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Donnerstag, 10. Dezember 2020

Diesseits und Jenseits der Grenzen - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Gehäuse" von Jeannette Fabis


Die Ausstellung „Gehäuse“ von Jeanette Fabis  im Rahmen des Jahresthemas "Sprit und Spirit" ist noch bis zum 18.12. 2020 in der Galerie des Einstellungsraum e.V. zu sehen.

Jeannette Fabis, ohne Titel, aus einer fortlaufenden Serie von Modellen (seit 2013),
Pappe und Papier, Maße ca. 11,3 x 17,9 x 2 cm  (Detailaufnahme J. Fabis)
  


Die Kategorien des „Innen“ und „Außen“ und ihr essentieller Zusammenhang mit der kulturellen Identität des Menschen sind wahrscheinlich so alt wie die menschliche Kultur selbst.

Noch in den heute beobachtbaren archaischen Kulturen, in denen Mensch und umgebende Natur als in einem kontinuierlichen Kreislauf befindlich gedacht werden, wie z.B. bei den Buschmännern, gibt es trotz der Vorstellung einer kosmischen Einheit eine räumliche Ordnung, die das Innen vom Außen, wenigstens als vorübergehende Erscheinungen, unterscheidet.
Der innere, von Hütten umgebene Kreis der Buschmann-Siedlungen ist dem Feuer und der sozialen Interaktion vorbehalten. Er wird umgeben von einem Ring, in dem gröbere Arbeiten verrichtet werden und Aktivitäten stattfinden, die nicht die ganze Gruppe einbeziehen. Jenseits dieses Rings, außerhalb der Siedlung, erstreckt sich die Welt der „anderen“ Buschmänner, die keinen menschlichen Körper haben, wie z.B. Bäume, Tiere und diverse Naturerscheinungen. Das „Innen“ ist die Welt des Menschen, das „Außen“ die nichtmenschliche Sphäre. Der Bereich dazwischen ist eine Übergangszone.

Kennzeichnend für das Innere ist einerseits das Feuer, eine ursprünglich besonders bedrohliche Erscheinung, die in ihrer gezähmten Form das mächtigste Werkzeug des Menschen darstellt. Entsprechend wird, nach Claude Levi-Strauss, die innere Sphäre des Menschen auch mit dem „Gekochten“ assoziiert, während die äußere, wilde Sphäre mit dem „Rohen“ verbunden wird.
Andererseits ist die innere Sphäre gekennzeichnet durch die Kommunikation, mittels der die Gruppenidentität gestiftet wird. Wer an dieser Kommunikation Teil hat, ist Mensch. So bedeutet auch häufig die Eigenbezeichnung vieler Ethnien schlicht und ergreifend „Mensch“, ein Status, der Zugehörigen anderer Ethnien abgesprochen werden kann.  

Da trotz der Trennung in Innen und Außen die Welt als Einheit verstanden wird, gibt es in archaischen Gesellschaften auch immer eine Methode, um die beiden Sphären zusammenzuführen, und zwar durch eine Passage durch das Zentrum des Inneren, den „Nabel der Welt“. In der Regel sind es Schamanen, die sich in ihr eigenes Inneres versenken, in Trance geraten und so Zugang zu den unsichtbaren Kräften haben, die sich in der äußeren Welt verbergen. Diese Transitionen finden an einem symbolischen Mittelpunkt entweder im Zentrum der Siedlung oder des Hauses statt, seltener in der Wildnis, niemals aber in der Übergangszone.
Die Sphäre des Menschen wird also durch zwei Grenzen eingefasst, eine äußere und eine innere, doch im Zentrum des Innenraums berühren sich Innen- und Außenraum und erweisen sich schließlich als identisch.

Mit dem Beginn dessen, was wir Zivilisation nennen, also mit dem Neolithikum, ist die Bedeutung der inneren, ideellen Grenze zum „Unsichtbaren“ zusehends geringer geworden, zugunsten einer zunehmend essentiellen räumlichen Abgrenzung vom Außen. Sie spiegelt sich einerseits in der Wirtschaftsweise wider, mit der sich der Mensch begann, von der Natur zu emanzipieren, in dem er Pflanzen und Tiere domestizierte und sie damit aus der Sphäre der Wildnis in die des Menschen überführte. Andererseits spiegelt sich diese Trennung von „gezähmt“ und „wild“, die gleichbedeutend mit „Innen“ und „Außen“ ist, in den religiösen Vorstellungen wider, wie sie z.B. auf den Wandmalereien von Catal Hüyük repräsentiert sind. Die noch kleine Welt des Menschen mußte gegen das Wilde, Ungezähmte und Todbringende um ihn herum geschützt werden, ebenso wie die domestizierten Tiere und Pflanzen, in die sich keine Wildformen einkreuzen durften. Gleichzeitig definierte sich die menschliche Sphäre durch eben diese Abgrenzung.
In diese Zeit datieren auch die ersten belegten kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschheit, bei denen sich offenbar die wenigen wehrhaften Großsiedlungen und nomadisierende Gruppen gegenüberstanden: die zivilisierten „Menschen“ und die „Wilden“.
In den frühen Hochkulturen schließlich waren die Mauern der Stadt die Grenze zwischen der Welt des Menschen und der fremden Wildnis, wie im über 4000 Jahre alten Gilgamesch-Epos eindrucksvoll dargestellt. Alles, was innerhalb der Mauern stattfand, war zivilisiert und menschlich, alles, was außerhalb der Mauern stattfand, war wild und konnte abqualifiziert werden.
Diese Haltung hat sich fortgesetzt bis in die Neuzeit und ist noch bei großen Denkern wie Montesquieu oder Hegel zu finden, die beide davon überzeugt waren, Afrikaner hätten keine Seele.

In der westlichen Welt kehrte die Inversion des Blickes, also die Besinnung auf die Grenze in uns selbst sowie eine Einheit von Innen und Außen zwischenzeitlich mit den griechischen Mysterien zurück, am bekanntesten in der Aufforderung „Erkenne dich selbst!“, die im Giebel des delphischen Orakeltempels eingemeißelt war. Das Unsichtbare und Unerkannte, das Numinose wurde als etwas gedacht, das allem innewohnt, nicht als etwas ausschließlich Jenseitiges.
Christentum, Judentum und Islam wiesen diese Vorstellung und den damit verbundenen Erkenntnisweg jedoch wieder weit von sich, da er einer pantheistischen und deshalb heidnischen Haltung entsprang. Für die drei großen Buchreligionen gilt Gott als etwas unbedingt Jenseitiges, das nicht der Welt innewohnt. Eine Offenbarung des Göttlichen wurde nur den Propheten zugebilligt, und in seltenen Fällen einzelnen privilegierten Würdenträgern, denen jedoch immer drohte, der Ketzerei bezichtigt zu werden, wie es z.B. Meister Eckhart widerfuhr.

Erst im Laufe des 19. Jhd., während die Wildnis und das Unbekannte der Welt unwiderruflich verschwanden, kehrte das Bewußtsein für die innere Grenze, das Unbekannte in uns wieder. Zunächst war es kaum mehr als eine Ahnung, ein poetischer Entwurf, eine Sehnsucht nach dem Verhüllten und Geheimnisvollen, die vor allem von den Romantikern kultiviert wurde, schließlich nahm das Konzept in den Schauergeschichten von R.L. Stevenson und E.A. Poe in Form von Doppelgängern und gespaltenen Persönlichkeiten immer konkretere Formen an, bis schließlich Sigmund Freud zur Jahrhundertwende seine Theorie vom Unterbewußten formulierte.

Heute ist in der aufgeklärten Welt allgemein anerkannt, daß die Angst vor dem Fremden lediglich eine Projektion ist, mit der wir die Angst vor unseren eigenen, verdrängten Trieben auslagern. Gleichzeitig ist die bedrohliche Wildnis verschwunden. Fast alle essentiellen Bedrohungen stammen aus der menschlichen Sphäre, und die Wendung homo homini lupus trifft mehr denn je zu. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, denn Wölfe jenseits einer äußeren Grenze gibt es nicht mehr.
Im Originalzitat des römischen Dichters Maccius Plautus wird die Aussage ergänzt durch den Zusatz „solange er nicht weiß, von welcher Art der andere ist.“  Diese Haltung greift Sartre in Geschlossene Gesellschaft auf, wenn er Garcin sagen läßt: „Die Hölle, das sind die anderen.“ , denn im Gegensatz zu Plautus lebt Sartre in einer Welt, die von dem verborgenen Unterbewußten weiß.  Und wie sollte man die anderen kennen, wenn man sich nicht einmal selbst kennen kann, da der Mensch oft gegen seinen Willen von den dunklen Trieben seiner eigenen inneren Wildnis gesteuert wird? So muß, nach Sartre, der Mensch dem Menschen ein Wolf bleiben.
Nach Georg Simmel, Walther Benjamin und Byun Chul Han ist aber gerade dieses Nicht-Erkennbare, Dunkle auch essentiell für die sinnhafte Erfahrung der Lebendigkeit. Han schreibt dazu: „Das ´Es` bleibt dem Ich weitgehend verborgen. Durch die menschliche Psyche geht also ein Riss, der das Ich nicht mit sich selbst übereinstimmen läßt. Dieser fundamentale Riss macht die Selbsttransparenz unmöglich. Auch zwischen Personen klafft ein Riss. So läßt sich unmöglich eine interpersonale Transparenz herstellen. Sie ist auch nicht erstrebenswert. Gerade die fehlende Transparenz des anderen erhält die Beziehung lebendig.“ (Byun Chul Han, Transparenzgesellschaft, 2013)

In der Philosophiegeschichte wiederum hat Descartes im frühen 17. Jhd. die Grenze zur Außenwelt um das wahrnehmende Subjekt gezogen. Das Innen sind die res cogitans, die Dinge des Denkens, das Außen die res extensa, das Darüber-Hinausgehende. Er betonte: „Die Außenwelt könnte ein bloßer Traum sein.“
Diese Auffassung, die seit dem immer wieder als metaphysischer Solipsismus aufgetaucht ist, hat im Kontext der neurologischen und erkenntnistheoretischen Forschung des 20. Jhds. als radikaler Konstruktivismus neue Gestalt angenommen. Laut dieser Position konstruiert sich jedes Individuum aus einem eng begrenzten Ausschnitt äußerer Impulse ein inneres Bild der Welt, das niemals deckungsgleich sein kann mit den Bildern, die sich andere machen, geschweige denn, daß es die tatsächliche Wirklichkeit repräsentieren kann. Unser Bewußtsein entspräche nach dieser Auffassung auf Gedeih und Verderb der Höhle Platons, in der wir nur die Schatten einer Wirklichkeit betrachten können, die sich hinter uns abspielt, und wir diese Schatten mit der äußeren Wirklichkeit verwechseln.

Inzwischen haben die aktuellen Forschungen auf dem Gebiet der evolutionären Erkenntnistheorie und der Neurologie zwar überzeugende Modelle dafür geschaffen, auf welche Weise die Welt in unserem Inneren repräsentiert wird und sogar die Entstehung der Subjektivität und des Bewußtseins nachvollziehen können, doch bleiben es immer nur Beschreibungen der Prozesse, nicht der Inhalte und deren Qualität, die im Dunkel des subjektiven Empfindens verborgen bleiben.
Andererseits ist es gelungen, die sog. cartesianische Grenze, die zwischen Welt und Bewußtsein postuliert worden ist, die den Körper vom Geist trennen soll, als unzureichendes Modell zu erkennen. Vielmehr kann man von einem kontinuierlichen Übergang sprechen, einer Zone der Transformation von äußeren Dingen zur inneren Repräsentationen der Dinge, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Materie zum Geist, womit die Trennung überwunden und die Einheit von Bewußtsein und Welt, von Innen und Außen trotz ihrer Opposition wieder hergestellt wäre.
Das Innen definiert sich durch das Außen, das Außen durch das Innen, sie gehen ineinander über, wie die scheinbar einander gegenüber liegende Seiten eines Möbiusbandes oder wie die zwei Schlaufen des Unendlichkeitszeichens.

Nachdem sich Jeannette Fabis in ihrem bisherigen Werk intensiv mit den Schnittstellen von Innen- und Außenraum und deren Durchlässigkeit beschäftigt hat, vertieft sie dieses künstlerische Untersuchungsfeld in ihrer Installation „Gehäuse“ unter den Aspekten der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.

Jeannette Fabis, "Gehäuse", Ausstellungsansicht, 2020

Der Ort ist ein Schaufenster, das explizit dazu dient, etwas sichtbar zu machen. Gleichzeitig stellt das Glas eine Grenze dar, die vorläufige Eigentumsrechte markiert. Allerdings kann diese Grenze mit entsprechenden finanziellen Mitteln durchlässig gemacht werden. Das besondere an dieser Grenze ist jedoch, daß sie nicht zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten liegt, dem wir mittels unserer Vorstellung eine Gestalt verleihen, die unseren verborgenen Ängsten oder Sehnsüchten entspricht, und wir uns so wiederum durch das, was wir jenseits der Grenze wähnen, selbst definieren.
Im Gegenteil: Das bestmöglich Sichtbar-Gemachte widersetzt sich solch einer Aneignung, da es keine Leerstellen für unsere Projektionen läßt und nicht umformbar ist. Es verliert, so Byun Chul Han, seine hermeneutische Tiefenstruktur und errichtet eine „Tyrannei der Sichtbarkeit“. Es wirkt sogar umgekehrt auf unsere verborgenen Ängste und Sehnsüchte ein und formt sie so um, daß wir glauben, das so gestaltete Begehren entspräche unseren primären Sehnsüchten, und wir überzeugt sind, wir bräuchten das Gesehene, um unser Selbst zu definieren.

Durch die Reduktion auf Oberfläche und ihre Sichtbarkeit kann das, was jenseits der äußeren Grenze im grellen Licht liegt, nicht dem entsprechen, was im Dunkel jenseits der inneren Grenze liegt. Solange beides im Verborgenen bleibt und wir die Inhalte des dunklen Unterbewußtseins jenseits der inneren Grenze auf das Fremde, Ungestaltete jenseits der äußeren Grenze projizieren können, ist es möglich, die unsichtbaren Inhalte des Inneren und Äußeren in Deckung zu bringen. Zwingt die Sichtbarkeit jedoch zu einer Umkehr der Projektion, und erhebt das sich selbst Projizierende Anspruch auf totale Objektivität, kann es nur eine vermeintliche Übereinstimmung geben, da nicht wir es sind, die den nur erahnten res extenses eine Form geben, die uns entspricht, sondern es die grell ausgeleuchteten res extenses sind, die sich von außerhalb den res cogitans aufdrängen, sie an sich binden und vorübergehend eine Gestalt aufzwingen, die eine Übereinstimmung von Innen und Außen suggeriert. Diese kann jedoch nur solange erhalten bleiben, bis sie sich, durch faktische Aneignung und Überschreitung der Grenze, als Illusion erweist.

Jeannette Fabis, "Gehäuse", Ausstellungsansicht, 2020


Das, was Jeannette Fabis hingegen ausstellt, ist kein Objekt, kein Ding, das auf diesem Wege unser kurzfristiges Begehren wecken soll, wie es sonst Dinge in Schaufenster tun. Denn sie stellt jenseits der sichtbar machenden Grenze eine unsichtbar machende Grenze aus. Sie lenkt den Blick explizit auf eine Trennung zwischen unserem Raum und dem, der jenseits des Schaufensters verborgen bleibt. So wie das Schaufenster durchlässig ist, ist auch die ausgestellte und sichtbar gemachte Grenze durchlässig, doch ist ihre Durchlässigkeit subtil. Das einzige, was von der einen zur anderen Seite dringt, sind Lichtpunkte, die jeweils den Raum dahinter erahnen lassen, ihn aber nicht zeigen. Der Raum jenseits der Grenze ist wieder ein Raum des Ungestalteten, offen für unsere Projektionen, womit die Migration der Bilder, die sich sonst vor einem Schaufenster ereignet, in ihrer Richtung umgekehrt wird. Das aus dem Raum dringende Licht, das nichts über den Raum verrät, läßt eine Repräsentation des Raums in unserem Inneren entstehen, die vor allem dem entspricht, was sich jenseits der inneren Grenze, also in unserem Unterbewußtsein abspielt. Nur so ist es möglich, unser Inneres wieder in Übereinstimmung zu bringen mit dem, was uns umgibt, bzw.  daß wir uns über das, was wir nicht sind, was wir in unser Unterbewußtsein verdrängen und in die äußere Welt projizieren, definieren.
 

Jeannette Fabis, "Gehäuse", Ausstellungsansicht, 2020

Erst wenn dieser Austausch von Innerem und Äußerem, dieses Zusammenfallen von den dunklen Bereichen jenseits der inneren und der äußeren Grenze stattfindet, kann der Mensch seine Identität schließlich wieder an der Grenze vom Sichtbaren zum Unsichtbaren entlang modellieren und sich in der Welt beheimatet fühlen, dank des Unsichtbaren, Ungestalteten und Fremden, das uns erst ermöglicht, wirkliche Lebendigkeit zu erfahren.


© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Dezember 2020






Mittwoch, 2. Dezember 2020

Warnhinweis: "Die Psychologie des Geschichtenerzählens" von Tobias C. Breiner

Für meine Tätigkeit als Hochschuldozent für kreatives Schreiben bin ich immer auf der Suche nach neuem Input. So stieß ich in einer Bachelorarbeit auf die Publikation „Die Psychologie des Geschichtenerzählens“ (2019) von Tobias C. Breiner, einem mehrfach ausgezeichneten Professor für Computergraphik und Gamedesign. 

Aufgrund des Titels hatte ich berechtigte große Erwartungen, schließlich entpuppte sich das Buch aber als eine einzige große Entäuschung. Da diese Publikation - offenbar wegen Breiners Renomee - regelmäßig von Graphik- und Illustrationsdozenten empfohlen und von Studenten als Leitfaden aufgenommen wird, fühle ich mich bemüßigt, auf deren erhelbliche narratologische Mängel hinzuweisen. 

Ein sehr viel angemessenerer Titel wäre gewesen: „Die Heldenreise optimiert für Game-Design“, denn vom Denken in literarischen Kategorien ist Breiner soweit entfernt wie die Erde vom Mond.

Er identifiziert als Gerüst jeder Narration eine Kombination von Archetypen mit der Heldenreise, und da beide notgedrungen ihre Wurzeln in der menschlichen Psyche haben, reicht es Breiner offenbar aus, von der „Psychologie“ des Geschichtenerzählens zu schreiben.

Er beginnt mit der „Beschreibung“ der Hauptfiguren, die auf eine reichlich lange Checkliste hinausläuft, auf der unter anderem Dinge aufgelistet werden wie Wertpapierbesitz oder Blutgruppe. Der „innere Konflikt“, also das zentrale Momentum einer jeden literarischen Figur, ist lediglich als einer von gut 60 gleichwertigen Punkten aufgeführt und spielt auch im weiteren Verlauf keine Rolle!
Er empfiehlt zudem, jeder Geschichte eine kurze Beschreibung der wichtigsten Charaktere voran zu stellen, wie es z.B. bei Asterix und Obelix der Fall ist. Das geht vielleicht noch an für Kinderbuchreihen, aber in der Literatur?  Man stelle sich vor: „Lieber Leser, dieser Roman handelt von einem hübschen, verträumten Mädchen namens Emma, die behütet in einer Klosterschule aufgewachsen ist und glaubt, auf der Welt ginge es zu wie in den vielen Liebesromanen, die sie gelesen hat. Sie hat dunkle Locken und Blutgruppe A. Ihr späterer Mann, Charles Bovary, ist ein liebenswürdiger, aber sehr biederer Mann mit einem eher bescheidenen Portfolio an Wertpapieren und Schuhgröße 44…“ Um Gottes Willen!

Es folgt ein langes Kapitel über Archetypen, in dem Breiner sich zwar lang und breit darüber ausläßt, welche Haarfarbe sie haben, welche Waffen sie üblicherweise tragen, ob sie schmal oder muskulös gebaut sind und insbesondere, ob sie einen Bart tragen - aber er verliert kaum ein Wort darüber, welche dramaturgische Funktion sie haben!
Den Bärten der Helden und Mentoren widmet er besonders viel Aufmerksamkeit, dabei bringt er aber Fiktion und Realität mit einer erschreckenden Naivität durcheinander. Er stellt Gandalf, den Weihnachtsmann und Merlin neben Karl Marx, Darwin und Osama bin Laden ohne zu begreifen, daß die einen den Bart tragen, weil er ihnen wegen der damit verbundenen Aura von Alter und Weisheit angedichtet worden ist, die anderen hingegen, weil es lediglich eine zeit- oder kulturspezifische Konvention ist! So wie Breiner es darstellt, hätte aber z.B. Charles Darwin sich den Bart stehen lassen, um die Rolle des Mentoren besser zu verkörpern. Das ist schlicht und ergreifend Unsinn und wissenschaftlich betrachtet eine haarsträubender Zirkelschluss, der die mediale Überlieferung, die Charles Darwin schließlich stilisiert hat, vollkommen außer Acht läßt.

Dann geht Breiner mit beispielloser Hemdsärmeligkeit daran, die Herkunft der Archetypen zu erklären. Da stoßen wir auf groteske Verknüpfungen wie: Der Held wird assoziiert mit der Sonne, der Körper erzeugt im Sonnenlicht Vitamin D, Vitamin D läßt Haare stärker sprießen, deshalb haben Helden Bärte. Wo bleibt die Psychologie? Warum gibt es hier nicht den schlichten Hinweis auf den Bart als offensichtlichstes Kennzeichen der Maskulinität? Und warum sind Bärte überhaupt so wichtig für das Erzählen von Geschichten?
Ebenfalls wird klar, daß sich Breiner nur äußerst oberflächlich mit Campbells Werk auseinander gesetzt hat, in dem die weltweite Übereinstimmung mythischer Symbole sehr einleuchtend und ausführlich durch kulturelle Diffusion erklärt wird. Davon scheint Breiner noch nie gehört zu haben.

In seiner folgenden Klassifikation verwechselt er ohne mit der Wimper zu zucken Archetypen mit kulturspezifischen Stereotypen, die er dann "kulturelle" und "zivilisatorische Archetypen" nennt. Darunter sind solche sog. „Archetypen“ wie der „Gamer“ der „Nerd“ oder der „Nazi“. C.G. Jung würde sich im Grabe umdrehen.

Das anschließende Kapitel über Stereotypen ist hingegen interessant und erläutert einen  simplen Trick mittels dessen man die Algorithmen von Suchmaschinen benutzen kann, um statistisch untermauerte ländertypische Vorurteile zu ermitteln. Wie das hingegen beim Erzählen von Geschichten helfen soll, bleibt offen.

In einem Kapitel über Narratologie und Ludologie werden munter die Begriffe „narrativ“ und „narratologisch“ sowie „ludisch“ und „ludologisch“ durcheinandergewürfelt, obwohl das eine sich auf Geschichten oder Spiele an sich bezieht, das andere auf die Wissenschaft vom Geschichtenerzählen oder Spielen. Er schreibt u.a. von „ludologischen Spielen“, was genau genommen Spiele sein müßten, die einen selbstreflexiven wissenschaftlichen Inhalt hätten, während er aber eigentlich Spiele meint, die nur ludischen, also spielerischen, aber keinen narrativen Inhalt haben.

Schließlich kommt sein vermeintlich großer Wurf: Eine Überarbeitung der Campbell´schen Heldenreise. Hier zeigt sich endgültig, daß Breiner literarisch unbeleckt ist. Seine Beispiele scheinen oft fast mit Gewalt in sein zwölfteiliges Schema gepresst zu sein und die Transformation des Helden findet einfach nicht statt. Denn zentral für jede Geschichte ist und bleibt genau diese Transformation. Statt dessen bezieht er die Transformation auf das Umfeld des Helden bei seiner Rückkehr, was einfach nur Unsinn ist. Hier wird klar: Breiner begreift gerade das wichtigste psychologische Momentum des Geschichtenerzählens nicht!
Ebenfalls ein grober Schnitzer in diesem Abschnitt: Die fortlaufende Verwechslung von „Drama“ mit „Tragödie“.

Schließlich wird dem Ganzen die Krone aufgesetzt mit seinen abschließenden Argumenten, weshalb sein „dodekazyklischer“ Entwurf mehr Substanz habe, als das Modell von Campbell. Als Argumente führt er an, sein Modell könne als Kreis bzw. als Quadrat dargestellt werden und es enthalte zudem sechs und achteckige geometrische Ordnungen, die überdies einem von ihm selbst entwickelten Farbsystem entsprechen. Und das sollen literaturwissenschaftlich belastbare Argumente sein?

Auf diesem Weg ist es dem Informatiker Breiner vielleicht gelungen, sich auf der Basis der Heldenreise einen graphisch darstellbaren Algorithmus zusammen zu basteln, der in Computerspielen als narratives Gerüst nützlich sein mag, der Literatur hat er hingegen einen Bärendienst erwiesen.

Mittwoch, 4. November 2020

Die Rück-Verrätselung der Welt - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Übungsraum zur Verinnerlichung surrealistischer Annahmen“ von Thomas Rieck.

Die Ausstellung „Übungsraum zur Verinnerlichung surrealistischer Annahmen“ von Thomas Rieck findet vom 5. bis zum 27. November 2020 im Einstellungsraum e.V. statt.

Aufrgund der gegebenen Situation wurde sie auf eine Präsentation im Schaufenster des Galerieraums reduziert.

Thomas Rieck - Motiv der Einladungskarte zur Ausstellung


Am Anfang der menschlichen Kultur, am Anfang der Menschwerdung schlechthin steht, dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio zufolge, das Gefühl. Damasio beschreibt die Gefühle als die Wahrnehmungen körperlicher Steuerungsprozesse, die die Homöostase gewährleisten sollen. Die Homöostase wiederum ist das Grundprinzip der Selbstregulation proto-organischer und organischer Systemen und soll ihnen ein innerhalb bestimmter Grenzen gleichförmiges Fortbestehen sichern.

Voraussetzung für alle homöostatischen Prozesse ist die Fähigkeit eines Systems, auf das umgebende Milieu zu reagieren. Dabei spielen schon seit der Evolution der Bakterien zwei Prinzipien eine zentrale Rolle: Die Vermeidung von Schädigungen und Verletzungen und die Bevorzugung von Bedingungen, die ein bestmögliches Gedeihen des Organismus ermöglichen. In menschliche Begriffe gekleidet kennen wir diese beiden Komplexe als die Affekte Schmerz und Lust. Bereits auf der Ebene der Bakterien sind sie für flexible und hoch differenzierte Reaktionsmuster verantwortlich.

Im Laufe der Evolution entwickelte sich ein immer vielschichtigeres und stärker vernetztes Zusammenspiel von zunehmend spezialisierten Zellen, die nicht nur immer ausgereiftere Sinnesorgane an der Schnittstelle zur Außenwelt hervorbrachten, sondern auch immer feiner abgestimmt Möglichkeiten, die inneren, organischen Vorgänge wahrzunehmen und mit affektiv gebündelten Reaktionen darauf zu antworten. Ein tatsächliches Bewußtsein entstand aber erst in dem Moment, in dem unser Nervensystem die Fähigkeit entwickelte, die Vorgänge der körperlichen Regulierung durch Affekte auf einer Metaebene an sich selbst und schließlich auch an anderen wahrnehmen zu können.

Die bewußte Wahrnehmung dieser Zusammenhänge von äußeren Impulsen und körperlicher Reaktion bilden sich in unserem Geist als Gefühle ab. Die Ausbildung dieses Bewußtseins und der komplexeren Gefühle geht wiederum einher mit der Fähigkeit, Erinnerung zu bilden und sie mit den homöostatischen Zielen des Gedeihens und der Schmerzvermeidung in die Zukunft zu projizieren. Auf diesem Weg begreift das organische Bewußtsein erstmals sich selbst und auch Andere als Wesen, die in einem zeitlichen Vollzug befindlich sind.

An diesem Punkt ereignet sich nun etwas, das der Psychologe und Psychohistoriker Luigi de Marchi als den „Urschock“ bezeichnet: Die Erkenntnis der eigenen Zeitlichkeit, des eigenen Todes. Doch neben dieser entscheidenden Einsicht, die dem selbstregulierenden Komplex des Schmerzes angehört, entstand auch gleichzeitig die weitaus subtilere Erfahrung des Lebendigseins, die den homöostatischen Aspekt des Gedeihens repräsentiert, und die Heidegger die Erfahrung des „existentiellen Augenblicks“ nennt.

Diese beiden Erfahrungen - der Schock angesichts des individuellen Todes und das große Wunder des Seins - nötigen den Menschen dazu, sich eine Erklärung der Welt zu konstruieren. Ihr Zweck ist es einerseits, die Angst vor dem Tod abzuwehren, worin Luigi de Marchi den Ursprung aller Religion und Welterklärung sieht. Andererseits veranlassen uns die homöostatischen Prozesse, die mit dem Gedeihen befasst sind und unsere positive Neugier auf die Welt verursachen, das Wunder des Seins ergründen zu wollen, um durch tiefere Einsicht die bestmöglichen Bedingungen für unser zukünftiges organisches Gedeihen und das Fortbestehen der Spezies zu schaffen. In diesem Mechanismus sieht der Religionswissenschaftler Frederic Spiegelberg den Ursprung aller religiöser Systeme: „Zum Wunder des Seins erwecken, das ist das einzige, wahre Thema aller Religionen.“

Doch dieses Wunder des Seins, Heideggers „existentieller Augenblick“, ist, nach einem zen-buddhistischen Text, „zu deutlich, deshalb dauert es so lange, bis man es sieht.“
In Ansgar Gerstners Übersetzung des Dao Dejing heißt es im ersten Vers: „Ein Dao, von dem man reden kann, ist nicht ein beständiges Dao. Ein Name, den man nennen kann, ist nicht ein beständiger Name. Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde. Das Benannte ist die Mutter der "zehntausend Dinge".“
Bringt man diese beiden Aussagen in einen Kontext, offenbart sich allerdings das Dilemma aller Welterklärungen, zu denen wir uns getrieben fühlen. Der existentielle Augenblick, das Sein des Seienden, ist nicht benennbar, denn es ist das unteilbare Ganze. In dem Moment, in dem die Sprache ins Spiel kommt, wird die Symmetrie des All-Einen gebrochen, denn Sprache differenziert. Sie läßt die „zehntausend Dinge“ aus dem ungeteilten Sein hervorgehen. Jeder Versuch einer Versprachlichung geht also einher mit einer Entstellung der eigentlichen Erfahrung des Seins. So entwickelten sich zwangsläufig an verschiedenen Orten, obwohl von einer identischen Erfahrung und Problematik ausgehend, verschiedene Übersetzungen der initialen Erfahrung in Sprache.

Im Prozess ihrer Tradierung begannen diese Versprachlichungen eine, von ihrer jeweiligen Struktur abhängige, eigenständige Dynamik zu entwickeln, mit dem Ergebnis, daß schließlich verschiedenste religiöse Systeme einander unvereinbar gegenüberstehen, obwohl sie alle in der gleichen Grunderfahrung ihren Anfang genommen und sich mit dem gleichen Ziel entwickelt haben.
Der Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist Robert Anton Wilson vergleicht diesen Prozess der Abstraktion, den bereits Heidegger als die Wurzel des Übels der Religion und Metaphysik bezeichnete, mit dem Erstellen einer Landkarte und der anschließenden Verwechslung von Landkarte und Landschaft, von Modell und Wirklichkeit. So ist es zu erklären, daß verschiedenste religiöse Traditionen, denen allen die Vorstellung des Göttlichen, oder spezifischer sogar das Konzept eines einzigen Gottvaters zugrunde liegt, sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen. Denn sie halten ihre jeweiligen Welterklärungen nicht für einen spezifischen Versuch der Versprachlichung einer grundsätzlichen Erfahrung mit dem Numinosen, sondern für die höhere Wahrheit an sich. Sie haben die Landkarte mit der Landschaft verwechselt.
So verhindern also, um zu dem zen-buddhistischen Text zurück zu kehren, unsere Versuche, die Welt zu erklären, die tatsächliche und unverfälschte Erfahrung der Welt, zu der uns die Welterklärungen eigentlich führen sollen.

Ähnliches wiederholt sich in der Wissenschaft. Auch hier konkurrieren zahlreiche Theorien miteinander, werden immer wieder Modelle mit der Wirklichkeit verwechselt und als Wahrheiten mißverstanden, vor allem, sobald sie popularisiert werden. Davon sind auch nicht selten die Wissenschaftler selbst betroffen, wenn sie sich nicht von ihren persönlichen Eitelkeiten lösen können, wenn sie dem horror vacui erliegen, also der Angst sich eingestehen zu müssen, trotz ihrer Bemühungen mehr Fragen als Antworten aufgeworfen zu haben, oder wenn sie ihre Ideen in ideologisch gesteuerten Kontexten entwickeln und nicht begreifen, daß ihre Art, die Welt zu erklären, nur eine mögliche Interpretation der Erscheinungen darstellt.

Doch ist die Wissenschaft als übergeordnetes System davon kaum betroffen, da ihr Treibstoff der Zweifel an sich ist, das heuristische Prinzip, demzufolge alle Ergebnisse nur vorläufig sind. Und schließlich bringt sie auch immer wieder Perspektiven hervor, mit denen sie sich selbst hinterfragt, wie es die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik tut, die unter anderem zum Inhalt hat, daß die Physik weniger die Wirklichkeit beschreibt, sondern vielmehr unsere Mittel, mit denen wir versuchen, die Wirklichkeit zu beschreiben; eine Wirklichkeit, die sich auf der subatomaren Ebene allen logischen Kategorien unseres Denkens entzieht - genauso wie es vom Tao gesagt wird.

Dennoch bleibt unser Alltagsbewußtsein befangen in den Prozessen der Rekapitulation, der Suche nach Mustern, der Abstraktion, der Modellbildung, der Antizipation und der Formulierung von Welterklärungen, die uns doch nur den Blick auf die Welt, wie sie tatsächlich ist, versperren.
In einem Brief an Jehan Myoux von 1956 schrieb Marcel Duchamp: „All dieser Mumpitz, die Existenz Gottes, Atheismus, Determinismus, Befreiung, Gesellschaft, Tod etc., sind Teile eines Schachspiels namens Sprache, und sie sind nur dann amüsant, solange man nicht zwanghaft damit beschäftigt ist, dieses Schachspiel zu gewinnen oder zu verlieren.“ 

Thomas Rieck, Tannen zapfen, 2020


Diesem Zwang, die Welt zu erklären oder sie erklärt bekommen zu wollen, der Angst, dem Unerklärlichen gegenüber zu stehen und es durch verständliche, doch zugleich unangemessene Modelle zu ersetzen, tritt Thomas Rieck mit seiner Kunst entgegen. Und so vielfältig die Behauptungen über den tatsächlichen Zustand der Welt sind, so vielfältig sind seine Ansätze, unsere Alltagskonzepte der Wirklichkeit zu untergraben.

In den letzten Jahren wendet Rieck immer wieder die Strategie der Fotoübermalung an. Die scheinbar objektiven, dokumentarischen Darstellungen dienen jeweils nur als Impulse für sich frei daraus entwickelnde Formen, Entstellungen und Projektionen. Dabei kann ein Foto Ausgangspunkt für ganze Serien unterschiedlichster Bildwerdungen sein. Denn all das, was uns begegnet, ist immer Gegenstand unserer Interpretation. Und die möglichen Interpretationen unterscheiden sich nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch wir interpretieren die gleichen Impulse zu unterschiedlichen Zeitpunkten je nach Zusammenhang und unserer Verfassung auf völlig unterschiedliche Art und Weise.

Thomas Rieck, O.T., 2020

Prominent in diesem Werkkomplex sind vor allem Gesichter. Bereits in seinem Werk „Orator“ schreibt Marcus Tulius Cicero: „Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.“ - und auch wir gehen meist davon aus, in dem Gesicht eines anderen Menschen seinen Charakter, seine Gefühle, seine Motivationen ablesen zu können. Zwar sind wir dank der Spiegelneuronen gut ausgestattet, die physischen Vorgänge der Gesichtsmuskulatur nachzuvollziehen und aus ihrer Rückkoppelung mit unserem selbstbeobachtenden Geist auf innere Vorgänge zu schließen, doch bleiben diese empathischen Rückschlüsse trotzdem immer nur Konstruktionen. Entsprechend entziehen sich die Gesichter Thomas Riecks allen deutenden Zuweisungen; ihre Mimik ist rätselhaft, mehrdeutig und wirkt dadurch nicht selten verstörend. Unsere Vorstellung, aus dem Antlitz des Anderen etwas Konkretes über seine innere Wahrheit heraus lesen zu können, wird als vergeblicher Versuch entlarvt.

Ein anderes Verfahren Thomas Riecks ist das Zeichnen mit geschlossenen Augen. Der horror vacui, den wir mit Schmerzvermeidung oder Sinnkonstruktion versuchen auszulöschen, wird durch die absichtslose Lust an dem kinetischen Prozess überwunden, der nur sekundär eine Gestaltung hervorbringt. Diese dient wiederum als Ausgangspunkt für einen offenen Prozess der Bildsuche.
Solche offenen Prozesse können auch von verschiedenen Materialien mit bereits vorhandenen Irritationen ausgelöst werden oder von Vorgehensweisen, die an das Erstellen von Rorschach-Tests erinnern. Zufällige Kleckse, Spritzer und andere Verunreinigungen liefern Impulse für die Improvisation.

Thomas Rieck, O.T., 2020

Die Motive, die schließlich in die Bilder finden, erinnern in ihrer Rätselhaftigkeit oft an verbildlichte Träumen oder Illustrationen für groteske Märchen. Immer wieder treffen Dinge aufeinander, die offensichtliche oder bekannte Kontexte vermissen lassen, die uns zwingen, selbst Zusammenhänge zu konstruieren, deren Absurdität uns aber gleichzeitig die Vergeblichkeit aller eindeutigen Deutungen vor Augen hält.

Thomas Rieck, Legalize it, 2020

Solche Diskrepanzen erzeugt Thomas Rieck häufig auch mit einer inkongruenten Kombination von Bild und Schrift. Unser suchender Geist ist bemüht, Narrationen aus den Text-Bild-Gefügen abzuleiten, sucht nach Anlehnungen an kulturell überlieferte Muster, doch findet sich schließlich immer nur wieder in dem noch leeren Denkraum der unvereinbaren Elemente, der dazu zwingt, das nicht entschlüsselbare Dargestellte zu transzendieren. Der Rezipient kann sich selbst bei der Konstruktion von neuen Narrationen beobachten, in vollem Bewußtsein, daß sie lediglich Möglichkeiten darstellen, niemals aber einen konkret intendierten Sinnzusammenhang enthüllen können, der a priori nicht existiert.

Thomas Rieck, O.T., 2020

Eine in jüngster Zeit besonders häufig genutzte Motivgruppe sind Tiere. Hier vermeidet Thomas Rieck gezielt alle Zusammenhänge der Domestikation, die z.B. beim Hund zur Herausbildung einer differenzierten Muskulatur der Augenbrauen geführt hat, die dem Wolf fehlt, weshalb Hunde mittels ihres „Hundeblicks“ mit uns kommunizieren können; eine Fähigkeit, die wir bei Wölfen vermissen und ihnen deshalb intuitiv Wildheit zusprechen. Rieck versucht den dargestellten Tieren diese Wildheit, diese Fremdheit zurück zu geben, die es unmöglich macht, sie zu anthropomorphisieren und damit zu vereinnahmen. Aus diesem Grund wählt er mitunter auch Spezies, die inzwischen ausgestorben sind und dem Menschen höchstens als seltene und gefährliche Jagdbeute begegnet sind, wie die Mammuts.

Thomas Rieck, O.T. 2020

So können wir dem Werk Thomas Riecks, und, durch es hindurch blickend, der Konstruktion unserer kulturellen Wirklichkeit, sofern wir nicht bereit sind, ihren scheinbar sicheren Grund zu verlassen, nur mit Befremden begegnen, mit Schrecken und Verstörung - oder aber mit einem läuternden Gelächter, das uns in eine vielleicht unheimliche, aber gleichzeitig allumfassende Freiheit entlässt, in der schließlich eine Begegnung mit dem Sein des Seienden, das Erleben des existentiellen Augenblicks möglich scheint.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, November 2020  



Montag, 19. Oktober 2020

Die Konstruktion des Unsichtbaren - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Spuren" von Peter Boué

Die Ausstellung "Spuren" von Peter Boué findet imOktober 2020 im Einstellungsraum e.V. im Rahmen des Jahresthemas "Sprit und Spirit" statt.

 

         Peter Boué, Loch, 2020


In seinem Buch „Schreiben - Vom Leben der Texte“ konstatiert der Dichter Kurt Drawert, die Literatur beschäftige sich häufig mit dem „Unaussprechlichen“. Diese Aussage erscheint zunächst widersinnig, denn wie sollte man mit der Sprache Dinge erfassen und zum Ausdruck bringen, die sich einer Versprachlichung widersetzen?

Um dieses Paradoxon zu entschlüsseln ist es notwendig, zu bestimmen, was mit dem „Unaussprechlichen“ eigentlich gemeint ist. Drawert selbst liefert uns keine belastbare Definition, sondern nennt es an anderer Stelle nur vage „das Unbewußte“, auf das man nur durch poetische Symbole verweisen kann.
Läßt man den Blick jedoch über das weite Feld der Literatur schweifen, wird rasch klar, was Drawert mit dem „Unaussprechlichen“ gemeint haben muß: es ist die sog. „Qualia“, also der rein subjektive Inhalt der Erfahrung, die ihre eindrucksvollste Verbildlichung durch Marcel Prousts Biss in eine teegetränkte Madeleine erfahren hat. Die geschmackliche Sensation löste in Proust eine Kaskade der Erinnerung aus, die den Anstoß zu der „Suche nach der verlorenen Zeit“ gab. Durch ein sensorisches Ereignis wird ein komplexer Zusammenhang von Erinnerungsbilder, körperlichen Empfindungen und Gefühlen geweckt, der jeder Wahrnehmung ein gegenwärtiges und einzigartiges Gepräge verleiht.

Die Einzigartigkeit der individuellen Qualia wird durch die vom Neurologen Antonio Damasio beschriebene besondere Eigenschaft der Gefühle gewährleistet, Erinnerungen zusammen zu fassen. Da unser Repertoire von Gefühlen zwar vielschichtig, aber begrenzt ist, werden deshalb oft Dinge mit denselben Gefühlen belegt, die zunächst disparat erscheinen, sich für uns aber gleich anfühlen. So können Verknüpfungen zwischen Dingen, Vorgängen und Zuständen entstehen, die dem Logos zwar rätselhaft bleiben, unserem Bewußtsein dennoch einen poetischen Raum öffnen. Diesen Effekt können wir vor allem in unseren Träumen erleben, in denen Dinge in Zusammenhang gebracht und mit Atmosphären und Bedeutungen aufgeladen werden, die sich im Traum zwar richtig angefühlt haben, uns im wachen Zustand aber unverständlich erscheinen, und deren zugrunde liegenden Muster sich oft nur mit einer Psychoanalyse enthüllen lassen.
In seinem umfangreichen Essay „Gezeiten des Geistes“ verglich David Gelernter das Zustandekommen konsistenter Gedanken und innerer Bilder mit dem Übereinanderlegen von transparenten Bildfolien. Erst wenn ein Kleinkind Dutzende oder Hunderte von Beobachtungen, die z.B. mit dem Begriff „Baum“ etikettiert werden, aber niemals deckungsgleich sein können, übereinander gelegt hat, kann es aus all diesen sich überlagernden Eindrücken eine Schnittmenge lösen, die ihm in Zukunft ermöglicht, das Wort „Baum“ in einem für andere nachvollziehbaren Zusammenhang zu benutzen. Die Wiederholung einer Beobachtung läßt uns abstrahierte Muster erkennen, die das beobachtete Phänomen uns selbst begreiflich und anderen vermittelbar machen.

In seinem Werk Schöpferische Entwicklung von 1907 formulierte Henri Bergson dieses Phänomen der Wiederholung und Abstraktion wie folgt: „Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag.“

Handelt es sich nicht um Beobachtungen konkreter Dinge, wie eines Baumes oder eines Stuhls, die wir übereinanderlegen, sondern um Qualia, die wir versuchen in Deckung zu bringen, verfestigen sich deren Schnittmengen schließlich zu intimen, emotional aufgeladenen, identitätsstiftenden Inseln in dem Strom unseres Erfahrungskontinuums. Sie können zuverlässig komplexe Seelenzustände wie z.B. Sehnsucht, Schwermut, Unbehagen oder Geborgenheit verkörpern und bilden als subjektive Ideale und Archetypen wichtige Orientierungspunkte in der Auseinandersetzung mit uns selbst und der Welt.

Das, was Kurt Drawert das „Unaussprechliche“ nennt, ist also etwas, mit dem wir nicht nur in der Literatur zu tun haben. Es bezeichnet einen generellen Aspekt menschlichen Erlebens und ist genauso das „Unabbildbare“. Durch seine Verwurzelung in der vorsprachlichen Region der Empfindungen, Affekte und Gefühle und seine dadurch bedingte Eigenschaft, disparate Dinge assoziativ in einen emotional konsistenten Kontext zu bringen, kann es wohl als Impuls für alle kreativen Prozesse verstanden werden. Denn Neues kann nur geschaffen werden, wenn neue, bisher nicht realisierte Zusammenhänge gebildet werden.

Diese Leistung kann aber nur mittels unserer assoziierenden Gefühle erbracht werden, und dieser Aspekt der Entstehung wiederum macht die so in die Welt gesetzten Schöpfungen zu etwas menschlich Relevantem, denn ihr Bezug auf die conditio humana ist a priori gegeben.

Ein prominentes Beispiel aus der Kunstgeschichte, das diesen Komplex der subjektiven Idealbildung und deren künstlerische Übersetzung ausgezeichnet illustriert, ist Caspar David Friedrich. Seine Landschaften waren, trotz einer vordergründig realistischen Darstellung, immer Ausdruck eines inneren Erlebens und Gegenstand langwieriger, akribischer Konstruktion. Er schrieb: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann förder zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“
Entsprechend weigerte er sich standhaft, ein wissenschaftliches Essay Goethes über die Wolkenbildung zu illustrieren, da seine beeindruckenden Wolkengebilde nicht der akut beobachteten Natur abgeschaut waren, sondern mit Reißschiene und Zirkel konstruierte Idealtypen darstellten. Sie waren die Summe aller Wolken, die er in Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Qualia stellte, und die deshalb essentieller Teil der für ihn schlüssigsten Repräsentation derselben waren.

Diese inneren Bilder, die eine Summe von äußeren, einander entsprechenden Eindrücken, den damit korrespondierenden Gefühlen und assoziierten Erinnerungsinhalten darstellen, stehen für eine höhere, innere Wirklichkeit, die dem Selbstgefühl des Künstlers und seiner einzigartigen Weltwahrnehmung gerechter wird und für ihn entsprechend eine höhere Gültigkeit besitzt, als alle von außen gemachten Zuschreibungen oder kollektiven Übereinkünfte, wie die Wirklichkeit sei. Denn die Qualia ist gelebte subjektive Wirklichkeit. Bilder, die aus ihr hervorgehen, sind nach dem subjektiven Gefühl des Künstlers deshalb immer lebendiger und wirklicher als rein naturalistische Abbildungen. Zugleich kann er durch sie die als nicht mitteilbar, nicht abbildbar geltende subjektive Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad doch mitteilbar machen und abbilden, so wie die Literatur sich sprachlich auch dem Unaussprechlichen nähern kann.

Wie ist es aber um den Wirklichkeitsgehalt der Bilder bestellt, seit dem die Fotografie für sich reklamiert, ihre einzig authentische Darstellungsform zu sein?

Durch die Reproduzierbarkeit der Fotografie und die damit einhergehende Wiederholung der Rezeption ein und desselben Fotos in verschiedenen Kontexten, ist es den Lichtbildern gelungen, in unsere innere Bildwelt zu migrieren. Wie sehr uns das betrifft läßt sich schnell nachvollziehen, wenn man sich alte, oft betrachtete Fotos vor Augen führt, die, durch ihren wiederholten Gebrauch, als Auslöser für Erinnerungen selbst zu Kernen von Erinnerungsgeflechten geworden sind oder die authentischen Erinnerungen sogar abgelöst haben. Mitunter bringen sie so offenkundig unsinnige Verzerrung hervor, wie eine Eintönung der ursprünglichen Erinnerung in den vergilbten Ton von Agfa-Fotopapier.
Genauso können aber auch öffentliche Bilder wie Fotos aus Zeitungen Teil unseres subjektiven Erinnerungsrepertoires werden und mit bestimmten Qualia-Komplexen eng verknüpft sein.

Diese Überschneidung und Durchdringung von inneren Bildern mit den vermeintlich objektiven, öffentlichen Bildern ist einer der Gründe gewesen, aus dem Peter Boué, nachdem er lange nur Dinge gezeichnet hat, die vollständig seiner Imagination entsprungen waren, seit geraumer Zeit auf Bildvorlagen zurückgreift.

Als Ausgangsmaterial dienen ihm dafür sowohl selbst gemachte Fotos, als auch Bilder aus der Zeitung. Doch selbst wenn die Umsetzung mitunter frappierend realistische Effekte hervorbringt, haben wir es, ganz ähnlich wie im Falle C.D. Friedrichs, keinesfalls mit der Darstellung faktischer Orte zu tun. Denn ganz im Sinne des Prozesses, in dem sich innere Bilder aus der Bündelung ähnlicher Beobachtungen und Qualia-Komplexe aus der Zusammenfassung von verschiedenen Ereignissen mit sich gleichender Gefühlslage ergeben, konstruiert Peter Boué seine semi-urbanen Landschaften aus verschiedenen, miteinander verschmolzenen Bildern.
So entstehen aus der Zusammenführung von verschiedenen dokumentarischen Bildern künstlich erschaffene Anmutungen der Authentizität, die aber nichts Faktisches abbilden, sondern wiederum auf etwas verweisen sollen, das nicht abbildbar ist.

Peter Boué, Spuren, Ausstellungsansicht, 2020


Auf der motivischen Ebene wird dieses abstrakte Vexierspiel fortgesetzt. Wir sehen kahle Ort, die Kennzeichen des Umbruchs tragen. Reifenspuren von Lastwagen oder Baggern, ausgehobene Gruben, seltsame Abdrücke im Sand. Spuren erster Ordnung, die konkret auf die Maschinen verweisen, die sie hervorgerufen haben, und Spuren zweiter Ordnung, die die Vergangenheit oder die Zukunft des Geländes erahnen lassen: etwas, das einmal auf einer planierten Fläche gestanden hat, oder das, was auf ihr errichtet werden soll.
Immer sind es Orte im Transit, explizit vorübergehende Zustände, unstete, liminale und dennoch vollständig stille und eingefrorene Stätten zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Peter Boué, Baugrube, 2020

Dieser metamorphen Qualität entsprechen auch zwei formale Aspekte der Arbeiten. Die massiven Schwärzen, mit denen Peter Boué seit langer Zeit arbeitet, sind niemals einfach nur schwarze, tote Flächen. Entweder erzeugen sie eine dynamische Tiefe, die uns anzieht oder sogar ein Gefühl des Schwindels in uns hervorruft, oder sie scheinen etwas in sich zu verbergen, das nur darauf wartet, aus der Dunkelheit hervorzutreten; etwas, das uns beunruhigt, auf das wir lauern und das uns vielleicht ebenso belauert. Die Nicht-Sichtbarkeit dessen, was die Schwärze vielleicht verbirgt, evoziert das irritierende Gefühl einer Anwesenheit.

Andere Bilder fallen, trotz des fast fotorealistischen Eindrucks, den sie aus einer gewissen Entfernung wecken, aus der Nähe völlig in einzelne Striche, in Zusammenballungen oder Streuung der Kohlepigmente auseinander. Sie lösen sich zu einem schwarz-weißen Rauschen auf. Vor unserem inneren Auge jedoch ziehen wir dieses abgestuften, mal sich entziehenden, mal dichter werdenden Kohlegestöber zu projizierten Bildeinheiten zusammen, so wie wir Formen in Wolken hinein sehen.
So erleben wir in diesen Flächen sowohl den Zusammenbruch und die Auflösung des Motivs, als auch die Neuformierung imaginierter, möglicher Bildinhalte. Wir erleben also nicht nur die Motive, sondern auch die Texturen als metamorph, im Übergang befindlich.

Peter Boué, Boden, 2020

Das, was unsere Erfahrung, unsere Wirklichkeit in Gang hält, sie unentwegt mit neuem Treibstoff versorgt, ist der stetig voranschreitende Wandel der niemals selbstidentischen Dinge in der Zeit, wie in dem bereits genannten Zitat Henri Bergsons, der damit dem Gleichnis vom Fluß des Heraklit ein neues, sprachliches Gewand gegeben hat.
Doch eine menschliche Dimension der Wirklichkeit kann sich nur dort entfalten, wo wir aus der uferlosen, ewig strömenden Flut des Flußes selbstähnliche Erfahrungen zur Deckung bringen und in ihren Schnittmengen überzeitliche Muster erkennen, die uns erlauben, uns unserem unabbildbaren, unaussprechlichen Selbst anzunähern. Einem Selbst im Umbruch, das sich nur in einer zur Ewigkeit ausgedehnten Gegenwart selbst ganz erfahren kann. 

Peter Boué, Spuren, Ausstellungsansicht, 2020


Literatur:

Kurt Drawert, Schreiben: Vom Leben der Texte, C.H. Beck 2012

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Bd.1: Combray, Ausgabe: Suhrkamp, 1984

Antonio R. Damasio, Der Spinoza-Effekt, List, 2005

David Gelernter, Gezeiten des Geistes, Ullstein, 2016

Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Ausgabe: Coron Verlag, 1984

Friedrich, Caspar David, Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. In: Gerhard Eimer, Günther Rat, (Hg.) Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen, Teil 1, Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte, XVI, 1999

Lea Singer, Anatomie der Wolken, Hoffmann und Campe, 2015

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Oktober 2020
 


Donnerstag, 10. September 2020

Die Triade der Erkenntnis - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "Gefüge unserer Welt" von Manfred Eichhorn

Die Ausstellung "Gefüge unserer Welt" von Manfred Eichhorn findet im September 2020 im Einstellungsraum e.V. im Rahmen des Jahresthemas "Sprit und Spirit" statt.
Manfred Eichhorn "Gefüge unserer Welt" Digitalcollage 2020

Wenn wir der Welt mit all ihren Erscheinungen gegenüber stehen, ist es ein Ding der Unmöglichkeit, sie in allen Aspekten, mit allem was darin ist, vom Virus bis zum Schwarzen Loch, von der Biochemie bis zur religiösen Ekstase, vom Haiku bis zur postmodernen Philosophie in toto auch nur zu erahnen. Die Welt erscheint uns uferlos und unergründlich.

Um dieses Problem einer umfassenden Beschreibung des Universums zu umschiffen, entstand schon in der Antike eine Unterteilung der Welt in drei unterschiedliche Skalen: den Mikrokosmos und den Makrokosmos, also die Welt des winzig Kleinen und die Welt des Riesengroßen, und dazwischenliegend, die Welt des Menschen, der Mesokosmos.
Von dem Mikro- und dem Makrokosmos heißt es aber in den meisten Vorstellungen von der Antike bis zur Gegenwart, sie seien ein Spiegel des jeweils anderen, wie es z.B. Leibniz seinen Monaden zuschrieb; oder sie berührten sich schließlich sogar, womit der Kreis der Existenz wieder zu einer Einheit zusammengeführt wäre.
Für die Sphären der Extreme galt, daß sie beherrscht werden von wenigen, statischen Gesetzmäßigkeiten, und daß sie den ewig gleichen Zyklen folgten. Der Bereich des Menschen jedoch gilt noch heute als unübersichtlich, vielgestaltig, dem ewigen Wandel unterworfen und ephemer.

Dieses sog. triadische Denken taucht im Lauf der Kulturgeschichte in den verschiedensten Variationen auf. Im Christentum kennen wir die Triade als die Heilige Dreieinigkeit, in der der Vater für den Makrokosmos steht, der Heilige Geist als das Innewohnende, also als Mikrokosmos gedacht werden kann, und der als Mensch geborene Sohn schließlich den Mesokosmos versinnbildlicht.
In der Alchimie gibt es zwar einerseits den Dualismus von dem mikrokosmischen Menschen, der dem makrokosmischen Universum entspricht, gleichzeitig aber die Triade von Natur, Menschenwelt und dem Reich Gottes, die in einer hierarchischen Abfolge stehen. In der Dialektik stellt sich die Triade als Spannungsfeld zwischen These und Antithese dar, aus denen der Mesokosmos der Synthese hervorgeht.

Vor allem in der evolutionären Erkenntnistheorie ist der Begriff des Mesokosmos seit einigen Jahrzehnten unverzichtbar geworden. Hier bezeichnet er den Wirklichkeitsausschnitt, an den unsere kognitiven Strukturen angepasst sind, und bezieht sich damit wieder auf die antike Triade einer Aufteilung des euklidischen Raums.

Doch kann das Denkschema einer Dreiteilung auch hilfreich sein im Rahmen eines Erkenntnismodells, das die Triade nicht als Skalierung des Raums begreift, sondern als Gegenüberstellung verschiedener phänomenologischer Sphären. Das mikrokosmische Extrem könnte hier die radikal subjektive und einmalige Erfahrung des Individuums mit der zunächst namenlosen, rätselhaften und unüberschaubaren Vielgestaltigkeit der Wirklichkeit bilden.
Ihm gegenüber stünde die empirische, kollektive und deshalb makrokosmische Analyse und Beschreibung derselben. Auf der einen Seite stünde also die akute Begegnung mit der Welt, auf der anderen Seite ihr abstraktes Modell; auf der einen das spontane Erleben des Einzelnen, auf der anderen die Summe der Erfahrung Aller.

Die changierende Mesosphäre bildet in diesem Denkmodell die Zone, in der sich diese beiden Sphären im alltäglichen Erfahrungsraum des Einzelnen durchdringen. Es ließe sich wie folgt verbildlichen: die unmittelbaren Begegnung mit der Welt liefert dieser mesokosmischen Zone die Substanz, ihre Gestalt und Ordnung aber ist geprägt von einem Ensemble von Konventionen, die aus der kollektiv entwickelten Beschreibung der Welt abgeleitet sind. Zudem prägen diese Konventionen die Art und Weise, wie das Individuum Erfahrungen aufnimmt, filtert und einordnet.

Rückwirkend werden in diesem Mesokosmos die kollektiven Erklärungsmodelle der Welt überprüft und gegebenenfalls korrigiert, wenn die subjektiven Erfahrungen, also die Impulse aus dem Namenlosen, in zu starkem Widerspruch mit dem auf sie angewandten Ordnungssystem stehen.
Im Sinne der Dialektik ist der so verstandene Mesokosmos der Bereich, in dem unsere jeweilig erlebte kulturelle Realität in der Schnittmenge der abstrakten Modelle des Makrokosmos und der subjektiven Erlebnisse des Mikrokosmos synthetisiert wird.

Für den Mikrokosmos in diesem Modell kann gelten, daß er seit der Menschwerdung nahezu unverändert geblieben ist. Die unmittelbare Begegnung mit der Wirklichkeit, mit Leben, Tod und Kosmos, mit dem Sein an sich, löst wohl noch immer das gleiche ehrfürchtige und sprachlose Erschauern in uns aus, wie vor 100.000 Jahren. Und  was Lao Tse vom Tao geschrieben hat, gilt noch heute: „Der Name, den man nennen kann, ist nicht der ewige Name. Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der Welt.“
Doch die Makrosphäre der kollektiven Erkenntnis wuchert etwa seit der Mitte des 17. Jhd. exponentiell. Die Flut der Fachliteratur ist unüberschaubar, ebenso wie die unablässig neu begründeten Forschungsfelder. Und während die Zahl der aktiven Wissenschaftler zwischen 1850 und 1950 noch von 1. Mio auf 10 Mio. gestiegen ist, wuchs sie allein zwischen 1950 und 2000 von 10 Mio. auf 100 Mio. an (Marx und Gramm, 2002)

Bis zur Renaissance galt, daß es einem rundum gebildeten Menschen, einem sog. uomo universale, möglich sei, alles verfügbare Wissen der Menschheit zu überblicken. Heute ist es nur noch möglich als hochspezialisierter Wissenschaftler in einem winzigen Ausschnitt so gut orientiert zu sein, daß man dort weiteren Erkenntnisgewinn erzielen kann. Zudem gilt, ein halbes Jahrtausend nach der Renaissance, daß die neuen wissenschaftlichen Modelle der Wirklichkeit derart komplex sind, daß sie sich dem Verständnis des Menschen nahezu vollständig entziehen und nur noch über Umwege nachvollziehbar sind:
In der Mathematik wird mit Dutzenden von Dimensionen jenseits des euklidischen Raums operiert, die Astronomie bewegt sich in Zeiträumen und Größenverhältnissen, die man zwar benennen, aber sich unmöglich vorstellen kann, und in der Teilchenphysik werden unerklärliche Phänomene beobachtet, die Theorien zeitigen, in denen gemutmaßt wird, daß entweder die Zeit eigentlich nicht existent sei, sondern nur sekundär aus einem gequantelten Raum hervorgehe, oder umgekehrt der Raum emergent sei und erst aus der Zeit entstünde. Werner Heisenberg wiederum wird zugeschrieben, er hätte von der Quantenphysik gesagt, wer sich mit ihr beschäftigt hätte und nicht verrückt geworden sei, hätte sie nicht verstanden.

Derzeit befinden wir uns also an einem Punkt, an dem nicht nur unsere unmittelbare subjektive Erfahrung der Welt nach wie vor unbenennbar bleibt. Auch die abstrakten Weltbeschreibungen ziehen sich in das Unbenennbare zurück - und zwar soweit, daß vor einigen Jahren ein andauernder Dialog zwischen den Spezialisten der subjektiven und der empirischen Welterfahrung begonnen hat, namentlich zwischen praktizierenden Buddhisten und theoretischen Physikern. Gleichzeitig beziehen sich die Protagonisten der Quantenschleifengravitation wieder auf die mystisch anmutenden Ideen der Vorsokratiker.

Zwar ist die Übereinstimmung von Mikro- und Makrokosmos nach klassischer Definition seit der Formulierung der Quantenphysik endgültig ad acta gelegt, da die Welt des Subatomaren nicht den Gesetzen der klassischen Physik folgt, die im räumlichen Makrokosmos hingegen ungebrochen gelten, begreift man aber die Termini in dem oben skizzierten erkenntnisphänomenologischen Zusammenhang, so ist festzustellen, daß sich die beiden Extreme doch wieder entsprechen. Denn in den Beschreibungen, die zwei eigentlich entgegengesetzte Erkenntnisprozesse, der individuelle und der kollektive, hervorgebracht haben, können wir heute wieder die gleichen Grundzüge, die gleichen Weltentwürfe erkennen. Die Idee einer Einheit allen Seins, der Begriff der Ganzheitlichkeit, ist heute in der Wissenschaft präsenter und relevanter denn je, und was den Alchimisten der Stein der Weisen war, ist den Wissenschaftlern von heute die alles vereinigende Weltformel.

Der Ort, an dem sich diese Synthese bildet, kann wiederum nur die mesokosmische Zone des Menschen sein, mit seinen beschränkten kognitiven Strukturen, seiner Unschärfe, seiner mangelnden Stringenz, seiner unlogischen Intuition, seinen unterbewußten Strömungen, seiner Poesie.
Nicht von ungefähr zeigt sich gerade in der Physik, daß es nicht immer nur die methodischen Vorgehensweisen sind, die die großen Entwicklungssprünge hervorbringen, sondern oftmals losgelöste Eingebungen, in denen sich Unbenanntes unabhängig von unserem intentionellen Verstand formiert. So beschrieb Werner Heisenberg den Moment, in dem ihm bei einem Nachtspaziergang auf Helgoland der Durchbruch zur Entwicklung der Quantenphysik gelang, als einen Zustand des „Sich-Treiben-Lassens“.
Die großen Entdeckungen Einsteins hatte er nicht einer erbarmungslosen und exakten Logik zu verdanken, sondern seiner enormen Fähigkeit des visualisierten Denkens. Die entsprechenden Berechnungen delegierte er anschließend an leistungsfähige Mathematiker.

Tatsächlich hat die Welt der Physik über erstaunliche Zeiträume mit rein spekulativen Modellen gelebt, die der Intuition und der Phantasie zu verdanken gewesen sind. Das Atom als kleinste Einheit der Materie war seit Leukipp und Demokrit hypothetischer Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Überlegungen, doch wurde seine faktische Existenz erst 1905 von Albert Einstein nachgewiesen. Die Idee eines schwarzen Loches wurde bereits 1783 vom Astronomen John Michell ersonnen und von Albert Einstein und Karl Schwarzschild 1915/16 anhand der allgemeinen Relativitätstheorie präzise ausformuliert. Ihre tatsächliche Existenz konnte allerdings erst in den Jahren 2016 und 2017 endgültig belegt werden, anhand der Messung von vorher ebenfalls nur hypothetischen Gravitationswellen und schließlich durch die bildgebenden Verfahren eines Radioteleskops.

Überspitzt könnte man daraus ableiten, ein guter Teil der Physik spiele sich in der Sphäre der Science Fiction ab: Es werden Modelle entworfen, mit denen sich die Wirklichkeit zwar beschreiben läßt, deren Validität aber erst noch bewiesen werden muß. Die Wissenschaft operiert also oft in einer hypothetischen Wirklichkeit, die lediglich möglich sein könnte, sich ab er auch als falsch heraus stellen kann. Ganz zurecht wies deshalb der polnische Arzt, Philosoph und Science Fiction-Autor Stanislaw Lem der Science Fiction eine maßgebliche Bedeutung auf dem Feld der Futurologie zu: Theoretisch wären alle technischen Extrapolationen, die sich der Mensch ausdenken kann, so utopisch sie auch anmuteten, irgendwann tatsächlich  umsetzbar.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, daß wir heute von zahllosen Gegenständen umgeben sind, auf die wir einfach nur lange warten mußten, da wir sie aus den Visionen der Science Fiction schon längst kannten. Unterseeboote und Mondraketen sind uns seit Jules Verne vertraut. Bildschirmtelefone findet man bereits auf Sammelbildchen der 1920er Jahre. Seit genauso langer Zeit begleiten uns die von Karel Capek erdachten Roboter. Doris Day schlug sich bereits 1966 mit einem autonomen Staubsauger in dem Prototypen eines Smarthomes herum, und auf dem Raumschiff Enterprise gehörten Tablet-PCs und Sprachgesteuerte Computer schon in den 1980er Jahren zur Standardausrüstung.
Zwar behandelt die Science Fiction stets die Probleme einer möglichen technischen Entwicklung und will uns darauf vorbereiten, gleichzeitig vermittelt sie aber auch eine ungeheure Neugier auf die Zukunft und die Erkenntnisse, die sie bringen mag.

Manfred Eichhorn, Three Loop 1, 2020

Diese Neugier ist eine wichtige Motivation im Werkprozess Manfred Eichhorns und sie zieht ihn immer wieder an einen Ort, an dem die Grenzen der Wissenschaft Schritt für Schritt erweitert werden, an dem versucht wird, die phantastische Welt der Hypothesen im Experiment zu belegen, an dem z.B. nach Teilchen gesucht wird, die bislang nur in den Köpfen der theoretischen Physiker Gestalt angenommen haben: Es ist das DESY, das Deutsche Elektronen-Synchrotron.
Die Forschung, die dort stattfindet, ereignet sich in zweifacher Hinsicht in Extrembereichen. Die zu erforschenden Teilchen bilden die unterste Grenze des Mikrokosmos, oder sie geistern, sofern sie hypothetischer Natur sind, sogar jenseits dessen herum, was als empirisch verifizierte Wirklichkeit gelten darf. Gleichzeitig spielt sich die Forschung in dem bereits dargestellten makrokosmischen Extrembereich eines phänomenologischen Erkenntnismodells ab, dem Bereich der abstrakten, kollektiv gebildeten Modelle, die die Antithese des sinnlichen Erlebnisses darstellen, und deren Inhalt, so Heisenberg, selbst die Forschenden über die Grenzen ihres Vorstellungsvermögens zwingt, und der formal dem Uneingeweihten nur noch als unentwirrbarer Salat von Zahlen, Buchstaben und Operatoren erscheint.

Manfred Eichhorn, Dreischleifen 2, 2020

Gefangen in unserem kognitiv eingeschränkten Mesokosmos bleibt uns nur die Faszination, der Glaube an die Zuverlässigkeit des wissenschaftlichen Apparats und die Hoffnung auf eine damit gewonnene Zukunft.
In den Arbeiten Eichhorns tritt vor allem diese Faszination hervor, die die Begegnung mit dem „Unbenennbaren“ hervorruft, in dessen Regionen sich die empirischen Weltmodelle in den letzten hundert Jahren vorgewagt haben.

Dem Diktum folgend, der Makrokosmos sei im Mikrokosmos gespiegelt, begegnet Eichhorn dieser Welt maximal abstrahierter Modelle mit der gleichen Offenheit, die eigentlich nur die radikal subjektive Begegnung mit der Wirklichkeit, also den  Mikrokosmos des phänomenologischen Erkenntnishorizonts auszeichnet. Und mit einer daraus sich konsequent ergebenden und bewußt eingesetzten Unbedarftheit, versucht er den Dingen, die sich in dem undurchdringlichen Dickicht der Formeln verbergen, nach den Gesetzen des menschlichen Mesokosmos, also vor allem intuitiv, eine Gestalt zu geben.

Manfred Eichhorn, Dreischleifen 4, 2020

Zwischen den verheißungsvollen und ebenso verwirrenden Formeln tauchen Kreise auf - der kulturhistorisch belegte Urausdruck für die empfundene Einheit allen Seins. Erste Beziehungen zwischen ihnen entstehen, Verbindungslinien werden gezogen, und bilden symbolische Beziehungsgefüge, die stark an alchimistische Modelle erinnern, oder an andere protowissenschaftliche Darstellungen vergangener Jahrhunderte.
Und immer wieder taucht die Triade auf: mal in Form dreier Kreise, in deren Spannungsfeld sich die Zahlenkolonnen gruppieren, mal als Dreiecke, die sich über das Gewirr der Formeln legen. Sie können gelesen werden als Verweise auf die drei euklidischen Dimensionen unserer menschlichen Lebenswirklichkeit oder als die drei Eckdaten der Triangulation, mit deren Hilfe wir unsere Welt vermessen.

Manfred Eichhorn, Neue Berechnungen 1, 2020

Als Überlagerung des radikal subjektiven und des abstrakt kollektiven Weges der Erkenntnis kann auch die Wahl des Maluntergrunds einiger Arbeiten im Kontrast zu dem darauf Abgebildeten gelesen werden: Statt makelloser, neuer Leinwände benutzte Manfred Eichhorn für einige Bilder alte Lappen, die dunkle Spuren von aufgewischtem Leinöl aufweisen. In diesen absichtslos entstandenen, unförmigen Flecken tritt uns das noch Namenlose, Chaotische, Ungestaltete entgegen, dem wir unmittelbar und sinnlich begegnen, das Objekt der radikal subjektiven Erfahrung. Darüber legt sich das Ringen mit der vorgefundenen Wirklichkeit und der Versuch, sie zu vermessen und in die abstrakten Regionen der Modelle zu überführen.
Um auf ein bereits verwendetes Bild zurück zu greifen: die Substanz der Arbeiten stammt aus dem subjektiv und unmitttelbar wahrgenommenen Mikro- und Makrokosmos der Erkenntnis, ihre Form und Ordnung aber erhalten sie aber von den intuitiven, konfigurierenden Prozessen des Mesokosmos.

Manfred Eichhorn, Neue Berechnungen 2, 2020

In den großformatigen digitalen Collagen stellt Manfred Eichhorn vorgefundene Strukturen aus der Pflanzenwelt den von ihm imaginierten „organischen Architekturen“ gegenüber. Die Objekte scheinen ineinander über zu gehen, einander zu durchdringen oder auseinander hervorzugehen. Hier tritt das Hypothetische, das Fiktive klar zutage, das aber immer das Potenzial in sich trägt, in einer unbestimmten Zukunft realisiert zu werden und auf dem Wege, auf der Basis der wissenschaftlichen Abstraktion und deren Extrapolation im intuitiv-kreativen Mesokosmos, schließlich in der faktischen, sinnlichen, subjektiv erfahrbaren Wirklichkeit Gestalt anzunehmen.

Manfred Eichhorn, Me, 2020

Und so zeigt sich in Manfred Eichhorns Werkkomplex „Gefüge unserer Welt“ der Versuch, wenn schon nicht die ganze Welt abzubilden, so doch wenigstens unsere subjektiven und kollektiven Bemühungen diese in ihrer Totalität zu erfassen; in einem Mesokosmos, dessen Integrationsvermögen in seiner Fähigkeit zur intuitiven Visualisierung liegt, die uns, trotz aller kognitiven Beschränkungen, vielleicht doch tiefere und komplexere Einblicke in die Wirklichkeit erlaubt, als uns die evolutionäre Erkenntnistheorie zugesteht.

© Dr. phil. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2020


Donnerstag, 13. August 2020

Kohlenstoff, Flimmerhärchen und die Evolution der Sinne - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Rauschen“ von Monika Schröder

 Die Ausstellung „Rauschen“ von Monika Schröder wird gezeigt im Einstellungsraum e.V. im Rahmen des Jahresthemas „Sprit und Spirit“, Hamburg, August 2020

Monika Schröder: Rotation, 2020 - Foto: Claus Sautter

Vor etwa 400 Millionen Jahren, nach der Ordovizischen Eiszeit, als der C02-Gehalt der Erdatmosphäre noch etwa zehnmal so hoch war, und die Durchschnittstemperatur etwa 6 Grad mehr als heute betrug, erlebten die höheren Mikroorganismen in den Weltmeeren einen vorher nie da gewesenen Boom.

Bis zum Silur und frühen Devon waren es vor allem die Bakterienkolonien der Stromatolithen, die für die Bindung des Kohlenstoffs aus der Luft verantwortlich waren. Diese Funktion übernahmen nun komplexere ein- und mehrzellige Eukaryoten wie zunächst die Rugosa, später ab etwa 250 Mio. v.u.Z. die Korallen, und vor allem das Phyto- und Zooplankton, das sich in den oberen Wasserschichten in einem nie da gewesenem Ausmaß vermehrte und eine unüberschaubare Zahl skurriler Erscheinungsformen hervorbrachte.

Starben diese Algen und Kleinstlebewesen ab, sanken sie zum sauerstoffarmen Grund der Ozeane und bildeten mächtige Schichten von Biomasse. Da sie sich dort aufgrund des Sauerstoffmangels nicht zersetzten, wandelten sie sich in kohlenstoffreichen Faulschlamm um, der unter weiteren Sedimentschichten begraben wurde. Unter dem entstehenden Druck wurde das organische Material immer mehr verdichtet und bildete schließlich langkettige Kohlenstoffverbindungen, die von organischen Lösungsmitteln nicht mehr zu lösen sind. Es entstanden die sog. Kerogene.
Die ansteigende, durch den Druck entstandene Wärme trieb bei Temperaturen über 60°C zunächst das Methan aus. Bis etwa 120°C verflüssigten sich die Kerogene zu Erdöl, bei noch höheren Temperaturen wandelten sie sich in Erdgas um.

Während die Bakterien der frühesten Erdzeitalter zunächst eine Atmosphäre schufen, die komplexeres Leben überhaupt möglich machte, und dabei gigantische Massen von Kalk- und Sedimentgestein aufschichteten, waren es die unvorstellbaren Massen des ein- und mehrzelligen Planktons, die über Hundertmillionen von Jahren durch die Bindung von Kohlenstoff ein Klima schufen, das die Erde zu einem Lebensraum machte, der eine ungeheuere Vielfalt höheren Lebens hervorbrachte - nach neuesten Schätzungen gegenwärtig etwa 8,7 Millionen Arten, zu denen auch unsere Spezies, der Homo Sapiens gehört.

Betrachtet man die Evolution der Lebensformen, kann man sie auch als eine Evolution der Sinne begreifen.

Am Anfang standen wahrscheinlich einfache Photorezeptoren wie die Phytochrome, mit denen bereits Cyanobakterien, die sog. Blaualgen, ausgestattet sind. Durch die Fähigkeit Licht zu registrieren, waren erstmals aktive Reaktionen auf die Umwelt möglich, um die bestmöglichen Bedingungen für Ernährung und Vermehrung zu nutzen.
Vor etwa 1,8 Milliarden Jahren tauchten die ersten Eukaryoten auf, also Lebewesen, die einen regulären Zellkern und eine komplexe Struktur aufweisen. Sie waren erstmals mit Cilien ausgestattet, den sogenannten Flimmerhärchen oder Geißeln. Die Cilien ermöglichten einerseits eine Fortbewegung, andererseits konnten sie als Rezeptoren für Berührungen oder Gerüche dienen. Diese Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit durch Ertasten und Wittern der Umwelt, war ein gewaltiger Entwicklungssprung, der die Operationsmöglichkeiten der frühen Eukaryoten maßgeblich erweiterte, und ihnen schließlich eine Vormachtstellung bei der Besiedlung der Meere sicherte, die im späten Devon und Karbon ihren Höhepunkt erreichte.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder

Zwar entwickelten sich auch die motorischen Möglichkeiten der immer komplexer werdenden Lebewesen, doch die Entwicklung der Sinne, zu denen sich schließlich, in Form spezialisierter Sinneszellen, auch der komplexere Gesichtssinn und die auditive Wahrnehmung gesellten, waren die entscheidenden Faktoren evolutionären Fortschritts. Je umfassender die Umwelt wahrgenommen wurde und je komplexer diese Informationen verknüpft werden konnten, desto überlebensfähiger war der jeweilige Organismus.
Als das am weitesten entwickelte Sinnesorgan kann aus dieser Perspektive das Gehirn gelten, allen voran das menschliche Gehirn, das zu vielschichtigenRepräsentationen der Außenwelt sowie der Selbstwahrnehmung fähig ist und damit eine selbstreflexive Innenwelt geschaffen hat: ein Bewußtsein - einen umfassenden Realitätsinn.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
An der Aufgabe der Sinne hat sich allerdings nichts geändert: sowohl die primitiven Sinne der einfachen Protozoen sowie die komplexeren Sinneszellen der Eukaryoten bis hin zu der Erkenntnisfähigkeit des Menschen dienen einer sinnlichen Erforschung der Umwelt und der Orientierung darin, um das eigene Überleben und die Homöostase, also das ideale organische Gleichgewicht, zu sichern.

Dieser Handlungsimpuls führte unter anderem den Frühmenschen Homo Erectus vor ungefähr 1 - 1,5 Mio. Jahren zur Beherrschung des Feuers, eine Fertigkeit, die den vielleicht wichtigsten Entwicklungsschritt in der Menschwerdung darstellt, denn sie gilt als der wirkmächtigste Faktor bei der weiteren Entwicklung von Gehirn und Bewußtsein.

Durch das Garen der Nahrung wird weitaus mehr Energie zugänglich gemacht, als rohe Nahrung sie bietet. Dadurch konnte sich das Größenwachstum des Gehirns mit seinem enorm hohen Energieverbrauch fortsetzen. Andererseits mußten die Frühmenschen nicht mehr, wie zuvor, bis zu 8 Stunden mit Sammeln, Jagen und Kauen der Nahrung verbringen, sondern etwa nur noch die Hälfte der Zeit, wodurch sich ungekannte Handlungsfreiräume öffneten.
Auch setzte die Dunkelheit dem menschlichen Tun kein natürliches Ende mehr. Anstatt zu schlafen, versammelten sich die Menschen nun abends am Feuer und entwickelten in einem noch nie dagewesenen Maße ihre kommunikativen Fähigkeiten und erste mündliche Traditionen: Sie tauschten Erfahrungen aus und es entstanden die ersten mythische Narrationen, um die Erscheinungen der Welt und die Conditio Humana zu erklären.

Monika Schröder, Vernissage "Rauschen" unter Corona-Beschränkungen, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
Dem Homo Sapiens gelang es rund 1 Mio. Jahre später, die fossilen Lagerstätten des gebundenen Kohlenstoffs, die die frühen Eukaryoten gebildet hatten, zu erschließen. Im Jungpaläolithikum, um 12.000 v. Chr. wurde nur das oberflächlich austretende Bitumen nachweislich als Mittel zum Abdichten von Booten genutzt. Aber schon in den frühen Hochkulturen Mesopotamiens ist es als Brennstoff für Lampen nachgewiesen. Mit Hilfe des Feuers brach der Mensch, wenn auch zunächst nur in sehr bescheidenem Umfang, aus dem nachhaltigen Kohlenstoffkreislauf der Biosphäre aus.

Während Steinkohle in China und Mitteleuropa schon seit dem 13. Jhd. in überschaubaren Kontingenten, ab dem 17. Jhd. dann in immer größerem Maße als Brennstoff abgebaut wurde, erlebte das Erdöl erst seit 1859 mit den Bohrungen von George Bissel und Edwin Drake in Pennsylvania seinen kometenhaften Aufstieg. Es löste in Form von Petroleum rasch den Walrat als Lampenöl ab. Mit der Entwicklung des Verbrennungsmotors wurde die Dynamik des Erdölhandels schließlich zu dem maßgeblichen Vektor von Weltwirtschaft und - politik.

Derselbe Urimpuls des Lebens, der im Erdaltertum zur Evolution und Vermehrung der Mirkoorganismen führte, ist derselbe wie der, der heute in uns wirkt und in der jüngeren Geschichte dazu geführt hat, daß wir den fossil gebundenen Kohlenstoff wieder freisetzen und damit die von den frühen Eukaryoten in hunderten von Millionen Jahren geschaffenen Lebensbedingungen wieder zerstören: Es ist dies der Impuls, die Wirklichkeit so umfassend wie möglich wahrzunehmen, um anschließend so auf sie einzuwirken, daß wir homöostatische Bedingungen für uns schaffen können, in denen wir uns so schmerzfrei und bequem wie möglich ernähren und vermehren können. Und dazu bedienen wir uns, nach wie vor, des mächtigsten Werkzeugs und des effektivsten kulturellen Katalysators, den sich der Mensch jemals nutzbar gemacht hat: des Feuers.

Paradoxerweise liegt aber gerade in diesem Impuls, der uns in die gegenwärtige Krise geführt hat, auch die einzige Möglichkeit, dem kollektiven Selbst- und Massenmord, den der anthropogene Klimawandel bewirkt, Einhalt zu gebieten. Denn mit der Evolution der Erkenntnisfähigkeit und Selbsterkenntnis des Menschen ist ihm auch die Fähigkeit zu eigen geworden, in seiner Innenwelt ein Modell der Innenwelt anderer Menschen und Wesen zu schaffen: Spiegelneuronen ermöglichen uns, die Empfindungen und Emotionen anderer Menschen nachzuvollziehen und darauf empathisch zu reagieren, so wie uns die entwicklungspsychologisch übergeordnete „Theory of Mind“ ermöglicht, uns in die Gedankenwelt und auf den Erkenntnisstand anderer zu versetzen.

Und schließlich hat der Mensch, dem genannten Impuls folgend, die Evolution seiner Sinne selbst in die Hand genommen und sie um die Prothese der digitalen Netzwerke erweitert, die ihm nun ermöglichen, mit Menschen auf der ganzen Welt in Verbindung zu treten und Vorgänge auf der ganzen Welt zu verfolgen. Er hat begonnen, als jüngsten Schritt in seiner Evolution, ein globales Bewußtsein auszubilden, das ihm ermöglicht, durch empathisches und vernunftgeleitetes Handeln so zu agieren, daß nicht nur eine kurzfristige, individuelle Homöostase erreicht wird, sondern auch eine globale und nachhaltige Homöostase angestrebt werden kann, von der schließlich auch sein individuelles Wohlergehen und Überleben abhängt.

Wenn wir also nicht auf einer bereits überkommenen Entwicklungsstufe verharren wollen, bietet uns die stetig voranschreitende Evolution der Sinne, unser sich weitendes Bewußtsein für die Außenwelt, die Möglichkeit, die zerstörerischen Aspekte unseres Handelns zu erkennen, zu antizipieren, zu korrigieren und die angerichteten Schäden wenigstens teilweise zu heilen.

Ein Werkstoff, auf den Monika Schröder immer wieder zurückgreift, da er auch im Zusammenhang des Heilens eine große Rolle spielt, ist der Gips. Während sie ihn bei ihren sog. „Taktilos“ tatsächlich noch benutzte, um gebrochene Hölzer wieder zusammenzufügen, bleibt dieser Aspekt in ihrer neuen Werkserie, den „Rotationen“, als subtile Konnotation bestehen.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
Aus feinen Drahtnetzen, kleinen Streifen von Gipsbinden und zarten Latexmembranen hat sie filigrane, durchlässige, fast schwerelose Objekte geschaffen, deren Formen mitunter stark an Wimperntierchen erinnern, an Eukaryoten, deren Oberfläche mit einer Vielzahl von Flimmerhärchen bedeckt ist. Manche von ihnen schweben im Raum, wodurch die Anmutung von Plankton verstärkt wird. Doch im Gegensatz zu den Mikroorganismen, deren Körper um ihren Verdauungsapparat aufgebaut ist, sind die Objekte von Monika Schröder körperlos. Sie sind reduziert auf das Drahtgespinnst ihrer Außenhülle mit den hautartigen Latexpartien und den Cilien aus Gipsbinden, die vorsichtig in die Umgebung ausgreifen, als wollten sie sie abtasten. Sie stehen für eine Schnittstelle mit der Außenwelt, eine behutsame, physische Kontaktaufnahme, und wecken in uns das Gefühl für den Prozess des sich Einfühlens, des Betastens und Erfahrens der Umwelt. Dergestalt drängen sie sich als Metapher sinnlicher und empathischer Wahrnehmung auf.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
Gleichzeitig vermitteln sie den Eindruck großer Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit, manche scheinen auch schon von Auflösungserscheinungen gezeichnet zu sein. Tatsächlich wirkt die globale Erwärmung, zumal die Erwärmung der Ozeane, die wir hervorrufen, indem wir fossilen Kohlenstoff freisetzen, zuerst auf die Mikroorganismen, die entweder durch den entstehenden Sauerstoffmangel absterben, oder als von Cyaniobakterien ausgelöste Algenpest, die alle anderen höheren Organismen bedroht.

Die Vernichtung der vermeintlich schwächsten Kreaturen wird auch von einer weiteren bewußten Materialwahl aufgegriffen: Monika Schröder verwendet neben Gips  und Drahtnetzen mit Wabenstruktur bevorzugt Bienenwachs und thematisiert damit das für uns sichtbarere und in seinen Konsequenzen konkretere anthropogene Sterben der Bienen und Insekten.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
Eine weiteres Objekt, zu sehen im Keller des Einstellungsraums, erinnert stark an das hohle Kalkskelett einer Koralle. Gleichzeitig hat es auch die Anmutung eines gebeugten, menschlichen Torsos. Seine schneeweiße, durchbrochene Oberfläche ist gespickt mit den Enden schwarzer Kabelbinder aus Plastik, die sowohl als Stacheln, wie auch als Tasthärchen gelesen werden können. Darauf wird in Intervallen ein loderndes Feuer projiziert.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
Hier prallen die antagonistischen Kräfte am plastischsten aufeinander und ihre gegenseitige Abhängigkeit wird am deutlichsten: Es durchdringen sich die Korallen, die noch heute gewaltige Mengen an Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden könnten, mit dem gebeugten, menschlichen Körper und der unbändigen Kraft des Feuers, die für uns Segen und Fluch in einem ist. Die Borsten aus Plastik, selbst ein Produkt der Petrochemie, vereinen die ambivalenten Anmutungen von Tasthaaren oder drohend aufgerichteten Stacheln, von Kontaktaufnahme und Aggression. Der Wechsel von den Phasen, in denen das Objekt rot-orange flackert, zu denen, die seine blendend weiße Oberfläche entblößen, ruft Assoziationen mit der Algenbleiche hervor, die derzeit weltweit Korallenriffe bedroht und ebenfalls menschlichen Einwirkungen anzulasten ist.
Und dann sind da ein weiteres mal die Borsten oder Härchen, die sowohl an Abwehr denken lassen, wie an tastende Fühler oder Antennen, die in die Welt hinaus gesreckt sind.

Setzt man diese komplexen Zusammenhänge von Form, Material und projizierter Bildebene in den Kontext des Jahresthemas „Sprit und Spirit“, ließe sich der ausgestellte Werkkomplex auf folgende Weise lesen:

Daß unser Antrieb zum Handeln sich nicht darauf beschränkten sollte, sich der von uns in Gang gesetzten Dynamik der fossilen Energiewirtschaft unterzuordnen, die sich als überkommener Irrweg der Evolution erwiesen hat, als Enantiodromie, also als ein Aspekt, der vorübergehend einen Vorteil geboten hat, sich aber schließlich in sein Gegenteil umkehrt.

Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder
Vielmehr sollte der „Sprit“ unserer Kultur die Dynamik unserer Erkenntnisprozesse sein, so wie es der Evolution organischen Lebens schon immer zu Eigen gewesen ist.

Unser „Spirit“, unser empathisches Bewußtsein, dessen Grenzen sich immer mehr öffnen, darf sich dem nächsten Entwicklungsschritt, einem globalen Bewußtsein und einer daraus resultierenden globalen Verantwortung nicht verschließen, denn nur dieses Bewußtsein wird es uns ermöglichen, uns auch weiterhin dem Zustand der Homöostase anzunähern, der nur erreicht werden kann, wenn wir ihn nicht auf unsere Spezies beschränken, sondern ihn für alles Leben auf diesem Planeten als relevant erachten; wenn unsere Empathie nicht nur Freunden, Verwandten, Gesinnungsgenossen oder Landsleuten gilt, sondern jedem Lebewesen der 8,7 Millionen Spezies, bis hin zum Plankton in den Weltmeeren, dem wir dadurch hoffentlich noch die Chance geben, uns ein zweites mal Bedingungen zum Überleben zu schaffen.

Monika Schröder,  Vernissage "Rauschen" unter Corona-Beschränkungen, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder

Hinweise zur inhaltlichen Vertiefung:
• www.oekosystem-erde.de/html/geschichte_erdoel.html
• Stefanie Groll et.al., Kohleatlas, Heinrich Böll Stiftung, 2015
• Madeleine Böhme, Wie wir Menschen wurden, 2019
• Wilfried Westheide et.al. (Hrsg.), Spezielle Zoologie. Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, August 2020