. Wäre schön, mal wieder von Dir zu hören. Oder hat Kim Dir verboten, mir zu schreiben? Sonnige Grüße, Anna
Auf dem Foto, das sie selbst von sich gemacht hatte, saß meine Ex-Freundin im Bikini am Strand und lächelte in die Kamera. Um die Augen hatte sie ein paar Fältchen bekommen und ihre Haare waren etwas kürzer und dunkel gefärbt. Ansonsten sah sie noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ihre Zahnreihen waren makellos, sie hatte eine Top-Figur und ihr Dekolleté übte noch immer einen hypnotischen Reiz auf mich aus.
Ich spürte, wie mein Herz bei ihrem Anblick einen Sprung machte. Warum hatte mir Anna bloß dieses Bild von sich geschickt? Ganz offensichtlich hatte sie sich die größte Mühe gegeben, auf dem Foto perfekt auszusehen. Ich starrte wie gebannt auf das Display meines Handys, als ob es da noch eine versteckte Botschaft zu entdecken gäbe. Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
Offensichtlich hatte sie unsere gemeinsame Zeit in guter Erinnerung. Tja, ich auch, dachte ich. Oder? Naja, abgesehen von den letzten Wochen vielleicht, als sie es hinbekam, gleichzeitig mit einem anderen Typen rumzumachen und mir weiterhin die großen Gefühle vorzuspielen.
Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn Anna eine der Rucksackreisenden war, die Mick flachgelegt hatte? Ich merkte, wie mir warmes Blut in den Kopf schoss. Bilder einer australischen Strandhütte entstanden vor meinem inneren Auge. Bilder von ineinander verschlungenen Gliedmaßen, von Annas schmaler Taille und Micks kräftigen Schultern, noch bedeckt vom roten Staub des Outbacks.
Erst als meine Kiefer schmerzten, bemerkte ich, wie meine Zähne dabei waren, etwas Unsichtbares zu zermahlen. Ich versuchte die Bilder zu verscheuchen und in mich hineinzuhorchen: War das etwa Eifersucht, die sich da in mir ihren Platz zurück erkämpfte? Ich hatte dieses Gefühl seit einer Ewigkeit nicht mehr verspürt. Es fühlte sich gut an.
Wie ich so im „Millers“ am Tresen saß, wurde mir das erste Mal bewusst, worauf ich eigentlich verzichtet hatte. Es kam mir vor, als hätte ich in den letzten Jahren unter einer überdimensionierten Käseglocke gelebt, in der Reize von außerhalb nur gedämpft bis zu mir vordrangen. Ich hatte irgendein allgemein akzeptiertes Programm durchlaufen, das mich im Zeitraffer altern ließ. Gerade noch war ich der geilste Junge im Ferienlager, und schon sollte ich auf fürsorglicher Familienvater umsatteln? Ich meine, ich bin Anfang Dreißig. Mein Leben hat doch gerade erst irgendwie angefangen, oder?
Mick und Anna hatten etwas in mir ausgelöst. Und trotzdem verdanke ich den Umstand, dass ich nun tatsächlich hier am Flughafen sitze und nach Australien fliegen werde, einzig und allein Oma Trude.
Ohne sie hätte sich mein Katzenjammer wohl nach zwei, drei Gin Tonic einfach wieder in Luft aufgelöst. Ich hätte mich mit meinen Kumpels betrunken und irgendwann gegen Mitternacht Kim angerufen. Ich hätte ihr gesagt, dass es mir leid tue, ihre Glückwünsch-Anrufe nicht entgegen genommen zu haben. Ich hätte Annas Nachricht von meinem Handy gelöscht und sie nie wieder erwähnt. Ich hätte ein Kind gekriegt, dazu Bauchansatz, Doppelkinn und Geheimratsecken. Ich hätte Frauen, die nicht Kim waren, nackt nur noch in der Sauna und im Ostsee-Urlaub zu Gesicht bekommen. Kurzum: Ich wäre wieder unter meine Käseglocke geschlüpft. Ein selbstbestimmtes Leben? Ein für allemal vorbei.
Doch Oma Trude sei Dank sollte es dazu nicht kommen. Sie war nicht meine Oma, sondern die von meinem Freund Sebastian. Aber ich kannte sie, seit ich fünf oder sechs war und ich mir bei ihr gemeinsam mit Sebastian einmal die Woche zwei Mark und ein Stück Kuchen abgeholt hatte. Sie mochte mich, weil ich ihren selbstgebackenen Apfelkuchen mochte. Ich mochte sie, weil sie immer so gute Laune hatte. Okay, und wegen der zwei Mark. Aber so sind Kinder.
Wäre sie in den letzten Jahren nicht so vergesslich geworden und hätte mir nicht bei jedem Besuch immer wieder gesagt, was für ein „feines Mädchen“ Kim sei und dass ich ihr schleunigst einen Heiratsantrag machen solle – vielleicht hätte ich Oma Trude auch noch besucht, nachdem sie ins Seniorenheim musste.
Doch mit Besuchen war es jetzt so oder so vorbei. Um zehn Uhr, mittlerweile waren schon ein paar Gratulanten im „Millers“, rief Sebastian mich an: „Tut mir leid, Philipp. Ich werd' nicht mehr kommen. Oma Trude ist heute gestorben.“
„Oh“, machte ich. Es entstand eine kurze, aber unangenehme Pause, in der Sebastian den Bass der Musik wummern hören musste. Mir fiel es schwer, die passenden Worte zu finden, wenn jemand starb. „Das tut mir leid“, sagte ich. „Wie...?“
„An einer Lungenembolie. Es ging schnell.“
„Okay.“
„Ja, ich fahr dann jetzt zu meinen Eltern.“
„Klar“, meinte ich.
„Bevor ich's vergesse“, sagte Sebastian. „Ich soll dich von meiner Schwester fragen, ob du vielleicht verreisen willst. Sie wäre morgen eigentlich weggeflogen, bleibt jetzt aber da, um Mama zu trösten.“
„Vielleicht findet sie ja noch jemanden bei Ebay, der ihr Ticket nimmt?“, warf ich ein. Es erschien mir unpassend, vom Tod von Oma Trude zu profitieren.
Kaum hatte ich aufgelegt, schoss es mir aber durch den Kopf. Mit flinken Fingern tippte ich in mein Handy: „Wohin wollte sie denn fliegen?“. Wenige Sekunden später brummte es. Ich meine, klar, da hätte auch Spanien stehen können, oder Schweden oder Thailand. Stand es aber nicht. Es stand das denkbar Unwahrscheinlichste da: Australien.
Ein Mensch stirbt, ein anderer wird geboren. Ich weiß, es klingt schwülstig, zumal ich ja gar nicht neu geboren worden bin. Aber ich fühle mich so! Alles geht von vorne los, ich darf wieder fünfzehn sein.
Der Flug hat Verspätung und ich schaue noch mal mein Handy durch. Unzählige Nachrichten von Kim: „Wo bist Du?“ „Wie war die Feier?“ „Wollen wir uns nicht treffen und reden?“ Auf keine einzige habe ich reagiert. Was hätte ich auch sagen sollen? „Du willst doch immer, dass ich Entscheidungen treffe. Das habe ich jetzt getan. Ich gehe nach Australien, um meine Jugendliebe zu treffen und Gold zu suchen“?
Vor lauter Aufregung habe ich die Kekse schon fast aufgegessen. Ich schaue mir noch mal das Foto von Anna an. Nach all den Jahren ist ihr Name noch immer ein fernes Versprechen. Aber das Bild von ihr, das ist sogar ein sehr konkretes Versprechen.
„Herr Philipp Börne“ schallt es plötzlich aus den Lautsprechern. „Herr Philipp Börne wird gebeten, sich bei der Information zu melden. Herr Philipp Börne, kommen Sie bitte zum Informationsschalter in der Abflughalle.“ Vor Schreck muss ich tief Luft holen und atme dabei einige Kekskrümel ein, die für einen ordentlichen Hustenanfall sorgen.
Ist etwas mit der Umbuchung schief gelaufen? Oder mit dem Visum? Eilig haste ich durch die Halle, schiebe Menschen zur Seite auf der Suche nach dem Schalter.
Ich sehe sie schon von weitem. Sie sieht traurig aus. Natürlich sieht sie traurig aus. Aber irgendwie auch erwachsen, wie sie mit ihrer Handtasche dasteht, ihre Haare zu einem Zopf zurück gebunden. Ich selbst erwecke wohl eher den Eindruck eines ausgebüxten Kindes, Kekskrümel auf dem T-Shirt und einen Ausdruck auf dem Gesicht, als sei ich gerade von einem Blasorchester aus meinen Träumen geweckt worden. Jedenfalls schaut mich der alte Mann hinter dem Schalter mit einem mitleidigen Blick an, der keinen Zweifel daran lässt, wen er für den Guten und wen für den Bösen hält.
Ein paar Schritte vor Kim bleibe ich stehen. „Du bist mir hinterher gefahren. Wie...? Ich meine das sind fünf Stunden mit dem Zug.“
Sie sagt nichts. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, sagt sie: „Du hättest Dich wenigstens verabschieden können“. Kims Stimme ist leise, aber ganz fest. Ich denke, sie müsste doch zornig sein, enttäuscht, irgendwas. Aber sie zeigt es nicht.
Natürlich hat sie recht. „Schlechter Stil“ wäre wohl die Untertreibung des Jahrhunderts für meinen heimlichen Abgang.
Ich suche nach den passenden Worten, aber für diese Situation bin ich noch schlechter vorbereitet als dafür, einen Freund zu trösten, dessen Oma gerade gestorben ist. Ich mache den Mund auf und wieder zu, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der alte Flughafenangestellte beobachtet uns noch immer aus dem Augenwinkel.
„Es tut mir leid“, sage ich schließlich.
Eine einzelne Träne kullert Kim aus dem Auge, aber sie dreht sich gleich zur Seite und tupft sie mit einer flüchtigen Bewegung ihres Arms weg.
Mein Magen krampft sich bei dem Anblick zusammen. Ich verspüre den Impuls, sie in den Arm zu nehmen, ihre Tränen mit meinem Körper aufzufangen und ihr über den Rücken zu streicheln.
Das erste Mal schaue ich Kim wirklich an. Mein Gott, fährt es mir plötzlich durch den Kopf, ist sie schön! Wie sie dasteht mit ihrer traurigen Eleganz. Für einen Moment bin ich von dem Gedanken völlig überrumpelt. Tagelang, ach was, jahrelang habe ich das nicht mehr so klar gedacht.
Werde ich jetzt etwa gefühlsduselig, weil Kim hier vor mir steht? Weil sie mich gesucht hat? Den langen Weg hierher gefahren ist?
Mir kommen Oma Trudes Worte in den Kopf, aber ich verscheuche sie ganz schnell wieder. Stattdessen denke ich an die Weite des Outbacks, ich denke an das Bild von Anna, ich denke an eine überdimensionierte Käseglocke, unter der ich gefangen sein werde und aus der ich nicht mehr heraus kann, wenn ich jetzt schwächele.
„Ich schätze, ich bin noch nicht so weit.“ Die Worte kommen einfach so aus mir heraus. Ich habe es mir bisher selbst noch nicht eingestanden, aber wahrscheinlich komme ich damit der Wahrheit am nächsten.
Kim versucht ein Lächeln. „Schick mir mal 'ne Karte“, sagt sie. Dann macht sie zwei Schritte auf mich zu und drückt mir einen zarten Kuss auf die Wange. „Gute Reise.“
Meine Arme und Beine sind plötzlich schwer wie Betonpfeiler. Ich mache die Augen zu, rieche für einen kurzen Moment etwas Vertrautes – ihre Haare – und als ich wieder aufsehe hat Kim sich schon umgedreht und läuft schnellen Schrittes davon.
Ich möchte ihr hinterherlaufen, aber ich kann nicht. Mit plumpen Bewegungen schleppe ich mich zur nächsten Bank und lasse mich darauf fallen. Ich muss wohl für einen Moment weggetreten sein, denn als ich die Augen aufmache, hat sich der alte Mann über mich gebeugt.
„Hören Sie, Ihr Flug geht gleich“, sagt er, während er mich aus traurigen Augen ansieht.
„Danke“, sage ich, noch etwas benommen, und setze mich auf.
Der Alte will schon wieder zu seinem Schalter gehen, dreht sich dann aber noch einmal um. „Ach übrigens“, sagt er. „Sie würde es noch hören. Ich meine, falls ich für sie eine Durchsage machen soll.“
Ich ringe mir ein gequältes Lächeln ab und schüttele langsam den Kopf. Ein Teil von mir möchte diese Durchsage, möchte Kim am liebsten auch gleich noch einen Heiratsantrag machen, hier an Ort und Stelle, Käseglocke hin oder her. Aber da ist auch dieser andere Teil, und der behält jetzt die Oberhand. Während ich mein Ticket hervor krame, höre ich in meinem Kopf schon wieder die unzähligen Stimmen, die alle ihr Recht einfordern, angehört zu werden. Butterkekse, denke ich. Ich muss mir noch Butterkekse kaufen, damit ich auf dem Flug Ruhe habe.

(Lektorat: Thomas Piesbergen)

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