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Donnerstag, 6. Dezember 2012

Neue Veröffentlichung: Katalogtext in "Adriane Steckhan - Urban Skins"


Adriane Steckhan "Urban Skins"
Ein Katalog mit einleitendem Text von Dr. Thomas J. Piesbergen

Erschienen im Hyperzine Verlag
1. Auflage Dezember 2012

ISBN 978-938218-62-4


"Unscharf pulsierende Straßenzüge. Fiebrige Spuren aus Licht, die von unbestimmter Bewegung wie Hieroglyphen in die Dunkelheit geschrieben sind. Das Chaos frisch niedergerissener Ruinen wie Korallenriffe am Grunde der Nacht, überwuchert von flimmernden Farbaufbrüchen. Geisterhafte Schemen. Phantomstädte. Es liegen Dinge im Unklaren, im Unscharfen, in einer aus dem Gestaltlosen tretenden und wieder darin versinkenden Urbanität; Dinge, die sich vage in dem unablässigen Strom der Zeit manifestieren und wieder darin vergehen - offen, fließend, gespenstisch.
Die Arbeiten Adriane Steckhans stellen die Selbstverständlichkeit unserer Wahrnehmung und die  Vollständigkeit ihrer Repräsentation in Frage. Sie stellen die Frage nach der Bedingtheit unserer Wirklichkeit und Identität in der Zeit, nach Authentizität, Vergänglichkeit und Tod.

Hamburg. London. Venedig. Mexico City. Addis Abeba. Das sind die Namen der Stadträume, durch die uns die Odyssee des Kameraauges führt, in denen es nach Anhaltspunkten sucht, nach Orten der Orientierung. Manchmal ruht es unerwartet auf Lichtinseln, verweilt bei geisterhaften Einblicken, auf Umrissen, die sich in Dunst und Schatten abzeichnen. Doch nichts scheint Bestand zu haben; die Dinge scheinen nur latent vorhanden zu sein, sich der Gegenwart hartnäckig zu entziehen. Denn bereits die Langzeitbelichtungen, mit denen Adriane Steckhan arbeitet, durchbrechen das Zeitfenster von drei Sekunden, das in der Bewußtseinsforschung als die empfundene Gegenwart gilt. So wird das Wahrgenommene schon im Moment der Wahrnehmung zur Erinnerung, zu einem subjektiven und unscharfen Fragment unserer Wirklichkeit. Das, was uns auf den Bildern entgegentritt, ist eher die Erosion des Gesehenen, als ein Bild desselben; ein Nachbild, ein Erinnerungssplitter, der anmutet, als trüge er seinen eigenen Tod in sich.

Diesem fragmentarischen Charakter unserer Wahrnehmung, der Verknüpfung von unzähligen Gegenwartspunkten und Erinnerungsrudimenten, entspricht auch die Segmentierung der Arbeiten. Die Fotografien werden zergliedert, wieder zu größeren Einheiten zusammengefügt und schließlich zu den oft großformatigen Panoramen geordnet. Das, was wir als unsere Wirklichkeit begreifen, wird als Konstruktion, als Imagination sichtbar gemacht, als eine bloße Ableitung von dem, was unsere Sinne nur bruchstückhaft registrieren.

Den Übergang der Bilder von der äußeren in die innere Wirklichkeit, der von der reinen Fotografie mit ihrer unsichtbaren Oberfläche in der Regel verschwiegen wird, macht Adriane Steckhan durch die Übertragung der Bilder in eine Haut aus Acrylpolymer erfahrbar: die Urban Skin.  
Diese transluziden Häute sind, wie die Bilder, gezeichnet von Bewegungen, von der Zeit: vom Duktus des Pinsels, mit dem das Polymer aufgetragen worden ist, von den Verwerfungen, die beim Trocknungsprozeß entstanden sind, von den gefangenen Blasen im gallertartigen Material, die den Eindruck erwecken, es könne sich in jedem Moment wieder verflüssigen. 
Auf diese Weise gewinnen die Häute eine lebendige Oberfläche, deren autarke Topographie die Absolutheit des fotografischen Augenblicks zugunsten einer raumzeitlich nachvollziehbaren Ausbreitung des Bildes überwindet, wie man es sonst nur in der Malerei findet. Dadurch entziehen sie sich dem fotografischen Diskurs und eröffnen einen unabhängigen Bildraum.

Zugleich wird die Wahrnehmung des Motivs gestört. So wie auch die inneren Bilder stetigem Lichtwechsel ausgesetzt sind und sich mit ihren Atmosphären wie Folien über unsere akute Gegenwart legen, so kann der Betrachter die Bilder nur durch die sich stets wandelnden, unruhigen, und narbigen Oberflächen der Urban Skins mit ihren Reflexionen und nebelhaften Verdichtungen sehen, unter denen eine verstörende und vielgestaltige Tiefe darauf wartet, ausgelotet zu werden.
Die Haut, selbst Metapher für die Schnittstelle zwischen der inneren und der äußeren Welt, macht durch diese Störungen den Prozeß, dem die Bilder durch unsere Wahrnehmung unterworfen sind, akut und sinnlich nachvollziehbar. 

Die Orte, anhand derer wir uns versuchen zu orientieren, die wir als essentiell für unsere Identität und unsere Verortung in der Zeit erleben, selbst unsere Mittel und unsere Fähigkeiten, uns einer vermeintlich objektiven Wirklichkeit zu versichern, werden auf den Urban Skins entlarvt als subjektiv und bruchstückhaft, unscharf und ephemer. "


Dr. phil. Thomas J. Piesbergen, November 2012


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