(veröffentlicht im ArtZine "Same Same No.5", April 2025)
Die künstlerischen Positionen von Elizaveta Ostapenko und Gerald Cohrs scheinen auf den ersten Blick nur wenig miteinander gemein zu haben, ebenso unterschiedlich muten ihre Werkprozesse zunächst an. Betrachtet man sie jedoch im Detail, werden eine ganze Reihe von Übereinstimmungen sichtbar.
Zunächst ist beiden ein mehrstufiger Arbeitsprozess eigen, in dem verschiedene Techniken und Bildtransfers zum Einsatz kommen. Beide gehen aus von der Fotografie, die meist im Stadtraum entsteht. Ostapenko überträgt die Bilder in Malerei oder bearbeitet die Abzüge mit Übermalungen. Die so entstandenen Bilder werden manchmal Ausganspunkt für skulpturale Arbeiten, die als Bildmotive schließlich auch wieder in die Malerei überführt werden können. Cohrs hingegen überträgt seine Fotografien, die er meist mit abgelaufenem Polaroidmaterial macht, in Drucke.
Eine weitere Gemeinsamkeit der Arbeiten ist der selektive Blickt. In dem Werk von Elizaveta Ostapenko sind es vor allem die großflächigen monochromen Übermalungen, durch die die ausgesparten Fragmente inszeniert werden. Gerald Cohrs nutzt vor allem die zufälligen, aber bewusst eingebundenen Materialfehler, von denen das Motiv teilweise, und manchmal sogar ganz, ausgelöscht wird. Andererseits wird der Blick gelenkt durch den gezielten Einsatz eingeschränkter Tiefenschärfe. Durch diese Eingriffe wird die Konstruktion unserer Wahrnehmung sichtbar gemacht und in Frage gestellt - diese Konstruktion unserer visuellen Wirklichkeit, die permanent vorgenommen wird, die selbst aber durch die Allgegenwart der Zurschaustellung eines vorgeblich authentischen Alltags in den sozialen Medien völlig aus dem Bild verschwunden ist.
Dadurch geben Ostapenko und Cohrs auch die vermeintliche Objektivität der Fotografie auf zugunsten einer selbstbewussten Subjektivität des Blicks.
Elizaveta Ostapenko bedient sich auch des Mittels der Sammlung. Bei der Auswahl für konkrete Umsetzungen greift sie zurück auf einen großen Fundus an Bildern, die sich mitunter selbst zu Motivgruppen zu ordnen scheinen. Aus dieser Sammlung werden identitätsstiftende Motive herausgefiltert, wie z.B. eine Serie von Türmen, die ihr während ihres Studiums in Berlin als psychogeographische Orientierungspunkte gedient haben.
Die fragmentarischen Aussparungen auf den übermalten Bildern zeigen oft ephemere Dinge z.B. Müll, Dinge, die sich im Verfall befinden, oder Ensembles, die nur von kurzer Lebensdauer oder Ortsfestigkeit sind, wie Konfigurationen von Absperrbänder oder Verkehrshütchen. Dadurch wird das Thema des Übergangszustandes und der Vergänglichkeit einer nur vermeintlich stabilen Welt in Szene gesetzt.
Indem die Fragmente durch die Farbfelder isoliert und hervorgehoben werden, gewinnt man zugleich den Eindruck einer unmittelbaren Gegenwärtigkeit der einzelnen Wahrnehmung, so als wenn man einen Gegenstand im Vorbeigehen kurz und scharf fokussiert, und dann das Bild wie eingefroren im Gedächtnis behält, auch wenn man weiß, es ist nur ein Schnappschuss aus einer sich stetig wandelnden Welt.
Auch im Werk von Gerald Cohrs spielt die Zeit eine wichtige Rolle - und das auf verschiedenen Ebenen. Zunächst benutzt Cohrs analoges Material, das jedoch schon längst abgelaufen ist, also „seine Zeit hinter sich hat“. Vor allem bei den Polaroids führt das zu den genannten Verfremdungseffekten und Auslöschungen.
Die Motive sind meist alte Bauwerke, Gebäude, die ihre Funktion eingebüßt haben, wie z.B. Fernsehtürme, oder Häuser kurz vor ihrem Abriss. Die so entstehenden Bilder wirken wie Erinnerungen, die mit der Zeit überschrieben worden oder erodiert sind, womit die ewige Gegenwart der Dokumentation konterkariert wird.
Durch das Material ist Cohrs Arbeitsweise, im Vergleich zur heutigen Digitalfotografie, zudem ausgesprochen entschleunigt. Sie bringt sowohl lange Wartezeiten als auch Überraschungen mit sich, die nicht im Handumdrehen ungeschehen gemacht werden können durch unbegrenzt wiederbare Ablichtung des gleichen Motivs. Gleichzeitig bringen die Alterungserscheinungen des Materials mit sich, dass der Prozess der Bildentstehung Spuren hinterlässt. Es wird also etwas sichtbar gemacht, was man sonst nicht sehen kann: Während das Motiv nur bedingt abgebildet wird, wird durch die Evidenz der technischen Bildgenese eben diese dokumentiert. Es entsteht eine Art Meta-Fotografie, die sich deutlich absetzt von der allgegenwärtigen Digitalfotografie und deren ausgeblendetem Kontext, der durch diese Gegenposition zugleich ins Bewusstsein gerückt wird.
Beide, Elizaveta Ostapenko und Gerald Cohrs, suchen ihre Motive jeweils im öffentlichen Raum, der auch immer ein politischer Raum ist. Sie bilden Gebäude ab, die aus stadtplanerischen Gründen umstritten sind; Türme, die, bis auf seltene Ausnahmen, immer auch Herrschaftszeichen sind, oder eine wichtige Funktion innerhalb von Herrschaftsstrukturen haben; Ephemeres, das als Kollateralschaden sozio-ökonomischer Machtstrukturen gelesen werden kann, oder Motive wie Landschaften, zusammengesetzt aus Fragmenten chinesischer Containerschiffe, die von globaler Handelsmacht zeugen. So widersetzen sich ihre Perspektiven auf unsere urbanen Kontexte nicht nur formal dem visuellen Mainstream, sondern bringen die widerspenstigen Pfade von Bildgenese und sichtbar gemachter Konstruktion zusammen mit Bildinhalten, die durch diese Art der Inszenierung kritisch kommentiert werden.
© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, April 2025