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Mittwoch, 8. April 2015

Zwischen Innen- und Außenwelt - Dr. Thomas Piesbergen, Eröffnungsrede für Sylvia Schultes "Sonar-Linien", Einstellungsraum

Das aktuelle Jahresthema des Einstellungsraums lautet „Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß.“
Dieser Satz von Matthias Claudius, den er 1799 an seinen Sohn schrieb, war von ihm gemeint in dem Sinne einer Warnung, man solle die lärmigen Gassen besser meiden und zügig voran schreiten. Doch dieser Satz birgt auch die Gefahr des Mißverständnisses, welches im ersten Moment auch der Künstlerin Sylvia Schultes unterlief, als sie ihn zum ersten mal las. Sie verstand ihn im Sinne einer Aufforderung, sich zu der Quelle des Geräuschs zu begeben.
Dieses Mißverständnis, diese konträre Auslegung des Claudius-Zitats, möchte ich als Ausgangspunkt nehmen, um mich der Arbeit von Sylvia Schultes zu nähern.

Sylvia Schultes, Spurensichtung, 2015

Matthias Claudius empfahl, den Tumult, das Gewühl der Welt zu meiden und statt dessen die Stille und die Einsamkeit zu suchen, sicher im Sinne einer Einkehr, im Sinne des Lauschens auf die Innere Stimme und einer Hinwendung zu Gott; Aspekte einer Lebensführung, die sowohl für den religiösen Menschen, wie auch für den Dichter - Matthias Claudius war beides - notwendige Rahmenbedingungen sind, und die auf etwas verweisen, das man als den Inneren Weg der Erkenntnis bezeichnen kann.

Der Mensch, der den Inneren Weg beschreitet, wendet sich von der Welt der Erscheinungen ab und sucht in sich selbst nach einer Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit. Die Grunderfahrung dieses Inneren Weges ist subjektiver Natur und wird erreicht durch Meditation, Versenkung und hellsichtige Momente tiefer Einsicht. Sie erzeugt ein real wirksames und konsistentes Konzept der Wirklichkeit. Doch sie schlägt sich nur nieder im Erfahrungsraum des Einzelnen und ist niemals adäquat mitteilbar, sie widersetzt sich mitunter sogar der Mitteilung, wie Loa-Tse im Daodejing konstatiert hat: „Wer es sagt, weiß es nicht. Wer es weiß, sagt es nicht.“
In einem Film der Star-Trek-Reihe fragt Dr. McCoy den vom Tode zurückgekehrten Mr. Spock, wie es sei, zu sterben. Spock antwortet, er würde es ihm gerne sagen, McCoy würde es aber nicht verstehen. Auf die Frage, warum er es nicht verstehen würde, antwortet Spock ebenso schlicht wie bedeutsam, McCoy würde es nicht verstehen, da er selbst noch nicht gestorben sei.
Dieser kurze Dialog ist kennzeichnend für Einsichten, die auf dem Inneren Weg gewonnen werden. Es ist der Weg der Gnosis, der Erleuchtung, der Mystik, der in Europa nachweislich seit der klassischen Antike beschritten wird, wie z.B. in den Dionysischen oder Eleusinischen Mysterien.

Doch so wie es einen Inneren Weg der Erkenntnis gibt, so gibt es auch einen Äußeren Weg. Der suchende Mensch wendet sich nicht von der Welt ab, um in sich selbst Antworten zu finden, sondern er wendet sich der Welt, den Erscheinungen, der Dinglichkeit zu.
Die Praxis des Äußeren Weges besteht in der wiederholten, geteilten und kollektiv rückversicherten Beobachtung. Deshalb ist die Grunderfahrung dieses Weges immer empirischer und sozialer Natur. Der Äußere Weg erfordert den Diskurs und führt zu der Fixierung wiederholter Beobachtungen in Form eines sozialen Konsens` oder der Formulierung von wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Auch er führt zu einem real wirksamen Konzept der Wirklichkeit, das jedoch nicht auf das persönliche Urteil, sondern auf eben diesen Konsens zurückzuführen ist und aufgrund dessen sozialer Natur als kulturelle Struktur tradiert wird.
Dieser Weg wird in Europa ebenfalls seit der klassischen Antike beschritten, seit der Mensch sich von dem mythischen Verständnis der Welt gelöst hat. Die Traditionslinie hat sich von dort ausgehend ungebrochen bis in unsere modernen Wissenschaften fortgesetzt.

Aufgrund ihrer sozialen Natur hat sich diese Art der Konstituierung von Wirklichkeit auch in unserem Alltag durchgesetzt und beherrscht mit ihren Normen unsere Wahrnehmung. Der Konsens bestimmt, was für die Alltagsrealität relevant und deshalb „wahr“ ist.

Karl Popper schrieb in Die Logik der Forschung: „Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um die `Welt´ einzufangen - sie zu rationalisieren, zu erklären, zu beherrschen.“
Doch zum einen sind die Maschen eines jeden Netzes nur für bestimmt Fische geeignet, zum anderen fängt man mit einem Netz immer nur die Fische, nicht aber den Fluß. 
In dem gleichen gleichen Sinne schrieb C.F. von Weizsäcker in Die biologische Basis der religiösen Erfahrung: „Wer die westliche Wissenschaft kennt, weiß, daß sie fast nur dasjenige empirisch zu Gesicht zu bekommen vermag, worauf sie theoretisch - wenigstens in der Begrifflichkeit der Fragestellung - vorbereitet ist.“

Die Dinge, die sich in der äußeren Welt abspielen, führen erst dann zu bedeutsamen und relevanten Wahrnehmungs-Ereignissen, wenn sie in unserem Bewußtsein eine begriffliche oder anders geartete strukturelle Entsprechung finden. Wir fangen nur das mit den Netzen unserer normierten Wahrnehmung, auf das wir vorbereitet sind.
So kann es geschehen, daß Menschen, die z.B. noch nie mit Neuer Musik oder Freejazz in Berührung gekommen sind, schlicht behaupten: „Das ist doch keine Musik!“
Denn sie leben in einem begrifflich-strukturellen Kontext, in dem der Konsens über das, was als „Musik“ gilt, sehr eng begrenzt ist. Erst wenn die Grenzen dieses Konsens´ überschritten werden, wenn die normierte Vorstellung von Musik überwunden wird und man sich erweiterten Beurteilungsschemata öffnet oder sie sogar gänzlich überwinden kann, kann das „Geräusch“ oder der „Lärm“ als Musik verstanden werden.

So sind beide Wege der Erkenntnis mit Mängeln behaftet, die sie sich gegenseitig zum Vorwurf machen. Der eine Weg ist nicht mitteilbar und überprüfbar, der andere Weg immer durch seine apriorische Natur eingeschränkt und deshalb unfähig, „das Ganze“ zu erfassen. Meist beansprucht jedoch jeder für sich, jeweils unter Berufung auf die Mängel des anderen, der einzig gangbare Weg der Erkenntnis zu sein.

Aber sind diese beiden Wege tatsächlich so gegensätzlich? Bereits zur Zeit ihres Ursprungs, als das Bewußtsein aus dem mythischen Denken in das wissenschaftlich-philosophische Denken einerseits und das mystische Denken andererseits trat, wurde deren eigentliche Einheit erkannt. In seinem Werk Über die Natur schrieb Heraklit:
„Zusammen gehört Ganzes und Nichtganzes, Übereinstimmendes und Verschiedenes, Einklang und Dissonanz, und aus Allem wird Eines und aus Einem Alles.“
Im Thomas-Evangelium, einem apokryphen Text der gnostischen Tradition, heißt es: „Wer das All erkennt, sich selbst aber verkennt, der verfehlt das Ganze.“
In der klassischen Hermetik und der eng damit verbundenen Alchimistischen Lehre ist die Übereinstimmung von der Inneren und der Äußeren Welt, die Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos, die Analogie schließlich zum grundlegenden Prinzip erhoben. So schreibt Paracelsus: „Denn der Mensch hat in sich auch die Astra und das Gestirn so gut wie das obere Firmament. Diese Astra und das Gestirn liegen nun verborgen in dem `Mens´, das ist in des Menschen Gemüt.“
Indem die Alchimisten ihre chemischen Experimente durchführten, vollzogen sie nicht nur proto-wissenschaftliche Experimente, sondern vor allem erlebten sie den Abstieg und Aufstieg ihrer eigenen Seele im Bild der Materie; im Experiment durchlebten sie selbst die Phasen der Auflösung, Läuterung, Reifung und Vollendung - oder strebten es wenigstens an.
Diese Einsicht in die untrennbaren Einheit von Innerer und Äußerer Welt wurde auch außerhalb Europas gemacht. So schrieb der einflußreiche Zen-Meister Dogen Zenji in der ersten Hälfte des 13. Jhd. „Da ist keine Kluft zwischen dem Spirituellen und dem Weltlichen.“
Und schließlich, um wieder in der Gegenwart anzukommen. entdeckte die moderne Physik das vom Beobachter erschaffene Universum, in dem sich innere und äußere Wirklichkeit in vollständiger Kongruenz decken.

Kehren wir nun zurück zu dem Ratschlag, den Matthias Claudius seinem Sohn gab, und werfen wir einen entsprechenden Blick auf unser akutes Lebensumfeld und die Strategien, die sich die Menschen angeeignet haben, um damit umzugehen:

Der Mensch ist heute umschlossen von einem immer dichter werdenden Informationsgeflecht und immer aggressiver werdenden Appellen an seine Aufmerksamkeit, die Informationsmedien über uns ausgeschüttet, die sich selbst in einer rasanten Evolution befinden. Diese Flut von Informationseinheiten, dieses moderne „Geräusch auf der Gassen“ der Äußeren Welt kann massiv auf unsere Wahrnehmung einwirken.

Zum einen manipulieren die Medien selbst unsere Wahrnehmungsgewohnheiten. Den Ursprung dieser Entwicklung sieht Marshall McLuhan in der Erfindung des Buchstabens (Die Gutenberg-Galaxis: Die Letter, 1962), dessen Effekt mit der Erfindung des Buchdrucks flächendeckend wirksam wurde und den visuellen Sinn auf Kosten der anderen Sinne in den kulturellen Mittelpunkt stellt. „Wenn sich die Verhältnisse der Sinne in irgendeiner Kultur ändern, wird das, was vorher klar war trüb werden, und was unklar oder trüb war wird durchsichtig werden.“

Zum anderen reagiert der post-industrielle Mensch mit einer verstärkten Filterung von Information. Er blendet alles, was ihm irrelevant erscheint, aus seinem Wahrnehmungskontinuum aus, um sich auf das zu konzentrieren, was ihm, laut dem lokal gültigen sozialen Konsens und der aktuellen Ideologie der „Selbst-Optimierung“ als nützlich erscheint. Er trennt strikt zwischen einer äußeren öffentlichen Welt und einer privaten inneren Welt, die rigoros nach außen abgeschirmt wird.
Je mehr Eindrücke den Menschen bedrängen, desto rigoroser werden diese Filtermechanismen. Da es in der Großstadt, nahezu unmöglich geworden ist, dem äußeren „Geräusch in der Gassen“ auszuweichen, flüchtet der post-industrielle Mensch in der Regel in eine pseudo-private, virtuelle Wirklichkeit, gegenwärtig meist mit Hilfe eines Smartphones. (Die Inversion des Öffentlichen und Privaten, die sich den Grenzen dieser virtuellen Wirklichkeit stattfindet, sei hier zugunsten eines konventionellen Verständnisses von akut öffentlichem und akut privatem Handeln ausgespart.)
Wie ehemals die Schrift andere Sinne und Wahrnehmungsmuster verdrängt hat, so verdrängt auch der Bildschirm mit seiner deutlich stärkeren Immersion andere sinnliche Eindrücke.

An diesem Punkt kommen wir nun auf das mißverstandene Claudius-Zitat zurück: Auf die Aufforderung, sich dem „Geräusch“ zuzuwenden, die Filtermechanismen auszuschalten, mit denen man sich von dem akut Gegenwärtigen abschottet.
Hier wird auch die Ermahnung aus dem Thomas-Evangelium in einem umgekehrten und profanen Sinne bedeutsam: Wer nur nach innen blickt, aber nicht nach außen, „verfehlt das Ganze“.
Im Buddhismus wird diese Haltung, die sich dem Äußeren wie dem Inneren gleichermaßen zuwendet, mit dem Begriff der Achtsamkeit bezeichnet.
Wirft man also den Konsens mit seinen Schemata der Rezeption über Bord und öffnet sich vorurteilsfrei den Ereignissen der Äußeren Welt, wird im Vollzug bewußter Wahrnehmung ein neues Sehen und neues Hören, ein neues Erkennen der Welt möglich. So kann das „Geräusch“ zu einem bedeutsamen Ereignis werden - oder sogar zu Musik.

Dieser Prozess einer Wahrnehmung, die die Grenzen des Konsens transzendiert und sich der ausgeblendeten Kulisse und dem „weißen Rauschen“ öffnet, spielt eine zentrale Rolle in den Arbeiten von Sylvia Schultes. Denn dieses weiße Rauschen, ob visuell oder auditiv, enthält alle Klänge und Farben, alle Details, die sich aus der Kulisse lösen können, sobald man seine Aufmerksamkeit auf sie richtet.

Doch nicht nur unerwartete Details können aus einem scheinbaren Durcheinander hervorgehen, genauso kann ein „statistischer Blick“, der auch das üblicherweise Ausgeblendete wahrnimmt, Verdichtungen und Interferenzen erkennen, die einen größeren Zusammenhang, eine größere Bewegung erahnen lassen, die verborgen geblieben wäre, wenn man nicht den Blick vorurteilsfrei nach außen gerichtet hätte.

In ihren Aquarellen arbeitet Sylvia Schultes mit Rastern und anderen linearen Strukturen, die keine Anlehnung an gegenständliche Kontexte haben. Sie können gelesen werden das genannte ungefilterte Gewebe einer Wirklichkeit, auf das der Betrachter seine Sinne vorurteilsfrei richten soll.

Sylvia Schultes, Sonarlinien, 2015

In den Bildern der gegenwärtigen Ausstellung sind es Strukturen, die an Klangwellen und deren Interferenzen erinnern. In ihrem zusammenhangslos erscheinenden Verlauf verdichten sie sich, scheinen sich zu verfestigen und Zusammenhänge zu bilden, die auf die oben genannten, größeren Bewegungen schließen lassen.
Da jede einzelne Linie als solche zu erkennen ist, die strukturellen Elemente weder in einem Mikrobereich zu etwas Einheitlichem verschmelzen, noch so sehr in den Makrobereich hervorgeholt werden, daß sie eigenständige Entitäten bilden, kann der Betrachter den Prozess, in dem sich die Vielheit zu einer Einheit zusammenfügt oder umgekehrt aus der Einheit eine Vielheit hervorgeht, unmittelbar nachvollziehen.

Die bewußte Anlehnung an Echogramme, die visualisierten Informationen von Sonar-Messungen, verweist zudem auf den Vorgang des Abtastens einer äußeren Wirklichkeit sowie ihre auditiven Aspekte, auf die Geräusche, die uns umgeben, ganz im Sinne Marshall McLuhans, nach dem es vor allem das Auditive ist, das in einer visuellen Welt verdrängt wird.

Sylvia Schultes, Sonarlinien, 2015

In der Installation „Spurensichtung“ wird der durch zwei Weitwinkel-Linsen gezielt gelenkte und durch den Fresnel-Effekt verfremdete Blick wie durch zwei Pupillen auf etwas in der äußeren Welt gelenkt, das wir in unserem alltäglichen Vollzug der Wahrnehmungsroutinen in der Regel ausblenden: auf den Un-Ort B-75, eine Straße, die nach dem sozialen Konsens als Objekt ästhetischer Betrachtung für irrelevant gilt und entsprechend unseren Filtermechanismen zum Opfer fällt. 

Sylvia Schultes, Spurensichtung, 2015

 Doch was geschieht, wenn wir dieses Wahrnehmungsschema durchbrechen und unsere Aufmerksamkeit gezielt darauf richten?
Auch hier können plötzlich überraschende Details hervortreten, sich aus der visuellen Kulisse lösen, genauso wie in dem Zusammenwirken aller Details Hinweise auf größere Zusammenhänge und Bewegungen herausgelesen werden können: Die rhythmischen Schübe des Verkehrsflusses, sich wiederholende Handlungsabläufe von Passanten, die auf Dinge oder Ereignisse außerhalb unseres Sichtfeldes oder Gehörkreises schließen lassen, Orte, die von Hunden mit erhöhter statistischer Dichte aufgesucht werden und darauf verweisen, daß sich direkt unter unserer Nase Informationsnetze ausbreiten, die unsere Sinne außerstande sind zu erfassen.

Sylvia Schultes, Spurensichtung, 2015

Dieser bewußt gelenkte Blick in das sonst ausgeblendete Profane erhält ein Gegengewicht durch die dazugehörige Klanginstallation „UnterTon“. Die seltsam unirdischen, tiefen Drones und hellen Impulse, die an Echopeilung erinnern, werden - besonders durch das Tragen von Kopfhörern - in einen Kontext der Inneren Welt gebracht. Sie können gedeutet werden, als die unterbewußten Resonanzen, als die inneren Ereignis diesseits der Pupille, die ihren Abgleich mit den Ereignissen in der Außenwelt suchen.

Denn schließlich müssen der Innere und der Äußere Weg der Erkenntnis sich in dem Gegenstand ihrer Betrachtung und dem Ziel ihrer Suche berühren: in dem, was ist.

Ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2015










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