Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
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Mittwoch, 29. April 2020

Ins Blaue hinein - Dr. Thomas Piesbergen zum Werkkomplex "Continuum" von Sigrun Jakubaschke

Die Ausstellung "Continuum" von Sigrun Jakubaschke ist im Mai 2020 zu sehen in Hamburg in der Galerie W.  des Künstlers und Magiers Wittus Witt.


Spricht man von einer Fahrt ohne klares Ziel, nennt der Volksmund sie gerne eine „Fahrt ins Blaue“. Auch das „Reden ins Blaue“ ist eine Wendung, die bereits bei Immanuel Kant belegt ist. Heinrich von Kleist schreibt hingegen von einem Urteil, das „ins Blaue geschossen“ ist.
Immer gemeint ist damit ein Vorstoß in das Ungewisse, das Ungreifbare, gefaßt in der Metapher des Himmelsblaus oder dem Blau der Ferne. Beiden wird die Eigenschaft des Grenzenlosen zugeschrieben; die Bewegung ins Blaue umfaßt also auch immer die Transzendenz von bisher bestehenden Grenzen.

In der Frühzeit und Antike war der Himmel der Bereich absoluter Unerreichbarkeit, also lag es nah, daß in fast allen Kulturen der Himmel als die Sphäre der göttlichen Kräfte galt. Zudem zogen dort die Gestirne ihre Bahnen, in deren Bewegungsmustern und Zyklen die grundlegende Ordnung der Welt gewähnt wurde. Die Identifikation von Gottheiten und Gestirnen, die uns vor allem durch die griechischen und römischen Gottheiten geläufig ist, geht in unserem Kulturkreis zurück auf die altorientalischen Astralgottheiten. Und auch in mythogenetischen Zonen, die keine Planeten oder Sterne mit Gottheiten gleichsetzten, gab es immer eine Vergöttlichung von Sonne und Mond, deren Bahn zuerst den Himmel, dann die Unterwelt durchmaß, um aus ihr wiedergeboren zu werden.

Um in diesen vergangenen kulturellen Kontexten zu einer absoluten Erkenntnis und Gewissheit zu gelangen, war es also nötig, die Grenzen der profanen menschlichen Sphäre zu übertreten, und in das Unbekannte, das Jenseitige des blauen Himmels vorzudringen. In der Antike waren es die Mysterien, die die entsprechenden mentalen Techniken hüteten und so transzendente Erfahrungen möglich machten. In der Vorzeit hatten Schamanen diese Aufgabe.
Alle Ereignisse auf der menschlichen Ebene hatten eine Entsprechung auf der Ebene der Geister und Götter. Wenn man also Mißstände auf der mensschlichen Ebene beheben wollte, mußte der Schamane zum Himmel aufsteigen, um dort die Ursachen für die hiesigen Probleme zu beseitigen. Was ihm den Aufstieg ermöglichte war meist ein symbolischer Weltenbaum, der als axis mundi im Zentrum der Welt steht, dessen Wurzeln bis in die Unterwelt reichen und dessen Krone sich bis in die Sphäre der Götter erhebt. Diese Vorstellung war von Europa über Asien bis nach Nordamerika verbreitet. Als Stellvertreter für den Weltenbaum diente dem Schamanen oft der hölzerne Mittelpfosten seiner Hütte, oft auch ein großer, aufgepflanzter Ast oder tatsächlicher Baum davor.


Ein anderes Symbol, daß ebenfalls mit dem Ort des mystischen Aufstiegs entlang der Weltenachse assoziiert wird, ist das Labyrinth und die damit eng verbundene Spirale. Die sogenannten „Trojaburgen“ waren wenigstens von Finnland und Norwegen bis zum Weißen Meer in Russland und im Mittelmeer bis nach Sardinien und Kreta verbreitet. Man nimmt an, daß sie für rituelle, von Mysten abgeschrittene Prozessionen genutzt wurden. Trotz eines verwirrenden Wechsels der Richtung führte der Weg zwangsläufig in das Zentrum und anschließend wieder heraus, was meist interpretiert wird als Abstieg in das Totenreich und die anschließende Wiedergeburt, die, neben dem Aufstieg entlang der Weltachse, das zweite zentrale Motiv der Schamanenreise darstellt. 


Trifft diese Deutung zu, dienten die Labyrinthe also einem spirituellen Akt, der mit der Schamanenreise nahezu identisch ist: die Transzendenz und der Weg in himmlische oder unterweltliche Gefilde (die als zwei Aspekte desselben mythologischen Topos gelten können), sowie die Rückkehr aus dem Labyrinth als Wiedergeburt und Überwindung des Todes.



Im vorliegenden Werkkomplex von Sigrun Jakubaschke finden wir all diese Elemente wieder: das kosmische Blau des Himmels, mittels Schwarzlicht zu einer scheinbar aus sich selbst heraus leuchtenden, körperlosen Präsenz gesteigert, darin die Sterne und andere vom Himmel geholte Objekte, und sogar der Baum, aus dem die grell leuchtende axis mundi hervor ragt. Der Ausstellungsraum wird zu einem Ort, der zu vibrieren scheint unter dem Eindruck eines magischen, grenzüberwindenden Ereignisses, das gerade stattgefunden hat - oder noch immer im Gange ist.


Begleitende Arbeiten zur Rauminstallation zeigen Labyrinthe und Spiralen, die wie Paraphernalia schamanistischer Extasetechnik wirken, Hilfsmittel, um sich in einen Seelenzustand zu versetzen, der den Aufstieg ins Blaue, in die jenseitigen Bezirke der Wirklichkeit ermöglicht.


Ebenfalls blaue Zyanotypien mit eingestanzten Sternbildern können in diesem Ensemble als symbolische Orientierungshilfen in den höheren Sphären gelesen werden. Ein interessantes Detail: sie entsprechen in ihrer Machart einer antiken Vorstellung des Sternenhimmels, nach der die Sterne Öffnungen im Firmament seien, aus der das göttliche Licht des Paradieses strahle.


In der Ausstellung „Continuum“ von Sigrun Jakubaschke wird auf wunderbare Weise eine Gedanke realisiert, den der große Anthropologe Joseph Campbel kurz vor seinem Tod anregt hat: Er glaubte, daß in einer rationalistischen Welt, in der die Religionen und Mythen als Modelle der Weltdeutung ausgedient haben, es schließlich, wie zur Zeit der Höhlenmalerei, die Künstler sein werden, die den Menschen wieder Erfahrungen ermöglichen, mit denen sie ihre profane Weltsicht transzendieren können, und sie in ein Erfahrungskontinuum überführen, in dem das Magische und Spirituelle als große Metaphern der Welterfahrung erneut zugänglich sind.


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2020

Sonntag, 5. April 2020

Die Faszination des Bösen - Gedanken zur Ausstellung "Sigrun Jakubaschke - Viren im Labor" von Dr. Thomas J. Piesbergen

Die Ausstellung „Viren im Labor“ von Prof. Sigrun Jakubaschke ist zu sehen im Einstellungsraum  e.V. im Rahmen des Jahresthemas "Sprit und Spirit"

Sigrun Jakubaschke, Viren im Labor, 2020


Im 4. Kapitel der Poetik von Aristoteles heißt es: „Denn von denselben Gegenständen, die wir mit Unlust betrachten, sehen wir besonders sorgfältig angefertigte Abbildungen mit Wohlgefallen an, wie z.B. die Formen von ganz widerwärtigen Tieren und selbst von Leichnamen.“ (nach Alfred Gudemann, 1921)
Diese Lust an dem Grotesken und Schrecklichen erklärte Aristoteles mit der generellen Freude an der Mimesis, also der Nachahmung, und der Eigenschaft des Menschen durch Nachahmung zu lernen. Nach Aristoteles besteht also der Reiz in der Nachahmung selber, ungeachtet des Gegenstandes, der nachgeahmt wird.

Über das Dramatische hingegen, das immer mit dem Bedrohlichen für Leib und Seele einhergeht, heißt es im 6. Kapitel der Poetik, es bewirke „durch die Erregung von Mitleid und Furcht die Reinigung (Katharsis) von derartigen Gemütsstimmungen“ (ebd.). Durch das Anteilnehmen an heftigen Affekten auf der Bühne wäre der Mensch dadurch also imstande, sich selbst von ihnen zu befreien, um geläutert und leidenschaftslos Entscheidungen zu fällen, die nunmehr von Moral und Vernunft geleitet sind.
Auch hier wird der Anziehungskraft, die solche erregenden Impulse wohlmöglich ausüben können, keine weitere Beachtung geschenkt.

Dieser antike Ansatz, der noch von Opitz und Lessing in dieser Form weitgehend für gültig erachtet worden ist, wurde in der Romantik, in der man das Schreckliche und Erregende als Faszinosum thematisierte, zu einer Perspektive erweitert, die über das „Wohlwollen“ angesichts besonders gelungener Nachbildungen, also die aristotelische Mimesis, weit hinaus geht.
Doch erst im Laufe des 20. Jhd.  hat das Schreckliche unter dem Einfluß der Tiefenpsychologie eine signifikante Umdeutung erfahren. Ihm wurde erstmals eine grundlegende und essentielle Bedeutung zugebilligt. Eine Beschäftigung mit den negativen Seiten der menschlichen Kultur und Seele wird seit Sigmund Freud sogar als notwendig erachtet, um sich über individuelle und kollektive menschliche Gegebenheiten Klarheit zu verschaffen; dieser Paradigmenwechsel, der unsere moderne Gesellschaft maßgeblich mit geformt hat, wurde vor allem von den Künsten schnell aufgegriffen und in seiner ganzen Tiefe ausgelotet.

In seinem experimentellen Roman „Meteor“ von 1934 schreibt Karel Capek, über die Arbeit des Schriftstellers reflektierend: „Die Phantasie an sich erscheint immoralisch und grausam wie ein Kind; sie gefällt sich in Schrecken und Lächerlichkeiten. (…) Ich versuche, die Literatur wegen ihrer Vorliebe für Tragik und Spott zu entschuldigen. Beides sind nämlich Umwege (…), um eine Illusion von der Wirklichkeit zu schaffen.(…) Mitgefühl und Gelächter sind lediglich Erschütterungen, mit denen wir die Ereignisse außerhalb von uns begleiten und kommentieren. Rufen sie wie auch immer diese Erschütterungen hervor, so erwecken sie zugleich den Eindruck, außerhalb von ihnen habe sich etwas Wirkliches abgespielt, desto wirklicher, je stärker dieser gefühlsmäßige Schlag ist.“
Die konkrete Zielsetzung des Schriftstellers sei es, so Capek, die „verknöcherte Seele des Lesers gehörig und unbarmherzig zu erschüttern.
Der Moment der Katharsis zielt bei Capek also in erster Linie nicht mehr darauf ab, den Rezipienten zu läutern und von Affekten zu befreien, sondern zunächst genau diese Affekte in ihm wachzurufen, um ihm das Gefühl zu geben, mit der menschlichen Wirklichkeit in Berührung zu kommen.

Auch Alberto Manguel sieht darin die Aufgabe der Literatur. In „Eine Stadt aus Worten“ von 2007 schreibt er: „Geschichten nähren unser Bewußtsein und können uns zu der Erkenntnis darüber führen, wenn schon nicht WER, so wenigstens DASS wir sind,…
Capek und Manguel postulieren also nicht die leidenschaftslose Vernunft als Ziel der Künste, sondern das Erlebnis des Lebendigseins durch emotionale Reize, die in all ihren Erscheinungsformen, den negativen wie positiven, integraler Bestandteil unseres Lebens sind.

Diese Perspektive wird auch von dem Kulturanthropologen Joseph Campbell gestützt, der durch seine Mythenforschung entscheidende Erkenntnisse über die Anfänge darstellender und erzählender Kunst gewonnen hat. Laut Campbell entstanden die ersten Mythen und Geschichten aus dem Bedürfnis heraus, problematische Lebensabschnitte und Krisen geistig so zu bearbeiten und zu vermitteln, daß es leichter fällt, sie zu überstehen. Vor allem geht es um Krisen, in denen sich in unserem Körper Dinge ereignen, die uns erschrecken: Pubertät, Liebe, Krankheit, Tod.
Diese Aspekte sollen als lebendiger Bestandteil des Lebens erfahrbar gemacht werden. Durch Geschichten und Bildern, in denen diese Krisen „nachgeahmt“ werden, soll der Mensch lernen, Dinge benennen zu können, mit ihnen umzugehen, und vor allem die Erfahrung des Lebendigseins machen, in dem er auch die negativen Ereignisse und Erschütterungen als sinngebend annimmt.

Im Umkehrschluß kann man daraus folgern, daß nicht nur der Künstler versucht, die verknöcherte Seele seines Rezipienten zu erschüttern, wie Capek es ausdrückt, sondern daß auch der Rezipient, geleitet von seinem Bedürfnis, sich lebendig zu fühlen, aktiv nach solchen Erschütterungen sucht.
Das scheinen die Statisktiken aus den Bereichen Film, Fernsehen und Literatur zu belegen. Während im Kino und den Streamingdiensten Thriller und Horrorfilme die ehemals dominierenden Genres Western, Action und Krimi ablösen, die sich ebenfalls schon mit den Feldern der Gewalt und der seelischen Abgründe beschäftigt haben, sind es auf dem Buchmarkt schon seit Jahren unverändert Krimis und Thriller, die zusammen fast zwei Drittel aller gelesenen Bücher ausmachen. Auch im Fernsehen dominiert der Krimi unangefochten.

Aber genauso wie uns erschreckende und aufwühlende Fiktionen anziehen und durch das kathartische Mitleiden ein Gefühl von Lebendigkeit vermitteln können, so tun es auch die Inhalte der medialen Welt. Denn auch die wirklichen Ereignisse dringen immer nur reduziert zu uns und werden durch die Reduktion, bewußt oder unbewußt, in narrative Strukturen überführt, mal als bloße Narrative, mal als vollständige Narrationen.
So ist es ein offenes Geheimnis, daß alle Medien von Katastrophen profitieren. Der 11. September 2001 ist eines der krassesten Beispiele dafür, wie die ganze Welt für Tage in eine Public Viewing Area verwandelt wurde. Auch die mediale Präsenz der Despoten der Weltgeschichte und der Tagespolitik illustriert dieses Phänomen sehr anschaulich. Denn selbst wenn man ihren Charakter und ihre Politik zutiefst ablehnen mag, haben sie als Medienfiguren, gefiltert durch mediale Reduktion, zweifellos einen hohen, wenn auch fragwürdigen Unterhaltungswert. Allein die zahllosen Dokumentationen über Hitler seien als Beleg angeführt.

Das Bedürfnis nach emotional erregenden Reizen hat auch die Entwicklung des Internets in eine Richtung getrieben, die vor 20 Jahren in kaum einer Prognose bedacht worden ist. Statt des Szenarios eines fruchtbaren Austauschs von wissenschaftlichen Fakten und Nachrichten ist ein Zustand eingetreten, in dem die weltweite digitale Vernetzung vor allem primitive Empfindungen und emotionale Bedürfnisse bedient. Wir versuchen über die „Social Media“ in Kontakt mit der Welt zu treten, ihr unser Wunsch-Selbst zu zeigen und es mittels „Like“-Streicheleinheiten von ihr bestätigen zu lassen.
Die Meinungsbildung, auf der anderen Seite, findet auf eben diesen Plattformen meist nicht durch objektive Information statt, sondern durch affektive Gruppenbildungen, befeuert von polarisierenden Narrativen, emotional aufgeladene Bilder, Shitstroms und entsprechende Gegenreaktionen. Die emotional aufgeladenen „Aufreger“ bestimmen online die Stimmung und die politischen Kommentare.

Gleichzeitig erleben wir in unseren postindustriellen Kontexten immer weniger öffentliche Gewalt und sind immer weniger akuten Gefahren ausgesetzt. Unser Leben ist zu einem meist ereignislosen Dahintreiben im Strom der technischen und sozio-ökonomischen Entwicklung geworden. Eugen Roth faßte die emotionale Erfahrung einer eintönigen Lebenswirklichkeit in seiner Lyriksammlung „Mensch und Unmensch“ sehr schön in einem kleinen Vers zusammen:

Der Mensch würd` sich zufrieden geben
damit, daß tragisch wird das Leben.
Das Schwierige liegt mehr an dem:
es wird auch fad und unbequem.

Wir leben also zusehends in einem faden und unbequemen Kontinuum, das uns die unmittelbar erfahrbaren Reize, die uns ein Gefühl von Lebendigkeit vermitteln könnten, vorenthält, während wir glauben, uns ohne weiteres in ein Leben voller Erschütterungen fügen zu können, wenn die zugefügten Verletzungen unserer Seele nur gestatten würden, zu wachsen und Größe zu beweisen. Doch diese tragische Größe bleibt eine Phantasie.

Zwar sind die „inneren“ Wege, die uns Achtsamkeit und Sensibilität lehren und uns so aus der zähen und bedeutungsarmen Alltäglichkeit führen könnten, oberflächlich bekannt, doch laufen sie all unseren kulturell sanktionierten Handlungsroutinen zuwider. 
Die „äußeren“ Auswege, die sich bieten, sind faktische Simulationen emotional aufrüttelnder Erlebnisse in gesichertem Rahmen, wie z.B. im Extremsport, beim Bungee-Jumping oder ähnlichen Freizeitbeschäftigungen, in denen der Körper unmittelbar einbezogen wird. Ein anderer Weg besteht in der die mißbräuchlichen Umdeutung von kulturell sanktionierten Handlungsoptionen, wie dem Ausleben von Macht- und Gewaltaffekten im Straßenverkehr. Der am häufigsten beschrittene Weg aber besteht eben in dem Konsum von „Nachahmungen“ emotional erschütternder Ereignisse.

Im letzten Fall sind unsere Spiegelneuronen von zentraler Bedeutung. Sie werden aktiv, wenn wir andere beobachten, und vermitteln uns das Gefühl, die beobachteten Handlungen selbst vollzogen  oder die beobachteten Emotionen selbst durchlebt zu haben. Nur aufgrund dieser bemerkenswerten Eigenschaft der Spiegelneuronen sind wir überhaupt erst in der Lage, Empathie und Mitgefühl für unsere Mitmenschen zu entwickeln, da wir uns in sie und ihren Gefühlshaushalt hineinversetzen können. Sie ermöglichen uns ein mittelbares, zwischenmenschliches und manchmal sogar ein zwischenkreatürliches Lebendigsein.

Die Attraktion, die das Schreckliche, Erregende oder Abstoßende ausübt, hat ihre Wurzeln also offenbar in unserem Bedürfnis, am eigenen Leben und einer gemeinsamen Erfahrung des  Lebendigseins teilzuhaben, von der wir uns in unseren gesellschaftlichen Gegebenheiten zusehends abgeschnitten fühlen. Und je mehr das der Fall ist, je „verknöcherter“ unsere Seelen geworden sind, desto stärker müssen die gefühlsmäßigen Schläge sein, um uns das Gefühl der Lebendigkeit zurück zu geben. Das Phänomen der Abstumpfung, das bei dieser Reaktionskette ganz sicher eine bedeutende Rolle spielt, sei an dieser Stelle ausgespart.

Wenden wir uns vor diesem gedanklichen Hintergrund der Installation von Sigrun Jakubaschke zu. Der Ausstellungsraum des Einstellungsraums ist, genau wie unsere Vorstellung, unsere Computer und die Medienlandschaft, bevölkert von Viren. Sie bestehen aus amorphen Körpern in grellbunten Farben und sind gespickt mit hölzernen Stacheln und gläsernen Splittern und Scherben. Einige liegen in Glasvitrinen, andere sind auf Stangen gespießt, die meisten aber sind vor und auf Spiegeln aufgestellt.

An einer Wand hängt ein Arbeits-Overall, der, gemeinsam mit dem Ausstellungstitel „Viren im Labor“ eine nicht erzählte Narration andeutet. Es geht nicht nur um die Zurschaustellung der Objekte, sondern es wird ein Interieur geschaffen, das einen Handlungsverlauf antriggert: Ein Labor, gerahmt ihm Schaufenster, in dem Krankheitserreger untersucht werden, vielleicht um einen Impfstoff zu entwickeln. Es deutet sich eine klassische, narrative Handlungsstruktur an.

Auch die Viren selbst sind weit davon entfernt, nur naturgetreue „Nachahmungen“ im aristotelischen Sinn zu sein. Vielmehr sind es überzeichnete, skulpturale „Illustrationen“ zum reduzierten Narrativ der Viren, die mit ihren grellen Farben und dem glitzernden Glas ein Blickfang sind, eine nach Aufmerksamkeit heischende Attraktion.
Die Scherben, mit denen sie gespickt sind, wirken zwiefältig: Berührte man sie, verletzte man sich - eine akute Gefahr, die von den messerscharfen Glaskanten ausgeht, gebändigt durch den narrativen, ästhetischen Rahmen. Zu der Faszination, die diese Bedrohung ausübt, tritt der Glanz, das Funkeln, dem Aldous Huxley in seinen „Pforten der Wahrnehmung“ (1954) zuschreibt, es sei, ausgehend von Juwelen, Edelsteinen, Gold und Glas, seit jeher das Vehikel der mystischen Erfahrung gewesen. In allen Weltreligion wird das Paradies als ein Ort des Juwelenglanzes und des darin aufleuchtenden Licht der Göttlichkeit beschrieben.

Joseph Campbell sieht in der mystischen Erfahrung wiederum den Inbegriff der Erfahrung des Lebendigseins, das Erlebnis der Verbundenheit mit allem Seienden.
Dieser Verknüpfung eingedenk, kann man die vordergründigen Objekte der Ausstellung lesen als eine Verbindung des Aufmerksamkeit erregenden Spektakels, der offenkundigen physischen Bedrohung und einer wahrhaftigen Erfahrung der Conditio Humana.

Doch auf dieser Bedeutungsebene verharrt die Installation nicht. Denn die Spiegel, die nicht nur die Unterlage der Viren bilden, sondern auch entlang der Wände des Ausstellungsraums aufgestellt sind, öffnen nicht nur den Blick, sondern auch eine Meta-Ebene.

Zunächst wird unsere Umwelt von ihnen eingefangen: der Himmel, die Häuser, die auf der B75 stoisch vorbei rasenden Autos, die ebenfalls Faszination und Bedrohung in sich vereinen - schließlich starben im vergangenen Jahr 3059 Menschen auf deutschen Straßen und etwa 1,35 Millionen weltweit. Alles wird in den Rahmen der Ausstellung gezogen und damit zu etwas transformiert, das wir mit weitaus größerer Aufmerksamkeit betrachten, als gingen wir im Alltag daran vorbei. Es wird Teil der Narration.

Und dann treten wir selbst ins Bild. Wir betrachten uns selbst als Betrachter innerhalb des Betrachteten, auch wir sind von der Installation gerahmt und unsere Rezeptionshaltung wird uns vor Augen geführt: unsere Lust an dem Spektakel, unsere Faszination angesichts der zur Schau gestellten Gefahr und schließlich unser Bedürfnis, durch den Glanz, das Funkeln und den Schmerz mit dem Lebendigen in Kontakt zu treten, selbst wahrhaft lebendig zu sein in einer Welt, die uns dieses Gefühl nicht mehr zubilligen möchte.

ⓒ Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2020