Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Sonntag, 22. Dezember 2019

Neue Veröffentlichung - "Auf oder Davon" von Dr. Thomas Piesbergen in: "Aufbruch: Kunst und Spiritualität"

In dem sehr schönen Kunstband Kunst und Spiritualität ist, neben Beiträgen von Dr. Gunter Friedrich, Sabine Franke, Wolfgang Schmidt-Franke und Karin Weber, das Essay Auf oder Davon von Dr. Thomas Piesbergen nachzulesen.


LECTORIUM ROSICRUCIANUM (Hg.)
Aufbruch: Kunst + Spritualität / Departure: Art + Spirituality

deutsch/englisch
1. Auflage 2019, 96 Seiten 
mit zahlreichen farb. Abb., 
Hardcover mit Fadenheftung, 24 x 28 cm

ISBN: 978-3-7455-1075-1


Zu bestellen unter folgendem Link: (KLICK)

Dienstag, 17. Dezember 2019

Neue Veröffentlichung der ehemaligen Textprojekt-Teilnehmerin Silke Tobeler

Silke Tobeler, die Teilnehmerin des allerersten Kursdurchgangs des Textprojekts gewesen ist, hat nach etlichen kleineren Veröffentlichungen endlich ihren ersten Roman "Collage" veröffentlicht!



Eine Geschichte über Kunstfälschung, Enteignung, Ost-West-Berlin-Prignitz-Deutschland, DADA, Art-brut und auch ein wenig Liebe auf 470 Seiten

Zu beziehen über den Salsa-Verlag für wohlfeile 16,80€

Donnerstag, 19. September 2019

Das Selbst im Spiegel der Welt - Einführungsrede zur Ausstellung "Gabriela Goronzy - Lebendigkeit" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen" von Gabriela Goronzy in der Galerie des Einstellungsraum e.V.  findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Regeln regeln. Regeln regeln!"

Gabriela Goronzy, aus dem Tableau "100 Zeichnungen", 2019

Mit den kulturellen Umwälzungen, die die Renaissance mit sich gebracht hat, erschien auch ein neuer Topos im Repertoire der Bildenden Kunst: Das Selbstportrait.

Aus den Epochen davor sind nur umstrittene oder sogar nur in Berichten überlieferte Einzelfälle bekannt. So soll der Bildhauer Phidias sich selbst als Figur auf dem Schild der Athene abgebildet haben. Auch aus dem Mittelalter gibt es nur zwei Beispiele, die vom Maler Johannes Aquila stammen, der sich auf Kirchenfresken im österreichischen Radkersburg und dem slowenischen Matjanci verewigt hat.

Doch erst in der Renaissance, in der das zuvor im Kollektiv eingebundene Individuum wiederentdeckt worden ist, begannen Maler den Blick intensiv auf sich selbst zu richten, zunächst meist nur verborgen oder in Gruppenbildern versteckt, doch schon bald als eigenständiges Thema. Seitdem durchzieht das Selbstportrait die Kunstgeschichte wie ein roter Faden und ist in der Gegenwart in Form des Selfies allgegenwärtig geworden.

Zwar kann man für die Frühzeit vermuten, daß Künstler oft aus Kostengründen nicht an dem Gesicht eines Modells, sondern an dem eigenen die menschliche Physiognomie studiert haben, doch legen die Darstellungen schon bald Zeugnis ab von einer Suche nach Selbsterkenntnis, meist mit der Konnotation des memento mori. Oder sie dienen der Selbstdarstellung, in der nicht nach dem Ist-Selbst gesucht wird, sondern ein Wunsch-Selbst konstruiert wird, in dem Bestreben, vielleicht irgendwann die geschaffene Vision des Selbst ausfüllen zu können.

Die bloße Frage nach dem individuellen Selbst weist eine sehr viel deutlichere Traditionsspur auf und findet in Europa ihren frühesten markanten Ausdruck in dem Diktum „Gnothi seauton“: Erkenne Dich selbst!, das im 5. Jhd. v. Chr. als Inschrift in der Vorhalle des Tempels von Delphi angebracht worden war.

Der Blick auf das Selbst wird im delphischen Orakel in den Dienst der Welterkenntnis gestellt, in dem vorausgesetzt wird, daß die Vorgänge in unserem Geist den Vorgängen in der äußeren Welt entsprechen, und daß die Art und Weise, wie wir Dinge ordnen und bewerten, allgemeingültigen Prinzipien folgt. Das Selbst wird zum Spiegel der Welt.

Übertragen wir diese Idee auf die Kulturtheorie befinden wir uns unversehens mitten in dem maßgeblichen Diskurs über das wechselwirkende Verhältnis von Identität, Kultur und Umwelt.
Zunächst wäre die zentrale These des Determinismus zu nennen: Die Handlungsmuster, die Selbstwahrnehmung und damit auch die Identität des Menschen werden demnach von seiner Umwelt geprägt. Die Kultur läßt sich entsprechend aus der Natur ableiten. Indem er sich selbst erforscht, begreift der Mensch, wie die Welt ihn geformt hat.
Bei einem Realitätsabgleich müssen wir jedoch sehr rasch einsehen: Unsere heutige Lebenswelt ist vor allem von uns Menschen geprägt, und das nicht nur passiv, sondern auch aktiv. Und in der hochdifferenzierten postindustriellen Gesellschaft beobachten wir, wie innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges verschiedene kulturelle Realitäten nebeneinander bestehen, obwohl sie in derselben, vom Menschen geschaffenen Umwelt fortbestehen.

Hier greifen die dem historischen Materialismus und Determinismus entgegengesetzten Denkrichtungen des Possibilismus und Strukturalismus, die der Hypothese, die menschliche Kultur erhalte ihre Struktur durch Anpassung an natürliche Gegebenheiten, entschieden widersprechen. Ihre Annahmen besagen statt dessen, erst die Struktur des menschlichen Denkens weise den Dingen der Umwelt Bedeutung zu, die Kultur überforme die Natur, und so schaffe der Mensch aus sich selbst heraus seine kulturelle Umwelt.

Folgen wir dieser Ansicht so verrät uns also nicht nur der Blick in uns selbst etwas über die äußere Welt, sondern der Blick in die äußere, von uns geschaffene Welt verrät uns etwas über unser kulturelles Selbst, dessen Handlungsmuster diese Welt hervorgebracht haben.

Um trotz dieses divergenten Diskurses kulturelle Tatbestände beschreiben zu können und der Dynamik kultureller Reproduktion gerecht zu werden, wird in der ethnologischen Theorie seit etwa drei Jahrzehnten oft mit dem Begriff der strukturierenden Struktur gearbeitet. Mit ihm werden vom Menschen geschaffene Erscheinungen in unserer kulturellen Matrix bezeichnet, die auf physischem, soziologischem oder politischem Weg unsere Handlungen rückwirkend regeln.
Eben so gut können wir aber auch uns selbst als strukturierende Strukturen begreifen. Der Mensch und seine Umwelt sind beides Teile eines sich selbst regulierenden Systems geworden.

Diese Inversion der Perspektive und die Zweigleisigkeit der Beziehung von Selbst und Welt ist auch in der Geistesgeschichte nachzuvollziehen. So wie zuerst in der Antike und später in der frühen Renaissance das Selbst zum Spiegel der Welt wurde, wurde in der Spätrenaissance und Reformationszeit schließlich auch die Welt zum Spiegel des Selbst. Diesen in Gegenrichtung gewendeten Blick finden wir z.B. bei Michel des Montaigne, der schrieb: „Diese große Welt ist der Spiegel, in den wir hineinschauen müssen, um uns von Grund auf kennen zu lernen.“, sowie später bei William Makepeace Thackeray, in dessen Jahrmarkt der Eitelkeiten es heißt: „Die Welt ist ein Spiegel, aus dem jedem sein eigenes Gesicht entgegenblickt.“
Das „Gnothi seauton“ ist zu „Gnothi ton kosmon“ geworden, das „Erkenne dich selbst“ zum „Erkenne die Welt“.

Doch der Weg der Erkenntnis ist in beiden Richtungen ein steiniger. Denn gerade gegenwärtig scheint sich der Blick nach außen zu verlieren in zahllosen Vorspiegelungen des Lebens. Wir sind umgeben von einem so dichten, betäubenden Nebel aus Scheinkonflikten, Fehlinformationen, projizierten Wunsch-Identitäten und ihrem inszeniertem Scheinleben, von widerstreitenden Rollenbildern und Wertesystemen, daß es kaum möglich scheint, in einer regellos anmutenden Gegenwart eine authentische Repräsentation des Selbst zu finden.
Oder wir begeben uns in die unbehagliche Lage anzuerkennen, daß gerade dieser Mangel an Authentizität unser kulturelles Selbst sehr wohl und vielleicht am wahrhaftigsten abbildet.

Gabriela Goronzy, "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen", Ausstellungsansicht, 2019

In diesem Spannungsfeld sind die Arbeiten des Tableaus „100 Zeichnungen“ von Gabriela Goronzy angesiedelt, deren beherrschendes, immer wieder kehrendes Element das Selbstportrait ist.
Zunächst sind einige klassische frontale Blicke in den Spiegel darunter, die Künstlerin sieht sich selbst in die Augen und ihr Bild anschließend dem stellvertretenden Betrachter. Sie scheinen der delphischen Losung „Erkenne dich selbst“ zu folgen.

Doch diese schlichtest mögliche Anordnung wird auf mehreren anderen Blättern bereits erweitert: Über zusätzliche Spiegel bildet sich die Künstlerin beim Blick auf das eigene Spiegelbild ab und zeigt damit die Dyade von Beobachter und beobachtetem Objekt auf. Das, was der Beobachter sehen kann, hängt von der Wahl seiner Perspektive ab. Auch bei der Selbstbetrachtung im Spiegel bleiben gewisse Bereiche immer unbeobachtbar. Das Beobachtete kennzeichnet also auch immer die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit des Beobachters und erst wenn man den Beobachter mit in das Bild einbezieht, erhält man ein annähernd vollständiges Bild.

Gabriela Goronzy, "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen", Ausstellungsansicht, 2019

Auf anderen Zeichnungen wird plötzlich der Spiegel selbst zum Objekt der Betrachtung, die Spiegelfläche bleibt jedoch leer und das Blatt wird beherrscht von einem barock anmutenden, prächtig ornamentierten Rahmen. Hier tritt ein zweites wichtiges Element auf den Plan, das uns im Tableau in zahlreichen Varianten begegnet: das Ornament, das auch immer wieder durch die vielfache Spiegelung einzelner Bildelemente hervorgebracht wird.

Besonders auffällig sind die Ornamente, die aus menschlichen Figuren gebildet sind, zumeist solche, die als idealisierte und normierte Selbstportraits gelesen werden können. Gabriela Goronzy nannte hier als Einfluß vor allem Filme des Choreographen Busby Berkeley, der in den 30er und 40er Jahren zahllose Tanz- und Revue-Filme inszenierte und dadurch auffiel, daß seine Tänzerinnen sich im Laufe der Choreographie nimmer wieder zu symmetrischen Mustern und Ornamenten ordneten.

Gabriela Goronzy, "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen", Ausstellungsansicht, 2019

Hier sehen wir also als bildhafte Metapher die kulturelle Struktur vor uns, in die sich der Mensch einfügt und in der er seine individuelle Identität einer Gruppenidentität unterordnet, um eine übergeordnete Form hervorzubringen - keine individuelle, sondern eine kulturelle Identität, die den notwendigen Rahmen der Selbstwahrnehmung bildet oder sie sogar fast vollständig überlagert.

Dieses Spannungsfeld zwischen der Wahrnehmung unseres Selbst als Individuum oder Teil einer Gruppe, als autarke Entität oder ausstauschbares Mosaiksteinchen, als Original oder Kopie, beleuchtet Gabriela Goronzy auf sehr differenzierte Weise und ohne abschließende Wertung. Manche Blätter zeigen das Kollektiv als etwas überzeugend Ästhetisches, in dem das Individuum, zugunsten eines Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile, an Bedeutung verliert, gleichzeitig aber in der Gemeinschaft geschützt ist.

Ein besonders berührendes Beispiel dafür ist die Zeichnung nach einer Photographie aus den 40er Jahren, die die Mutter der Künstlerin mit zwei Freundinnen zeigt. Sie stellt nicht nur den Versuch einer Annäherung an die eigene identitätsstiftende Familiengeschichte dar, sondern auch die Geborgenheit in einer Gemeinschaft aus Gleichen. Denn die drei Freundinnen sehen sich in Kleidung und Haltung einander ähnlich wie Drillinge. Sie repräsentieren einen als positiv erfahrenen privaten wie gesellschaftlichen Konsens und bilden zu dritt eine in sich geschlossene Form.

Gabriela Goronzy, "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen", Ausstellungsansicht, 2019

Andere Blätter hingegen zeigen kopflose Frauen, die sich wie altmodische Kleiderpuppen aus Papier aus einem Fundus verschiedener Köpfe den passenden aussuchen können. In diesem Zusammenhang wird das Selbst reduziert auf seine repräsentable Oberfläche, als ein beliebiges Mittel der Anpassung an die unterschiedlichen Anforderungen der kulturellen Umwelt. Der adaptive Druck der äußeren Struktur bewirkt hier einen negativ konnotierten Verlust der Identität.

Auf einigen Zeichnungen sehen wir Muster aus Kreisen und Quadraten, die sowohl an die geometrischen Formen erinnern, in die Leonardo da Vinci seinen Idealmenschen einspannte, als auch an Konstruktionen der Zentralperspektive in der Renaissance. In diesen strukturierenden, hierarchisch wirksamen Liniennetzen sehen wir mal eine dunkle, gesichtslose Gruppe von menschlichen Schemen, mal eine Opposition von Individuum und Gruppe, die angeordnet ist, als liefe sie in einem Hamsterrad.

Das ausscherende Individuum finden wir auch auf einer Zeichnung, auf der Gesichter hinter senkrecht verlaufenden Linien angeordnet sind, wahlweise lesbar als Perlen an einer Schnur oder auch als gefangen hinter Gitterstäben. Nur ein von den anderen isolierter Kopf ist nicht durch die senkrechten Streifen eines Teils seines Gesichtes beraubt.  

Struktur und Normierung in Opposition zum widerständigen Individuum begegnen uns in den Bildern aber nicht nur auf der metaphorisch abbildenden Ebene, sondern auch in formellen Aspekten: Der Urgrund des Selbst, der noch formlose Wille zur Lebendigkeit wird repräsentiert durch die lebendigste aller Farben: das dominante Rot.
Die Linienführung der Zeichnungen hingegen scheint diese Kraft mit aller Macht zähmen zu wollen. Ihr fehlt jede Spontanität und sie zeugt von dem geduldigen, kontrollierten Prozess der Bild- und Realitätskonstruktion, der nur in wenigen Momenten gebrochen wird von eskalierendem Rot oder von spontanen Fingerabdrücken, die ihre unwiderlegbare Individualität und Authentizität behaupten.

Kontrolle und Normierung begegnen uns aber auch in Form ganz konkreter und kulturell signifikanter Bildzitate.
Da sind die bereits erwähnten idealisierten Figuren der Revuefilme aus den 30er Jahren sowie Fotomodelle aus Modemagazinen, die damals wie heute nicht nur als Wunsch-Selbst dienen, sondern auch als Rollenklischees, mit denen Frauen eine bestimmte, eng begrenzte gesellschaftliche Rolle zugewiesen werden soll. Sie erfüllen also auch die Funktion symbolisch-struktureller Steuerungselemente, die gesellschaftliche Regeln und Hierarchien postulieren.

Diesen Rollenklischees zur Seite gestellt und in ihrer Erscheinung zum Verwechseln ähnlich, aber mit einer sozio-kulturell entgegengesetzten Motivation geschaffen, sehen wir auf mehreren Bildern die Superheldin Wonder Woman in Aktion. Die Amazone Wonder Woman, die mit ungetrübtem Bewußtsein ihrer Weiblichkeit, einer nahezu grenzenlosen Fähigkeit zur Liebe und Vergebung und einer geschickt verschleierten sexuellen Ausrichtung der von Männern beherrschten Welt die Stirn bot, wurde in den 40er Jahren zu einer popkulturellen Leitfigur des Feminismus und zur Identifikationsfigur lesbischer und bisexueller Frauen.

Gabriela Goronzy, "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen", Ausstellungsansicht, 2019

Denn ebenso gut wie es medial transportierten Rollenbilder gelingt, auf uns zuzugreifen und uns auch gegen unseren Willen unterbewußt zu manipulieren oder sogar zu prägen, so können auch wir in dem vielfältigen Fundus der kulturell tradierten Narrationen und Bilder aktiv nach identitätsstiftenden Rollenbildern suchen, die uns helfen, uns von repressiven Normen zu befreien, indem sie neue Normen propagieren, die zuvor unterdrückten Aspekten unseres Selbst zur Blüte verhelfen können. Tatsächlich können Normen und Rollenbilder also nicht nur zur Regulierung, sondern ebensogut zur Deregulierung beitragen.

So hilft der Blick in die Welt nicht nur zu erkennen, was uns geformt hat, sondern er hilft uns auch, in dem er uns Alternativen aufspüren läßt, mögliche Wunsch-Identitäten anzunehmen, mit denen wir überkommene, repressive Prägungen überschreiben können. Auf diesem Weg kann auch das fremde Gesicht zum Selbstportrait werden.

Dieses hier angedeutete Ringen des beobachtenden Selbst mit dem beobachteten Selbst, der Diskrepanz zwischen dem was wir sind, dem was wir von uns sehen können, dem was wir gerne wären und dem, was wir in den Augen anderer sein sollten, findet schließlich einen wunderbaren Ausdruck in einer Zeichnung, die von Caravaggios „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ inspiriert worden ist. Zwei in der Aufsicht dargestellte Figuren, offenbar beides Selbstportraits, befinden sich in einem Ringkampf und bilden dabei eine Form, die an ein noch nicht zur Geschlossenheit gelangtes Ying-und-Yang-Zeichen erinnert.

Gabriela Goronzy, "Lebendigkeit - 100 Zeichnungen", Ausstellungsansicht, 2019

Hier dient ein vorgefundenes und umgeformtes Bild, um zu verdeutlichen, wie wir versuchen in einer Welt aus vorgefundenen Normen und Strukturen eine authentische Repräsentation unserer Selbst zu finden, unseren Widerwillen, das gefundene oder mittels verschiedener Modelle konstruierte Spiegelbild anzunehmen, und vielleicht auch die Notwendigkeit schließlich mit der Zwienatur unseres Selbst, mit dem sich stets verändernden Zyklon aus externalisiertem Selbst und internalisierter Welt, mit der Identität im steten Transfer, Frieden zu machen.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, September 2019

Dienstag, 10. September 2019

Neue Veröffentlichung der ehemaligen Textprojekt-Teilnehmerin Ilka Volz

Die ehemalige Teilnehmerin der Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" Ilka Volz hat ihr erstes Kinderbuch veröffentlicht: Der kleine Dunkelfresser.

Die Vorlesegeschichte mit jeder Menge Hamburger Lokalkolorit handelt von der Angst vor der Dunkelheit, den Schwierigkeiten eines Umzugs und einem seltsamen, dunklen, flauschigen Wesen, das Leo und seine Mutter auf dem Dachboden von Opa Kurt finden.

Es wurde liebevoll und mit einem Blick fürs Detail illustriert von Julia Dürr.



ILKA VOLZ
Der kleine Dunkelfresser
 
80 Seiten Hardback
Magellan Verlag 
ISBN-10: 3734828392 
ISBN-13: 978-3734828393 
Empfohlenes Alter: 6 - 8 Jahre

Montag, 2. September 2019

15.9.2019 Matinee-Lesung mit Robert Brack und Thomas Piesbergen

Im Rahmen der diesjährigen "Kleinen Formate" ist der renommierte Krimi-Autor und Kriminalhistoriker Robert Brack zu Gast im Atelierhaus Breite Straße. Er wird aus seinem aktuellen Roman "Der Kommissar von St.Pauli" lesen, in dem er ein breites, akribisch recherchiertes Panorama der 20er Jahre in St.Pauli zeichnet.

Gastgeber Thomas Piesbergen, Leiter der Schreibwerkstatt "Das Textprojekt", gibt Einblicke in den dritten Band seines unveröffentlichten Alternative-Fantasy-Zyklus "Nacht über der Grünen Welt".





15. September 2019
Beginn 12:00

Atelierhaus Breite Straße 70
Hamburg Altona (oberhalb vom Fischmarkt)

Eintritt frei

Montag, 26. August 2019

Zwischen Innen- und Außenwelt - Einführungsrede zur Ausstellung „Was ich sehe, blickt mich an“ der Possehl-Kunstpreis-Trägerin Janine Gerber von Dr. Thomas Piesbergen


Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Wenn man sich heutzutage der abstrakten, nicht-malerischen Gegenwartskunst zuwendet, begegnet man fast immer einem überraschenden Umgang mit Material und Brüchen formaler Konventionen.
Meist ist das Experiment erster Handlungsimpuls: die Möglichkeiten des Materials und sein Potenzial jenseits seiner herkömmlichen Funktion werden ausgelotet. Dadurch wird eine Verschiebung hervorgerufen, eine Irritation unserer Wahrnehmungsroutinen. Die Prozesse, aus denen die jeweiligen Positionen hervorgehen, sind also meist formal, ihr Inhalt abstrakt.

Ich war entsprechend überrascht, als Janine Gerber in unserem vorbereitenden Gespräch darauf hinwies, daß alle ihre Arbeiten einen konkreten Anlaß haben, ein erinnertes Wahrnehmungsereignis, eine Narration des Körpers, und daß ihre wichtigsten Einflüsse nicht von Kollegen wie Richard Serra, Lucio Fontana oder Franz Erhard Walther, sondern von Robert Musil und vor allem Marcel Proust stammen.
Ich möchte mich also zunächst den zentralen Themen dieser beiden bedeutenden Schriftsteller zuwenden, bevor ich über die Arbeiten Janine Gerbers spreche.

In dem Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil hadert der Protagonist Ulrich unentwegt mit dem Problem, wie denn die Möglichkeiten innerer Vorstellung überführt werden können in ein faktisches und gegenwärtiges Handeln, wie das Denken zur Tat werden kann. Die kartesische Grenze zwischen Innen- und Außenwelt scheint ihm unüberwindlich und auf der Suche nach einer „taghellen Mystik“, die diese Dichotomie überwinden soll, scheitern  schließlich der Protagonist und sein Autor - der Roman bleibt ein Fragment.

Bei Marcel Proust hingegen steht im Zentrum seines Werks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Erinnerung, der Prozess des Erinnerns und die zwingend subjektive Konstruktion von Wirklichkeit auf Basis von Erinnerungen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen neurobiologischen Forschung kann man die Bildung von Erinnerungen wie folgt beschreiben: Sie entstehen, wenn unser Körper Reize aus der uns umgebenden, äußeren Welt aufnimmt, diese Empfindungen in gebündelte Reaktionen umsetzt, die gebündelten Reaktionen in Form von sog. Körperkartierungen im Gehirn abbildet und diese Kartierungen wiederum wahrnimmt.
Erst wenn diese Wahrnehmung von Körperkartierungen stattfindet, spricht die Neurobiologie von Gefühlen, die ihrerseits dazu dienen, Wahrnehmungsinhalte zusammenzufassen und zu vernetzen. Wenn diese vernetzten Inhalte von dem wahrnehmenden Bewußtsein zu einer narrativen Chronologie geordnet werden, ist eine Erinnerung entstanden.

Diese Darstellung macht die besondere Bedeutung der Gefühle für den Aufbau von Erinnerung deutlich, sowie ihre Abhängigkeit vom Körper. Ohne ihre Fähigkeit vielfältige Reize und Sachverhalte miteinander zu verknüpfen und zu bündeln, wäre ein Erinnern nicht möglich. Andererseits zeigt es sich, daß Wahrnehmen, Fühlen und Erinnern, drei Phänomene, die landläufig dem Geist zugeordnet wurden, nach dem derzeitigen Stand der Neurowissenschaften zu erheblichen Anteilen körperliche Phänomene sind.
Marcel Proust hat diese aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis mit dem paradigmatischen Biss in das süße Madeleine vorweggenommen, einem sinnlichen, rein körperlichen Ereignis des Sich-Einverleibens, dessen Sensation auf einen Schlag die gesamte Kindheit des Autors mit kaum vorstellbarer Intensität aus der Erinnerung auferstehen ließ.

Auch bei Robert Musil spielen die Gefühle, wenn auch nicht explizit genannt, eine große Rolle, wenn sein Protagonist Ulrich versucht zu ergründen, wie die unscharfen und vielgestaltigen Vorstellungen aus dem inneren Möglichkeitsraum in die akute Tat überführt werden können.

Musil und Ulrich beschreiten beide einen sinnlichen Weg. Sie versuchen, die Ambivalenzen, die verwirrend mitklingenden Gegentöne, die verborgenen Beziehungen eines Phänomens nicht durch kühle Analyse zu ergründen, sondern indem sie sie erfühlen und dadurch ihre divergenten Bestandteile vereinen: Musil in Form der intuitiv gefundenen Metapher, Ulrich in Form der angestrebten „taghellen Mystik“, die in die Tat führen soll.

Auch dieser gedankliche Ansatz wird gestützt durch die aktuellen Ergebnisse der Neurowissenschaften, nach denen jede Entscheidung, auch die rationalste, auf einem Fundament der Gefühle, also der Wahrnehmung unseres Körpers steht und ohne sie nicht möglich wäre.

Wir sehen in beiden Werkkomplexen sowie in dem Status Quo der Erforschung von Nervensystem und Bewußtsein also die Elemente einer impulsgebenden Außenwelt, einer Innenwelt, die sich vor allem in Form von Erinnerungen konstituiert und von körperabhängigen Gefühlen organisiert wird, und einer Übergangszone zwischen beiden Sphären, in der die Impulse der Außenwelt zu Inhalten der Innenwelt transformiert werden, und umgekehrt.
Und obwohl man den Schauplatz der Transformation von Äußerem zu Innerem benennen kann, nämlich unseren Körper mit seinen Sinnen, ist es doch kaum möglich eine scharfe Grenze zwischen beiden Sphären zu ziehen und Subjektives von Objektivem präzise zu trennen. Denn selbst wenn wir im Sinne Descartes unsere Innenwelt als getrennt von der Außenwelt erleben, so sind wir doch von dieser Außenwelt erfüllt und wären außerstande ohne sie auch nur die Idee oder die Empfindung einer Innenwelt zu entwickeln.

Genau diese unbestimmten Grenzen, die Ränder, Übergänge, ihre Schärfen und Unschärfen stellen das zentrale formale Element in allen Arbeiten Janine Gerbers dar.

Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Am unmittelbarsten zeigt sich das in den Malereien und Tuschzeichnungen. Den ersten Impuls zur Gestaltung bilden immer die bereits genannten Wahrnehmungsereignisse: assoziativ aufgeladene Lichtstimmungen, beobachtete Vorgänge, Bewegungen. Aufsteigend aus der Erinnerung manifestieren sie sich meist in grauen Zonen verschiedenster Schattierungen, die gegeneinander gesetzt werden.
Manchmal werden diese Flächen getrennt durch Auslassungen, in denen wie durch Risse oder Schnitte das Weiß des Malgrunds hervorleuchtet, doch können die so getrennten Flächen gleich daneben bereits wieder ineinander diffundieren und sich gegenseitig durchdringen.

So scheinen auch in diesen zunächst ruhig anmutenden Arbeiten stetige Kräfte zu wirken, abtastende Bewegungen zu herrschen, die durch vorsichtige Vorstöße in ihre Umwelt nach den eigenen Konturen suchen, die versuchen, ihre Form und ihren Innenraum zu definieren, in dem sie ihre Außengrenzen und damit die Außenwelt erforschen.

Janine Gerber, "Versuch ein Wort zu finden", Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Diese sich selbst definierende Rückbezüglichkeit von der auf die Außenwelt und die Grenzzonen gerichteten Bewegungen auf ihren Ausgangspunkt in der Innenwelt finden wir auch in manchen Titeln wie „Ein Teil sich findend“ oder auch in dem Titel der Ausstellung selbst „Was ich sehe blickt mich an“. In dieser Metapher wird die Außenwelt explizit zum Spiegel der Innenwelt und umgekehrt.

Einen großen Raum in Janine Gerbers Œuvre nehmen die Arbeiten mit weißen, eingeschnittenen Papierbahnen ein, mit denen sie den Bildraum in den realen Raum erweitert. Als Ausgangspunkt der Schnitte dienen ihr dabei an Menschen beobachtete Bewegungen und Körperkonturen, die sie zunächst in Skizzen festhält und später in einem konzentrierten Akt mit dem Messer in das im Raum installierte Papier überträgt. Dabei werden die konzipierten Linienführungen, also der narrative Nachvollzug von Körperzuständen, durch die unmittelbare Interaktion mit dem Material und den vorgefundenen Licht- und Raumverhältnissen modifiziert.

So wie das Subjekt die Außenwelt an seinen Rändern, Grenzen und Schnittstellen wahrnimmt und sich dadurch selbst konstituieren kann, so bewirken die durch ein Replay der Erinnerung hervorgerufenen Verletzungen der schieren Papierbahn einen Symmetriebruch und eine Individualisierung der vorher gesichts- und identitätslosen weißen Fläche, in dem sie Grenzen schaffen. Die Oberfläche wird in den Raum zum einem Körper gebogen, so wie schließlich der Körper in die Zeit gebogen wird, sich durch sie bewegt, handelt, entscheidet, und damit die Symmetrie der handlungslosen, identitätslosen All-Möglichkeit bricht und eine individualisierende Narration hervorbringt.
Die Bewegung des Körpers durch die Zeit, eingefangen in dem geschnittenen Papier, schafft also Identität.

Die so entstandenen Papierobjekte sind ihrerseits darauf ausgerichtet, das sich im Laufe des Tages wandelnde, ephemere Spiel von Licht und Schatten in der Innenwelt des Werks abzubilden. So wird das Medium, vormals als leeres, weißes Papier wahrgenommen, zum Bildträger für substanzlose, vergängliche Repräsentationen der Impulse aus der Außenwelt, die sich nicht nur durch die sich wandelnden Lichtsituationen verändern, sondern auch durch die Bewegung des Betrachters um das Objekt herum. Der Rezipient selbst bringt also durch die Bewegung seines Körpers erneut eine eigenständige, nur von ihm so erlebte Narration hervor.

Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Dieser Werkkomplex wird in der gegenwärtigen Ausstellung vertreten durch Serien von Fotografien der Arbeiten „Body Memories“ und „Falter der Stadt“. Mit den Setzungen, für die sich Janine Gerber durch die Wahl der Perspektive der jeweiligen Fotos entschieden hat, werden nur einige mögliche Narrationen aus einer unendlichen Vielzahl gewählt.
Der Rezipient, für den der fotografische Blick der Künstlerin stellvertretend steht, entscheidet sich, wie er sieht und was er sieht; er selbst zieht Grenzen zwischen dem von ihm gewählten und dem nicht in Betracht gezogenen, und das wiederum deutet notwendig auf ihn selbst zurück.
Sowie Janine Gerber durch grenzziehende Einschnitte Identität geschaffen hat, so erschaffen wir unsere Identität durch die Wahl unserer Perspektive, also durch die Ausgrenzung anderer Möglichkeiten wahrzunehmen und zu handeln. „Was ich sehe, blickt mich an.“ Dies wird uns mit den Fotoserien exemplarisch vor Augen geführt.

Die Frage nach Übergängen und Grenzen präsentiert sich in den mit Maschinenöl behandelten Arbeiten auf eine andere, subtile Art und Weise.

Zunächst begegnen uns mehrere starke Polaritäten. Einerseits haben wir das Ausgangsmaterial Holz, aus dem das Papier gewonnen ist: ein natürlicher, ausgesprochen langsam wachsender Rohstoff. Dem gegenübergestellt wird das Öl, das in einen industriellen Kontext gehört, in dem Effizienz und Geschwindigkeit von zentraler Bedeutung sind.
Das weiße Blatt Papier steht zudem sprichwörtlich für die Reinheit, das Ungeschehene, das Unschuldige; das schwarze, stinkende Öl hingegen steht für die maximale Kontamination, das lebensfeindliche, verseuchende Blut einer unmenschlichen, auf Profit ausgerichteten Industrie, deren zerstörerische Auswirkungen ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Ausmaß angenommen haben.
Diese unvereinbar erscheinenden Konnotationen der Materialien hat Janine Gerber in ihrer Installation untrennbar miteinander verschmolzen und dennoch versuchen wir in Gedanken diese Trennung wieder zu vollziehen, eine Grenze zwischen beiden zu denken.


Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Auch wenn ich Gefahr laufe, zu überinterpretieren, möchte ich einen Versuch wagen, die auf die anderen Arbeiten angewendeten Kategorien auch auf diese Arbeit zu übertragen, nämlich die Konzepte von Innen- und Außenwelt, und gerate dabei gleich auf das mit Umsicht zu betretende Feld der vergleichenden Religionswissenschaften. Denn wenn wir das weiße, unbefleckte und aufnahmebereite Papier als Innenwelt betrachten und das kontaminierende Öl als Impuls aus der Außenwelt, erhalten wir eine universelle Metapher von Welt und Seele, wie wir sie in nur geringfügig abweichenden Variationen bei den Christen, Katharern, Manichäern, Hinduisten, Buddhisten oder Jainas wiederfinden.

Alle genannten Religionen beschreiben die weltliche Identität des Menschen als einen Zustand der reinen Seele, die von irdischen Dingen, Begehrlichkeiten und Anhaftungen, dem „Erdenrest“ wie es Goethe im zweiten Teil des Faust nennt, kontaminiert worden ist. Und alle Religionen trachten danach, beides in einem transzendenten Prozess wieder voneinander zu scheiden.

Doch wie immer man auch zu diesen Glaubenskonzepten stehen mag, der Ist-Zustand unserer menschlichen Wirklichkeit bleibt der einer im Diesseits unabdingbaren, irreversiblen Durchdringung der Innenwelt mit ihren individuellen körperlichen Grenzen, Schnittstellen, Symmetriebrüchen, Entscheidungen und Verletzungen, und einer sie stetig umgebenden, durchflutenden und erfüllenden Außenwelt. Erst ihr Wechselspiel, ihre sich gegenseitig bedingende Beschaffenheit erzeugt Identität.

Entsprechend finden wir auch auf diesen dualistischen Entitäten, den vom Öl durchdrungenen Papierbahnen, die durch die Kontamination eine transluzide Qualität gewonnen haben, wiederum das flüchtige Spiel von Licht und Schatten, Zonen von tiefer Schwärze und verschiedenste Tönungen von Grau, hervorgebracht von dem eingefangenen Licht. Wir sehen die miteinander im Dialog stehenden Grenzen der einzelnen Papierkörper und die darüber und durch die Zeit wandernden, ephemeren Erscheinungen, die Schatten der Grenzen, die erst durch ihre und unsere Bewegung Narrationen hervorbringen.

Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Und so ist es Janine Gerber in den verschiedenen Werkkomplexen, die in der Ausstellung „Was ich sehe blickt mich an“  versammelt sind, nicht nur gelungen, eine markante, in sich geschlossene, formal-ästhetisch überzeugende Position zu entwickeln, sondern die formalen Aspekte in den Dienst einer hochdifferenzierten Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten der Conditio Humana zu stellen, die in allen Schritten des Werkprozesses zielführend wirksam war und schließlich in der ästhetischen Form ihren evidenten Ausdruck findet.

© Dr. phil.Thomas J. Piesbergen / VG Wort, August 2019

Donnerstag, 20. Juni 2019

Systemstörung im Raster - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Lara Vlaska Dahlmann - When We Will Know We Will Know" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "When We Will Know We Will Know" von Lara Vlaska Dahlmann ist ein Beitrag zum Jahresthema "Regeln regeln, Regeln regeln!" des Einstellungsraum e.V.s und findet statt im Rahmen des Hamburger Architektursommers. 

Lara Vlaska Dahlmann, (Titel), 2019

Folgt man dem aktuellen Stand der Neurobiologie, stellen sich die Vorgänge des Lebens vor allem als Steuerungs- und Regulierungsprozesse dar, in deren Zentrum der Begriff der Homöostase steht, also des Gleichgewichtszustands in einem offenen dynamischen System. Für die Neurobiologie ist dieses System der individuelle Körper und der Gleichgewichtszustand sein Wohlbefinden.

Auf der Ebene der Einzeller haben wir es zunächst nur mit rein reaktiven Vorgängen zu tun, die das körperliche Wohlbefinden der Individuen gewährleisten sollen. Im Laufe der Evolution treten bald die grundlegenden Emotionen wie Lust und Schmerz hinzu, die in sogenannten Körperkartierungen im Gehirn repräsentiert werden und ganze Reaktionsbündel auslösen. Spätestens auf der Stufe des Menschen werden die körperlichen Emotionen um die Gefühle erweitert, die eine bewußte Wahrnehmung, Vorstellung und überzeitliche Kontextualisierung dieser Körperkartierungen darstellen, und die zentrale Rolle bei Entscheidungsfindungen spielen.

Diese Regulierungsprozesse, die das individuelle körperliche Wohlbefinden zum Ziel haben, spielen sich aber nicht nur innerhalb der physischen Grenzen des Körpers ab. Nach den aktuellen Thesen der Neurowissenschaften sind über den Weg neuronaler Spiegelung auch alle Formen der Kooperation und der Kommunikation primär Werkzeuge dieser Regulierung. Im Fall der grundlegenden sozialen Bindungen an Familie und Artgenossen scheint dieser Zusammenhang offenbar. Je stärker und verlässlicher die Bindung des Individuums an die Gruppe, desto gesicherter ist sein Wohlergehen.

Verfolgt man nun die Evolution sozialer Systeme bis hin zu den vielschichtigen gesellschaftlichen Ordnungen und Beziehungen der Gegenwart, tritt zusehends das Paradigma der Komplexität in den Vordergrund. Das Gesamtsystem entwickelt eine Dynamik, die nicht mehr durch das Verhalten seiner Komponenten zu beschreiben ist. Es bringt emergente Strukturen und Steuerungsprozesse hervor, wie es auch in der Strukturationstheorie von Anthony Giddens beschrieben wird.

Die Konsequenzen der Summe der individuellen Handlungen verdichten sich zu übergeordneten Regelstrukturen, die allerdings mit den primären Handlungsabsichten und -gründen nichts mehr gemein haben müssen. Dennoch bleiben es natürlich die individuellen Bestrebungen der Menschen, die diese emergenten regulierenden Strukturen primär verursachen. Denn „gemäß der Theorie der Strukturation haben soziale Systeme keine Absichten, Zwecke oder Bedürfnisse welcher Art auch immer, nur Menschen haben diese.“

Um sich individuelle Wünsche zu erfüllen, versuchen z.B. die meisten Konsumenten beim Einkauf von Lebensmitteln Geld zu sparen. Das führt in Deutschland dazu, daß pro Jahr etwa 45 Mio. männliche Eintagsküken systematisch geschreddert werden. Eine Folge, die wahrscheinlich von kaum einem Konsumenten beabsichtigt ist, die aber emergent aus der Summe individueller Kaufentscheidungen hervorgeht und sich zu einem strukturellen Element der Agrarindustrie verdichtet hat.

Aus dem menschlichen Streben nach Homöostase gehen also zahllose regulierende Strukturen hervor, manche davon sind intendiert und spielen sich vor allem auf einer unmittelbaren menschlichen und zwischenmenschlichen Ebene ab, andere sind emergent und zeitigen Strukturen und Prozesse auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene, die sich nicht mit den Interessen des Individuums decken müssen.

Viele davon sind uns bewußt, doch Zahlreiche wirken auf der internalisierten Ebene des Habitus, also unseres Handlungsstils. Dieser Habitus, unsere gesellschaftlich geprägte Haltung, bildet unseren kulturellen blinden Fleck, von dem aus wir unsere Umwelt betrachten und beurteilen, der für uns aber unbeobachtbar und nur indirekt erfahrbar bleibt, der uns also steuert, ohne daß wir uns dessen bewußt sind. Pierre Bordieu, der diese Variante der Handlungstheorie maßgeblich formulierte, bezeichnete den Habitus auch als das unbewußte Wissen um unseren Ort in der Welt.

Damit hat er einen zentralen Aspekt kultureller Steuerungsprozesse ins Spiel gebracht, nämlich die Relevanz von Ort und Raum für unsere kulturelle Identität. Und natürlich gibt es auch auf dem Feld der räumlichen Ordnung sowohl intendierte Aspekte, als auch emergente, die unser Leben steuern, ohne daß wir dessen gewahr werden.

Die Geschichte des gebauten Raums beginnt mit dem Kreis, der um ein Zentrum gezogen wird. Dieses Zentrum, egal ob ein Feuer oder ein zentraler Pfosten, wird i.d.R. als Symbol der Weltachse, der Axis Mundi, verstanden und ist mit einer vertikalen Logik der kosmischen Ordnung assoziiert. Jedes Mitglied der Gemeinschaft hat gleichberechtigten Zugang zum Zentrum, entsprechend ist diese archaische Form der Raumorganisation mit Gesellschaften assoziiert, deren Hierarchien nur schwach ausgeprägt sind.

Mit der agrarischen Lebensweise im Neolithikum wurde die Bedeutung der jahreszeitlichen Abläufe immer essentieller und mit ihr folgerichtig die Beobachtung der Himmelskörper. Mit dem daraus hervorgegangenen Koordinatenkreuz trat die orthogonale Ordnung der Welt ihren Siegeszug an, und damit auch die horizontale Logik der Fläche.
Wo es vorher nur den allen zugänglichen spirituellen Mittelpunkt der Welt gegeben hatte, gab es nun die Möglichkeit, den Raum anhand der unterschiedlichen Bedeutung der Himmelsrichtungen zu hierarchisieren, und durch eine Vervielfältigung des einzelnen, aus dem Kreuz hervorgegangenen  Rechtecks zum Raster, den Mittelpunkt aus dem Zentrum des Hauses ins Zentrum einer Siedlung oder einer Region zu verlagern. Damit geht schließlich eine Abspaltung des sakralen Raums vom Wohnraum einher und damit die Möglichkeit, den Zugang zum Heiligen zu kontrollieren.

Wir können also aus kulturanthropologischer Sicht im Raster ein Symbol der Hierarchisierung und Regulierung per se sehen. Diese Sichtweise wird auch unterstützt durch das Phänomen der auf dem Raster aufbauenden Zentralperspektive im politischen Kontext: kein totalitäres System, das nicht die Zentralperspektive nutzt, um die eigene Kontroll- und Regulierungsmacht zu demonstrieren.
Das Raster und seine soziologischen, ökonomischen und politischen Konsequenzen sind fraglos emergente Strukturen, die das Fundament unserer kulturellen Umwelt stellen. Sie sind so omnipräsent, daß wir für ihre allgegenwärtige Wirkung meist blind geworden sind, ebenso wie wir blind geworden sind für die Art und Weise, wie die Räume, in denen wir uns bewegen, unser Leben regulieren und gesellschaftliche Normen transportieren.

Denn natürlich nimmt ein Mensch, der in einem hierarchisch geordneten Haus mit differenzierten privaten und halbprivaten Räumen lebt, sich und die Welt anders wahr, als ein Mensch, der in einem Dorf aus einräumigen Rundhütten lebt.
Das gesellschaftliche Leben in einer Siedlung mit aneinander grenzenden Vorgärten ist ein anderes, als das Leben in abgeschotteten Stadthäusern mit privaten Innenhöfen. Doch von den Bewohnern wird ihr Wohnumfeld und die entsprechende Lebensweise als die jeweils selbstverständliche Norm betrachtet.

Lara Vlaska Dahlmann, "When we will know we will know", Ausstellungsansicht, Einstellungsraum, 2019

Diese regulierende Wirkung des Raumes, die sich unserm Alltags-bewußtsein meist weitgehend entzieht, ist eines der zentralen Themen in der Arbeit von Lara Vlaska. Dabei geht es ihr aber nicht um eine spezifische Nutzung von Räumen in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext, sondern um das Phänomen an sich.

Durch den Schritt der Entfremdung mit Hilfe eines auf Boden und Wänden aufgebrachten Rasters, lenkt Lara Vlaska den Blick auf die bloße Räumlichkeit des Einstellungsraums und macht sie erfahrbar. Gleichzeitig verweist sie durch das Raster auf die Eigenschaft des Raumes als ein regulierendes Artefakt. Wir erleben den Raum im Sinne der Environmental Behaviour Studies als eine strukturierende Struktur, ein Element non-verbaler Kommunikation, hervorgebracht durch die emergenten Steuerungssysteme unserer Gesellschaft, die unser Verhalten unmittelbar aber unbeachtet reglementieren.

Doch bei dieser statischen Beobachtung belässt es Lara Vlaska nicht. Der Titel der Ausstellung heißt „When we will know we will know“ und spielt auf die Beobachtbarkeit und den Zeitpunkt der Erkenntnis an. Wenn wir etwas erkennen bedeutet das, entweder haben wir uns verändert und können deshalb etwas bisher Übersehenes registrieren, oder etwas in unserer Umwelt hat sich verändert.
In dem gegebenen Kontext der Ausstellung wirft der Titel eine der Grundfragen der Kulturwissenschaften auf. Wenn sich eine Gesellschaft verändert, wenn eine sich eigentlich stabil reproduzierende Struktur plötzlich einen Entwicklungsschritt macht, was löst diese Veränderung aus, und vor allem: wie wird sie gestaltet?

Hier bieten sich zunächst zwei geläufige Erklärungsmodelle an.

Das eine beschreibt die Geschichte als einen Bilderbogen individueller Handlungen, als eine Abfolge von politischen Führern und ihren großen, einsamen Entscheidungen, als das Wirken von hellsichtigen Pionieren, Entdeckern und Wissenschaftlern, deren Leben sich in einem glanzvollen oder finsteren Punkt verdichtet hat.

Das andere Erklärungsmodell wird für die Neuzeit vor allem von der Philosophie des Historischen Materialismus von Karl Marx repräsentiert, in der nicht Individuen, sondern ganze Klassen von Menschen als Protagonisten fungieren, die sich in ihrem Widerspiel auf das Erlösungs-Szenario des Weltkommunismus zubewegen.

Angesichts des ersten Models drängt sich die Frage auf, ob es wirklich Einzelleistungen sein können, die aus dem Nichts eine Entwicklung in die Wege leiten. Das zweite Model erleidet Schiffbruch an der weiter oben zitierten Feststellung Anthony Giddens´, soziale Systeme, also auch gesellschaftliche Klassen, hätten keine Absichten, Zwecke oder Bedürfnisse, nur individuelle Menschen hätten diese.

Wir befinden uns also wieder im Spannungsfeld zwischen Individuum und gesellschaftlichem System. Zwischen dem Körper und seinem Verlangen nach Homöostase auf der einen Seite und der emergenten, regulierenden Superstruktur auf der anderen.

Wie oben bereits ausgeführt können die emergenten Steuerungssysteme und regulierenden Strukturen eine Dynamik entwickeln, die nicht mehr der individuellen Homöostase dient, sondern ihr sogar zuwider läuft. An diesem Punkt betritt Freuds „Unbehagen in der Kultur“ erneut und in einem anderen, breiter gefächerten Licht die Bühne. Die sog. „Interessen“  der Gesellschaft und des Individuums widersprechen sich.

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio betrachtet die Emotion des Schmerzes und die darauf aufbauenden Gefühle des Erleidens und des Mitleidens als zentrale Motoren menschlichen Handelns und damit auch als zentrale Motoren der kulturellen Entwicklung. Der Austragungsort des Konflikts zwischen Individuum und regulierender Gesellschaft ist und kann nur der individuelle Körper sein, mit dem wir unsere Umwelt erfahren und erfühlen.

Nur er kann wiederum in seinem Bestreben nach Homöostase Widerstand gegen Regularien entwickeln, die sich seinem individuellen Wohlergehen entfremdet haben.
Der Körper ist der Ort, an dem sich die Systemstörung ereignet. Und nur die Systemstörung kann eine Veränderung des Systems hervorrufen, in dem sich das individuelle Unwohlsein vieler Einzelner in der Gesellschaft zu einer Strömungen verbindet. Doch die Systemstörung ereignet sich in jedem individuellen Körper. Und mit welcher daraus resultierenden Einzelhandlung schließlich der Tipping-Point erreicht wird und sich eine kritische Masse bildet, die eine gesamtgesellschaftliche Veränderung in Gang setzt, kann erst rückblickend entschieden werden.

Gesellschaftliche Veränderung wird also nicht durch die Interessen einer systemischen Masse bewirkt, genauso wenig wie durch individuelle, einzigartige Pioniertaten, sondern durch eine Vielzahl individueller, widerständiger Handlungen, von denen jede einzelne zunächst gleichwertig erscheint, bis eine Einzelhandlung schließlich rückblickend als historisch bedeutsamer Tipping-Point markiert wird.
Die Öffentlichkeit und Geschichtsschreibung, die beide markante Meme brauchen, konstruieren die herausragende Einzeltat erst im Nachhinein, wenn der Wandel zu einer größeren, beobachtbaren Form gefunden hat. Erst dann, so glauben wir, wissen wir, wie es gewesen ist. „When we will know, we will know.

Lara Vlaska Dahlmann, "When we will know we will know", Ausstellungsansicht, Einstellungsraum, 2019
Diese widerständige Körperlichkeit finden wir in Lara Vlaskas Katzen aus Papiermaché wieder, die den Einstellungsraum bevölkern. Kaum ein Geschöpf, dessen körperliche Geschmeidigkeit wir so bewundern, kaum ein Geschöpf, das eigensinniger und individueller ist, als die Katze, die sich nahezu jeder regulierenden Struktur unbelehrbar widersetzt.

Und dieser Verweis auf das Körperliche, dessen individuelle Bedürfnisse von keiner übergeordneten, emergenten Struktur aufgefangen und befriedigt werden können, der individuelle, körperliche, animalische Eigensinn, dessen innere Logik von keinem Raster gebrochen werden kann, findet wiederum im Raum selbst eine Entsprechung, in den tänzerisch geschwungenen Podesten des ehemaligen Blumenladens, die aus dem Raster ausscheren, es modifizieren und dem Ausstellungsraum, in einer Landschaft aus White Cubes, ein einmaliges, individuelles Gepräge geben, das Lara Vlaska explizit herausarbeitet - eine Systemstörung im Raster.

Lara Vlaska Dahlmann, "When we will know we will know", Ausstellungsansicht, Einstellungsraum, 2019
Auch auf ihren Zeichnungen, die im Keller des Einstellungsraums zu sehen sind, können wir das Spannungsfeld zwischen einer übergeordneten, emergenten Struktur und der individuellen Entität wieder erkennen. Zahllose einzelne und gleichberechtigte Zeichenereignisse verdichten sich, summieren sich, schlagen durch kleine Fluktuationen unvermittelt um in große emergente Bewegungen und Formen. Dabei sind die Übergänge so fließend, daß die Grenzen zwischen den untergeordneten Strängen und Bündeln und den zentralen großen Formen kaum zu bestimmen sind.

Der einzelne Strich folgt der großen Form ebenso, wie er sie durch eine individuelle Systemstörungen überhaupt erst hervorbringt und trägt.
Und so können wir aus dem Werkkomplex „When we will know we will know“ von Lara Vlaska auch herauslesen, daß sich die gesellschaftlich relevanten Auseinandersetzungen in jedem individuellen Körper ereignen, nicht nur in den Geistern weniger Auserwählter.

Denn auch symbolisch gewordene Figuren wie Greta Thunberg oder Rosa Parks sind keine übergroßen Pioniere und Auslöser von gesellschaftlichen Veränderungen, sondern ebenso bedeutsam wie jedes andere Individuum, das seine Homöstase durch bestimmte emergente Prozesse bedroht sieht und widerständig handelt.
Sie sind lediglich die Individuen am Tipping-Point gewesen, deren systemstörende Haltung von anderen Individuen der kritisch gewordenen Masse weitergetragen wird, und die bereit und imstande waren, die ihnen nachträglich zugewiesene Bedeutung als Symbolfiguren im Dienste einer gesellschaftsverändernden Bewegung anzunehmen, einer Bewegung, die in dem individuellen Empfinden und Fühlen Vieler ihren Ursprung hat.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Juni 2019


Lara Vlaska Dahlmann, "When we will know we will know", Ausstellungsansicht, Einstellungsraum, 2019

Dienstag, 14. Mai 2019

Neue Veröffentlichung: Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild

"Die Künstlerin Dorothea Fischer beschreitet in ihrem Umgang mit der Farbe einen vierten Weg. Sie begreift sie nicht als Vehikel eines individuellen Impulses, nicht als Medium einer wie auch immer gearteten Gestaltungsabsicht, in der Mimesis, Symbol oder Emotion die Richtung vorzeichnen. Für sie stellt eine Farbe zunächst nichts anderes dar als eine elektromagnetische Welle, der sie nachspürt, auf deren Frequenzen sie intuitiv reagiert und darauf ihre Arbeit aufbaut."

Der Katalog zeigt u.a. 17 Konstellationen, die sich aus der Arbeit mit 32 Farbtafeln ergeben.

Mit einem Text von Dr. Thomas Piesbergen 

Format 21 x 21 cm, 32 Seiten und 28 farbige Abbildungen.



Hyperzine-Verlag
ISBN 978-3-938218-98-3 
Ladenpreis 8,- €

Freitag, 10. Mai 2019

Die spielerische Zähmung des Monströsen: Dr. Thomas J. Piesbergen zur Ausstellung "Permanent Beta" von Renke Maspfuhl

Die Ausstellung Permanent Beta von Renke Maspfuhl ist ausgerichtet von der Arbeitsgruppe Kultur & Justiz des Hamburger Richtervereins und ist noch bis zum 28. 6. 2019 in der Grundbuchhalle des Ziviljustizgebäudes zu sehen (Sievekingplatz 1, 20355 Hamburg).

Renke Maspfuhl, O.T.

Robert Lois Stevenson, der Autor der Schatzinsel und des Seltsamen Falls von Dr. Jekyll und Mr. Hyde schrieb einmal „Das Leben ist monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant, ein Kunstwerk, verglichen damit, ist harmlos, begrenzt, beherrscht, vernünftig, fließend und gezähmt.“
Damit hat Stevenson, obwohl er nur einen formalen Mechanismus des belletristischen Schreibens illustrieren wollte, nämlich den der narrativen Reduktion, zugleich auf die zentrale Aufgabe aller Kunst verwiesen.

Diese Aufgabe, die die Kunst seit Anbeginn der menschlichen Kultur erfüllt, und die mit großer Wahrscheinlichkeit und nach dem heutigen Stand von Kultur- und Neurowissenschaften, den Ursprung menschlicher Kultur selbst darstellt, besteht darin, dem Menschen zu helfen, Lebenskrisen zu meistern, in dem sie das unlogische, sprunghafte und monströse Leben zähmt.
Die Kunst diente dazu, das Unbegrenzte und Lebensbedrohliche zu interpretieren, zu verdichten und in mythischen Narrationen zu bündeln, die dem Menschen die Welt begreiflich machen sollten und ihm Handlungsdirektiven gaben. Sie war also ein Mittel, um eine lokal gültige Wirklichkeit zu konstruieren, die dem Menschen Halt gab.


Renke Maspfuhl, O.T.

Über Jahrtausende geschah das mittels symbolischer Bildinhalte, die die mythische Ordnung der Welt repräsentierten, später durch den illustrativen Nachvollzug mythischer Abläufe. Seit der Renaissance emanzipierte sich die Kunst schließlich von dem religiösen Kontext und transportierte nun auch das profane, bürgerliche Wertesystem, das in unserem Kulturkreis zum Maßstab menschlichen Handelns avancierte.

Mit dem Zerfall der bürgerlichen Welt jedoch, dem Umsturz politischer Systeme, mit den großen Revolutionen der Psychologie und Physik zu Beginn des 20. Jhd., die die Vordergründigkeit aller Narrationen erkennen ließen, befreite sich mit der Moderne auch die Kunst von ihrer Aufgabe als rein illustrierender Repräsentant von Narrativen und Narrationen.

Renke Maspfuhl, O.T.

Zunächst emanzipierten sich mit dem Fauvismus die Farbe, dann mit dem Kubismus auch die Form. Durch die dadurch eingeleitete fortschreitende Abstraktion entledigte sich die moderne Kunst weitgehend aller narrativer Inhalte und Konventionen und wandte sich, wie auch die moderne Literatur eines James Joyce oder Marcel Proust, dem rein subjektiven Erleben zu, vor allem dem von unterbewußten Vorgängen und emotionalen Zuständen, wie exemplarisch im Dada, dem Surrealismus oder Neo-Expressionismus.

Doch weder die Kunstgeschichte noch die Entwicklung des kulturellen Bewußtseins haben bei der Freilegung der Emotionalität und des Unterbewußten Halt gemacht. Wir haben inzwischen die Meta-Ebenen des Strukturalismus, des Konstruktivismus, des Poststrukuralismus und der Postmoderne durchschritten und die theoretische Physik, die Neurowissenschaften sowie die interkulturellen Verwerfungen einer globalisierten Welt zerlegen und revidieren unser Weltbild nahezu ununterbrochen.


Renke Maspfuhl, O.T.


Die Wirklichkeit ist so monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant wie nie zuvor. Und die Parallelität alternativer Wirklichkeiten wird uns durch die zunehmende Bedeutung digitaler Welten auf drastische Art und Weise vor Augen geführt.

Auf welchem Weg kann also ein Künstler agieren, um der ursprünglichen Aufgabe der Kunst gerecht zu werden, nämlich auf Handlungsoptionen zu verweisen, die dem Menschen helfen, die stetig sich wandelnde Welt und darin sich selbst zu begreifen?
Da es keine belastbaren Narrationen mehr gibt, keine beständigen Strukturen, auf die man symbolisch verweisen könnte, bleibt nur der wirklichkeitsgenerierende Prozess selbst, auf den es zu verweisen gilt. 


Renke Maspfuhl, O.T.

Bereits der Titel der aktuellen Ausstellung von Renke Maspfuhls macht das deutlich: „Permanent Beta“. Als eine Betaversion bezeichnet man ein Programm, das bereits alle Elemente des späteren Produkts vereint, sich aber noch in einer Testphase befindet und durch Updates ununterbrochen verändert wird. So spielt sich also das künstlerische Momentum in einer stetig voranschreitenden Suche nach der Form ab, doch die erzielte Form selbst kann auch nur als Zwischenschritt in einem anhaltenden Prozess begriffen werden.

Wie sieht nun aber dieser Prozess der Bildfindung und -konstruktion bei Renke Maspfuhl aus?
Maspfuhl selbst zieht dazu gerne das Attribut „aleatorisch“ heran, also dem Zufall unterworfen. Wenn der Zufall im Spiel ist, ist man mit Begriffen wie Unordnung oder Chaos meist schnell bei der Hand. Doch so wenig unsere nicht-lineare Welt chaotisch ist, genauso wenig sind es die Arbeiten von Renke Maspfuhl.


Renke Maspfuhl, O.T.

Der Physiker Herman Haken beschäftigte sich mit eben dieser Frage, wie es möglich sei, daß es in einer Welt, die vom Zufall regiert werde und sich eigentlich in einem Zustand maximaler Entropie befinden müsse, es dennoch immer wiederkehrende, sich selbst hervorbringende Muster gäbe.  Während er maßgeblich an der Entwicklung des Lasers arbeitete, legte er, um sich diese Frage zu beantworten, den Grundstein der neuen Teilwissenschaft der Synergetik,  der Lehre vom Zusammenwirken.

Stark vereinfacht besagt die Synergetik, daß sich in ungeordneten Systemen über kurz oder lang energie-ökonomisch vorteilhafte Bewegungsmuster bilden, ausgehend von einem oder mehreren Elementen, deren Verhalten sich gegenüber den anderen durchsetzt und sich als sog. „Ordner“ etabliert, der die anderen Elemente „versklavt“.
Auf diesem Weg der Selbstorganisation entstehen aus der Unordnung temporär stabile Muster und Strukturen. Heutzutage ist dieses Prinzip  u.a. belegt bei der Bildung von Kristallen, der Bewegung von Wolken, in volkswirtschaftlichen Abläufen, ja sogar bei neuronalen Vorgängen. Die Synergetik beschreibt also einen grundlegenden Mechanismus des Zustandekommens der Strukturen und Bewegungen unserer Lebenswirklichkeit.


Renke Maspfuhl, O.T.

Und eben diesen Mechanismus können wir auch in der Arbeitsweise und den Bildern Renke Maspfuhls wieder entdecken.
Am Anfang steht immer das spontane Tun, oft der Umgang mit zufällig gefundenen Materialien oder den Resten von älteren Arbeiten aus dem eigenen Atelier. Der Künstler begegnet der Welt und entnimmt ihr Dinge, die sein unmittelbares Umfeld zur Verfügung stellt, wobei dieses Umfeld nicht nur als ein Gegenüber begriffen wird, sondern auch als etwas, das bereits durch unser eigenes Tun geprägt worden ist. Indem Maspfuhl eigene Arbeiten in seinen Bildern „recycled“, verweist er auf die Einbettung des Subjekts in seine Umgebung, auf die Geschichte des Subjekts, die Teil der objektiven Wirklichkeit geworden ist.

Diese subjektiven Elemente, die in Form der Collage auf das Papier oder die Leinwand gebracht werden, werden ergänzt durch Fundstücke, die mal als Stempel genutzt werden, mal als Schablonen, mal selbst der Arbeit zugefügt werden. Es folgen intuitive Übermalungen, mal flächig-malerisch, mal graphisch oder gestisch. Schicht legt sich auf Schicht, wobei die unteren Schichten immer wieder zutage treten können, in dem sie freigekratzt werden, durch lasierte Farbflächen hindurch scheinen oder als unterliegende Strukturen zu erahnen sind. Durch dieses Verfahren wird der Prozess mit seiner zeitlichen Dimension erfahrbar. Das Bild transportiert seine eigene Entstehungsgeschichte als Bildinhalt.


Renke Maspfuhl, O.T.

Die Haltung des Künstlers in diesem Prozess ist ergebnisoffen. Die Arbeiten werden begonnen ohne im Vorfeld formulierte Gestaltungsabsicht. In diesem Sinne wird der Schaffensprozess zu einem aleatorischen Spiel, in dem sich früher oder später eine synergetische Dynamik entwickelt. Einzelne Elemente werden zu den sog. Ordnern, bilden Gravitationszentren, die das Vorgefundene zueinander in Beziehung setzen und dem Folgenden eine Entwicklung vorzeichnen.

Der Künstler läßt sich einerseits durch die synergetische Dynamik der Elemente leiten, andererseits interveniert er mit gezielten Setzungen.
So können wir ohne vordergründige Bild-Symbolik und ohne illustrierte Narration dennoch ein Narrativ aus den Arbeiten heraus lesen, das sich in dem transparent gemachten Werkprozess zeigt: ein Narrativ, das eine dem Stand unserer Kultur angemessene Handlungsstrategie aufzeigt, ohne Berufung auf überkommene mythologische und religiöse Inhalte oder moralische Strukturen, nämlich dem monströsen, unlogischen, unbegrenzten, sprunghaften und penetranten Leben entgegenzutreten, in dem wir uns auf seine synergetische Dynamik einlassen und es in einem aleatorischen Spiel zu zähmen versuchen.


Renke Maspfuhl, O.T.

Und es gelingt Renke Maspfuhl diesen Prozess nicht nur stellvetretend zu veranschaulichen, sondern es gelingt ihm, uns in ihn einzubinden.
Zum einen arbeitet Maspfuhl in seinen jüngeren Arbeiten zunehmend mit Leerflächen in den verschiedensten Schattierungen von Weiß, die nicht nur den Blick in die durchschimmernde Historie der Bilder anregen, sondern den Betrachter auch herausfordern - analog der Begegnung mit dem sprichwörtlichen weißen Blatt Papier - die Bilder weiter zu denken.

Zum anderen verzichtet Maspfuhl ganz bewußt auf Werktitel und dadurch auf bevormundene Hinweise auf eine mögliche Interpretation. So setzt sich das Spiel, daß den Werkprozess gekennzeichnet hat, im Betrachter der Bilder fort. Wir sind es, die Bedeutung und Beziehung in die Bilder und ihre transparente Entstehungsgeschichte hineinlesen.

Schließlich leben wir in einer Welt, in der es so wichtig wie nie zuvor geworden ist, die individuelle Deutungshoheit zu behaupten und sich selbst, durch Teilhabe und freies, spielerisches Handeln, in die Lage zu versetzen, eigenständige und selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen, von denen wir wissen, das sie eine Setzung sein können im synergetischen Ganzen unserer Welt.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2019