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Montag, 19. August 2013

"Eine Schneise der Erinnerung" Einführungsrede zu Angela Breidbach Einstellungsraum Hamburg

Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen anläßlich der Ausstellung "Eine einzige Katastrophe" der Künstlerin Angela Breidbach im Einstellungsraum e.V. zum Jahresthema 2013 „Schneisen“


Beschäftig sich ein Künstler explizit mit dem Vergangenen, wie Angela Breidbach es in Ihrem Projekt „Eine einzige Katastrophe“ tut, erscheint es für das Verständnis Ihrer Position sinnvoll zu klären, was die „Vergangenheit“ eigentlich ist, was sie für uns bedeutet, wie wir damit umgehen.
Die Vergangenheit ist zunächst das Nicht-Mehr-Existente. Sie ist das, in dem wir den Ursprung unserer Gegenwart verorten; das, aus dem heraus wir versuchen, unsere Gegenwart und damit uns selbst zu begreifen.

Da der Mensch ein kollektives Wesen ist, hat er sich ein kollektives Werkzeug geschaffen, um sich dieser ungeheueren und unüberschaubaren Ursache zu bemächtigen, ein Werkzeug, mit dem er versucht, die Kenntnis dieser Ursache aus dem Flickenteppich der oft trügerischen Erinnerung in eine kollektive Objektivität zu überführen, in der Hoffnung, die Ursache so zu entschlüsseln und dadurch die Gegenwart besser meistern zu können. Dieses Werkzeug ist die Geschichtsschreibung.

Doch wie nähert sich die Geschichtsschreibung dem Vergangenen, dem Inexistenten, dem Unbeobachtbaren?
In ihren Quellen unterscheidet sie sich kaum von ihrer Schwesterdisziplin der Archäologie: Von der Warte des Status Quo richtet sie den Blick auf Artefakte und Befunde, die sie lesbar machen und in Beziehung zueinander setzen muß. Dabei bleibt sie auf das beschränkt, was die Zeit nicht hat spurlos auslöschen können.
In der IX These „Über den Begriff der Geschichte“ schreibt Walther Benjamin, inspiriert von einem kleinen Gedicht Gerhard Scholems und der Zeichnung „Angelus Novus“ von Paul Klee:

Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Gerade diesen Blick vermeidet aber die Geschichtsschreibung, denn sie ist darum bemüht, die von Benjamin genannte „Kette der Begebenheiten“ anhand der Trümmer zu rekonstruieren. In dieser heuristischen Bedingtheit, aus den Ruinen und Trümmern lesen zu müssen, ordnet und interpretiert sie Indizien und bildet Modelle von dem, was gewesen sein könnte, deren Anspruch auf Authentizität aber streng genommen immer nur anhand ihrer Wahrscheinlichkeit beurteilt werden kann.

Doch im Gegensatz zu der Archäologie und ihren Quellen, sind die Artefakte und Befunde, mit denen sich die Historiker auseinandersetzen, nicht nur materieller Natur. Die Artefakte sind vor allem ideeller, die Befunde sozio-politischer Natur. Denn die Wahrnehmung der in der Geschichte wurzelnden Gegenwart gebiert im Vollzug derselben ein stetes Kommentieren und Interpretieren gegenwärtiger Vorgänge und ihrer Hintergründe, ein Prozess, der schleichend in eine Geschichts-schreibung übergeht.

Der Blick zurück verliert sich zunächst in einem unergründlichen Dickicht von primären, sekundären und schließlich tertiären Quellen mit ihren verschiedensten Lesarten und Interpretationen, die immer wieder neue Verbindungen schaffen, Bewertungen vornehmen und Ursachenzuweisungen nahelegen.

Doch schließlich greifen die synergetischen Mechanismen der Selbstorganisation und formen zunächst die wissenschaftliche Lehrmeinung und im Anschluß eine journalistisch gefilterte und aufbereitete Version der Vergangenheit, die über die Massenmedien im öffentlichen Geschichtsbewußtsein verankert wird.

So legt sich Schicht um Schicht über die ursprünglichen Quellen und in jeder Schicht wird die Vergangenheit auf der Basis dessen transformiert, was von der unmittelbar darunter liegenden Schicht verstanden und für relevant erachtet worden ist. Die Rudimente, die sich schließlich in unserem Alltagsbewußtsein halten, sind stark vereinfachte Schemen, die in ihrer Funktion oft kaum von Mythologien zu unterscheiden sind.

Wenn ehemals das Sprichwort „Geschichte wird von den Siegern geschrieben“ in dem Sinne galt, daß eine Siegermacht den im Krieg Besiegten ihre historische Perspektive aufzwang und imstande war, sie an nachfolgende Generationen zu überliefern, sind es heute vor allem die Sieger im medialen Diskurs und die hinter ihnen stehenden Interessengruppen, die das öffentliche Geschichtsbewußtsein bestimmen.

Doch diese offizielle oder journalistisch geprägten Geschichtswahrnehmungen sind immer tendenziös. Ihr Anspruch auf Objektivität ist absurd, denn ihr Fundament ist und bleibt heuristischer Natur, ihre Datenbasis ist in ständiger Bewegung, weshalb sie immer hypothetisch sein muß!

Ein weiterer Trugschluß besteht darin zu glauben, diese Art der Geschichtsschreibung könne dazu dienen, die subjektive Gegenwart begreifen und meistern zu lernen. Dieser Ansatz ist von vorn herein zum Scheitern verurteilt, denn das Mysterienspiel der großen Namen, Daten und Ereignisse berührt die individuelle Geschichte fast immer nur am Rande und macht nicht begreifbar, wie und warum die Vergangenheit ihre Spuren unbestreitbar und unwiderruflich in das persönliche Realitätskontinuum eingeschrieben hat. Denn dieses individuelle Realitätkontinuum speist sich immer nur aus dem subjektiven Erlebnis und schreibt sich nur auf diese Weise im interpersonalen Rahmen fort.

Die gewaltigste Einschreibungen, die mit ihren Nachbeben bis in unsere Gegenwart wirksam sind, sind durch die Katastrophe des Nationalsozialismus, des Holocausts, des 2. Weltkriegs entstanden. Doch für die nach dem Krieg Geborenen ist diese Katastrophe zunächst nur etwas Schwarz-Weißes, etwas, über das Guido Knopp im Fernsehen doziert, etwas, mit dem man in der Schule ausführlich malträtiert worden ist, und vor allem etwas, über das die Eltern und Großeltern meist hartnäckig schweigen, das sie verdrängen und kleinreden.

So ist diese Traumatisierung zwar Teil des öffentlichen, aber nur selten Teil des persönlichen Geschichtsbewußtseins, da sie immer nur öffentlich und vermeintlich objektiv, fast nie aber subjektiv thematisiert und aufgearbeitet worden ist. Die Schutzmechanismen, die durch das Trauma hervorgerufen wurden, sind entsprechend unbewußt von Generation zu Generation weitergegeben worden. So leiden die Spätgeborenen unter den ererbten neurotischen Verhaltensmustern, ohne sie mit dem Trauma ihrer Eltern oder Großeltern in Verbindung zu bringen. Ihr Ursprung bleibt also fast immer im Verborgenen. Für die Generation der „Kriegsenkel“ sind diese Verhaltensmuster Normalität, denn sie wurden ihnen als „normal“ vermittelt, nicht als krankhaftes Symptom!

Diese Diskrepanz schafft die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Angela Breidbach künstlerisch agiert. Mit den Arbeiten unter dem Ausstellungstitel „Eine einzige Katastrophe“ versucht sie, eine subjektive Schneise durch das vielschichtige, vermeintlich objektive Dickicht der öffentlichen Bilder und Interpretationen zu schlagen, um sich den Ursprüngen der Erschütterung und der Traumatisierung zu nähern, die sich in ihr subjektives Realitätskontinuum eingeschrieben haben.

Eine wichtige Prämisse ist dabei die Transzendierung der Täter/Opferdebatte, die sich bereits in dem Ausstellungstitel zeigt. Es geht nicht um die Katastrophe von Coventry, die Operation Gomorrha oder den Feuersturm von Dresden. Das Thema ist vor allem die Verwüstung des Menschen durch den Dialog der Grausamkeiten.
Angela Breidbach nimmt den Blickwinkel von Benjamins Engel der Geschichte ein, der in allem nur eine „einzige“ Katastrophe sieht, die er heilen möchte.

Ausgangspunkt und Zielort dieses Versuchs sind Fotografien, die Breidbachs Vater, der als Kindersoldat zum Flak-Dienst eingezogen wurde, im Schützengraben während der Bombardierung Aachens aufgenommen hat. Nach Angela Breidbachs Umzug von Aachen nach Hamburg kamen als eine zweite wichtige Quelle Fotografien hinzu, die Hamburger Feuerwehrleute von der ausgebrannten Stadt nach dem Feuersturm aufgenommen haben.

Diese und andere Bilder hat sich Angela Breidbach durch den subjektiven Akt des Zeichnens angeeignet, die privaten und öffentlichen Fotos durch die Transformation des Zeichnens zu eigenen inneren Bildern gemacht. Als Zeichenmaterial wählte sie dazu intuitiv die Kohle. Kein anderes Zeichenmedium könnte den verkohlten Ruinen und den durch das Feuer in all seinen Erscheinungsformen vernichteten Lebenswelten gerechter werden.
Die Bilder wiederum sind mit fremden und eigenen Kommentaren überlagert; ein Hinweis auf die Schichten versuchter Deutung, die sich bereits über das Vergangene gelegt haben.

Das Ergebnis ist eine als Folge lesbare zeichnerische Aneignung in 43 Bildern. An ihrem Anfang stehen die Zerstörungen von Coventry und London, kommentiert von Hitlers größenwahnsinnigen Racheandrohungen. Doch schon bald stoßen wir erstmals auf das Gesicht des Traumas: das Portrait eines englischen Jungens vor der verkohlten Ruine seines Elternhauses.
Die weitere Folge der Bilder führt durch die Ruinen zerstörter Städte und Faksimiles von Abschussprotokollen aus dem Besitz des Vaters der Künstlerin. Wir sehen den „Arbeitsplatz“ des Vaters, der als Richtschütze die feindlichen Flugzeuge anvisierte und das Feuer frei gab. Und schließlich stehen wir vor dem zweifachen Portrait des Vaters an der Flak, das wie eine Spiegelung des Jungens aus London wirkt. Das Trauma des Opfers und das Trauma des Täters verschmelzen zu einer Wunde. Daneben wird ein Brief der Schwester des minderjährigen Flak-Helfers gezeigt, der die komplexe Eingebundenheit des Jugendlichen in die Strukturen des Krieges veranschaulicht. Zwar wird er von seiner Schwester als „Lieber Spatz“ angeschrieben und dadurch als Kind gekennzeichnet, doch gleichzeitig wird er gefragt, ob ihm denn auch die Ehre teil würde, wie ein echter Soldat gegrüßt zu werden, denn er hätte doch genauso Teil an den „Erfolgen“ der Wehrmacht, wie „richtige“ Soldaten. Die Früchte dieser angeblichen Erfolge werden auf den Zeichnungen überdeutlich.
Schließlich sehen wir die zweifach phallische Erscheinung eines SS-Mannes, umschwärmt von jungen Frauen, wie das Licht von den Motten. Eine von ihnen könnte die Schwester des jungen Flak-Helfers sein.



Ein Mittel auf das wir in der Bilderserie mehrfach stoßen ist die Spiegelung und der Versuch, die unsichtbare Grenze dieses Spiegels, dieser Polarität sowohl der Kriegsdialektik, als auch der künstlerischen Perspektive zu überschreiten.

Neben der offensichtlichen Spiegelung von traumatisiertem Opfer und traumatisiertem Täter finden wir auf den Blättern immer wieder Textpassagen, die in Spiegelschrift geschrieben sind. Sie sind Spuren des Versuchs, in die innere Wirklichkeit des Gezeigten einzudringen, so als betrachte man das Dargestellte nicht von außen, sondern als blicke man aus dem Dargestellte heraus und sei Teil des subjektiven Erlebnisses, das dem Betrachter aus den Bildern entgegentritt.

Andere kommentierende Textpassagen sind in gewöhnlicher Schrift gehalten und stammen aus Büchern von Jonathan Safran Foer und W.G. Sebald. Der Amerikaner Foer ist Enkel eines Holocaustüberlebenden. Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W.G. Sebald hingegen ist ein Deutscher, Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, der Deutschland verließ, sobald es möglich war, in der Schweiz studierte und anschließend nach England, das Land des ehemaligen Kriegsgegners, zog, wo er bis zu seinem Tod lehrte und schrieb.
In beiden Fällen wird die Seite gewechselt, der Spiegel durchschritten. Indem die Sprache des ehemaligen Kriegsgegners gewählt wurde, um die Bilder zu kommentieren, wird sein Blickwinkel auf das Geschehen eingenommen. Und in beiden Fällen sind es indirekt Traumatisierte, die, wie die Künstlerin selbst, versuchen, sich der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs auf subjektivem Weg zu nähern - Sebald in der zweiten, Foer in der dritten Generation.

Diesen Wechsel in die Sprache des ehemaligen Gegners vollzieht auch die Künstlerin selbst, wenn sie auf die Kirche ihrer Kindheit hinweist, deren Umriss auf einem der Bilder zu erahnen ist. Bei dem Versuch, die traumatische Welt des Krieges und die behütete Welt ihrer Kindheit, die so erschreckend nah beieinander liegen, auch weiterhin, wie in der Kindheit erlebt, voneinander geschieden zu wissen, floh sie aus dem Deutschen in die Sprache des Gegners und späteren Befreiers. Denn sich in dem Zeit- und Bildkontext des Nationalsozialismus der Sprache des Kriegstreibers zu bedienen, um auf die eigenen Wurzeln hinzuweisen, wäre für sie gleichbedeutend gewesen, sich mit den Deutschen von damals gemein zu machen und auf ihrer Seite der Grenze zu verharren, sich und die eigene Vergangenheit vereinnahmen zu lassen.

So folgen wir der Künstlerin in einem steten Grenzgang zwischen dem Innen und Außen, zwischen Aneignung und Abgrenzung und können daran die Spur ablesen, die sich in einem subjektiven Realitätskontinuum eingeschrieben und so die Wirkmächtigkeit des Traumas erkennen, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat.
Wir können durch eine subjektive Schneise, die die Künstlerin durch das Dickicht öffentlicher Geschichtswahrnehmung geschlagen hat, einen erschreckend unmittelbaren Blick auf die große, schwärende Wunde werfen, an der unsere Gegenwart noch immer leidet.

Montag, 5. August 2013

"Eine Einzige Katastrophe..." Ausstellung von Angela Breidbach mit einer Eröffnungsrede von Dr. Thomas Piesbergen


In ihrer Ausstellung "Eine einzige Katastrophe" zeigt Angela Breidbach im Einstellungsraum zum Jahresthema "Schneisen" eine Folge von 43 Kohlezeichnungen, in denen sie sich mit dem Trauma des Luftkriegs auseinandersetzt. Ein zentrales Anliegen dabei ist die Überwindung der Täter/Opfer-Debatte zugunsten einer Subjektivierung, die die unzureichenden Schemen journalistischer Geschichtskonstruktionen durchbricht.
Dabei greift sie auf historische Dokumente und Aufnahmen zurück sowie auf Fotografien ihres Vater als Flakhelfer im Schützengraben, die sie sich durch den zeichnerischen Akt und vielschichtige Kommentierung aneignet.

Die Einführungsrede hält Dr. phil. Thomas Piesbergen

Vernissage
8. August 2013
19:00

Einstellungsraum
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg