Ein Phänomen, das allen Menschen bekannt ist, aber in der Regel weitgehend aus unserem Alltag verdrängt wird, ist die Pareidolie. Damit bezeichnet man den Vorgang in amorphen Dingen wie Wolken, Felsen oder Flecken, vertraute Formen zu erkennen, zumeist Gesichter oder Tiere.
Diese Neigung hat evolutionäre Ursachen. Unser Gehirn verdichtet wiederholte Wahrnehmungen zu Mustern, die dazu dienen, die Gegenstände und Lebewesen in unserer Umwelt so schnell wie möglich zu identifizieren, vor allem um mögliche Gefahrenquellen auszumachen. Entsprechend bevorzugt es unser Gehirn, etwas zu erkennen, auch wenn nichts da ist, anstatt etwas zu übersehen, das eine potenzielle Gefahr sein könnte. Je schneller wir uns ein Bild machen können, desto schneller können wir reagieren.
Doch dieses Verhalten beschränkt sich nicht nur auf optische Reize. In der Pareidolie zeigt sich vielmehr eine generelle Strategie unserer Wahrnehmungsprozesse.
Jedes Mal wenn wir etwas erleben, gleichen wir es ab mit bereits gemachten Erfahrungen. Sobald sie zur Deckung gebracht werden können, beginnen wir die Erfahrung zu einem Muster zu verdichten. Und je öfter dieses Muster bestätigt wird, desto stabiler wird es. Das ist der Grund, warum wir in Wolken oder Teppichmustern meist Gesichter sehen, denn Gesichter sind das visuelle Muster, das wir wohl am häufigsten abrufen.
Dass dieses Phänomen universell ist, wird z.B. durch die Art bestätigt, wie wir anderen Menschen begegnen. Auch hier rufen wir aus unserer Erfahrung Muster ab, mit denen wir versuchen, das Verhalten von uns unbekannten Personen vorherzusagen. Wir bilden unsere eigenen Typologien von Verhaltensweisen und Menschen. Teilen wir sie anderen mit, vollzieht sich die Überlagerung und Musterbildung erneut in der Kommunikation, die in gültigen Verallgemeinerungen, aber auch in Klischees und Vorurteilen enden kann.
Eine zunächst positive Strategie der Erkenntnis kann sich also schließlich in ihr Gegenteil verkehren und die kognitiven Muster können, anstatt zu helfen die Wirklichkeit schnell zu erfassen, die Wirklichkeit derart überlagern, dass sie eine unvoreingenommene Wahrnehmung verhindern.
Kehren wir aber zurück zu den evolutionären Wurzeln dieses Phänomens der Musterbildung, das uns helfen soll, Gefahren schnell zu erfassen. Denn wir können daraus auch einen anderen Aspekt der menschlichen Befindlichkeit ableiten: Wenn wir glauben, etwas klar erkennen zu können, fühlen wir uns sicher. Mit zunehmender Undeutlichkeit hingegen steigt unser Unsicherheitsgefühl. Das wiederum bestätigt eine praktische Regel der Narratologie: Spannend oder bedrohlich ist nicht das, was man weiß, und auch nicht das, von dem man keine Kenntnis hat, sondern das, was man erahnen kann. Es ist nicht die Dunkelheit an sich, die uns Angst macht, sondern vielmehr das, was in der Dunkelheit verborgen sein könnte.
Generell gilt: Sobald wir in unklare Situationen geraten, fühlen wir uns unsicher; Ambivalenz verunsichert uns ebenso sehr wie eine Zukunft, die nicht klar vorgezeichnet ist, sondern im Dunkeln liegt. Dieser Sachverhalt schlägt sich auch nieder in den metaphorischen Begriffen, die wir bilden. Wir sprechen vom Licht der Vernunft, wir bringen Licht in unklare Sachverhalte oder wir können jemanden hinters Licht führen. Zudem sind alle religiösen Heilsvorstellung auf das engste mit Lichtmetaphern verbunden.
Die Dunkelheit andererseits steht für Bedrohung und Tod. Menschen können geistig umnachtet sein, bei offenen Gerichtsprozessen besteht Verdunkelungsgefahr und im antiken Griechenland ging man nach dem Tod ins Schattenreich ein.
Hier wird bereits mehr als deutlich, dass die Menschen dazu neigen, die unfassliche ambivalente Gesamtheit der Wirklichkeit mit Hilfe von Polaritäten für sich zu ordnen: Licht und Dunkelheit, Ordnung und Chaos, Gut und Böse.
Die Geschichte wiederum zeigt uns, dass das Verlangen, die Welt nach klar benennbaren Polaritäten zu ordnen, stärker wird, je verunsicherter die Menschen werden. Die derzeitige Entwicklung der politische Weltlage spricht in diesem Zusammenhang für sich selbst. Je unsicherer die Situation, desto stärker werden polarisierende Muster in die Ambivalenz der Welt projiziert und verhindern eine unvoreingenommene Wahrnehmung derselben.
Natürlich begegnet uns auch in der Kunst der Versuch, Muster aus der Welt herauszulesen und sie in visuelle Medien zu übersetzen. Das gilt für die gegenständliche genauso wie für fast alle abstrakte Kunst. Auch bei der Écriture automatique geht es um das Aufdecken von Mustern, die im Unbewussten verborgenen sind, und selbst die Action- und Drip-Paintings von Jackson Pollock, die sich für das Phänomen der Pareidolie geradezu aufdrängen, sollten den Gestus und Körperrhythmus des Künstlers abbilden, also ebenfalls ein Muster kenntlich machen.
Peter Schindler hingegen unternimmt in seinen neuen Arbeiten den Versuch, sich soweit wie möglich von jeder Gestaltungsabsicht zu lösen und mit seiner Malerei lediglich ein visuelles Substrat auf die Leinwand zu bringen, dass gezielt pareidolische Effekte provozieren soll, in dem es sich aller Eindeutigkeit entzieht.
Vor der Entstehung eines jeden Bildes steht jedoch die extreme Polarität von weißer Leinwand und dunkelstem Grau. Doch in der Art und Weise wie sie zusammengebracht werden, versucht Schindler bewusst weder augenscheinliche Strukturen mit Hell-Dunkel-Kontrasten zu erzeugen, noch eine bestimmte Komposition zu entwickeln. In dünn aufgetragenen, mitunter nur lasierenden Lagen und reduziertem Duktus werden die Leinwände vollständig bemalt, dabei entstehen dunkle, wolkige Strukturen verschiedenster Abtönung, ein schattenhaftes, amorphes Proto-Plasma aus dem vielfältigen Zusammenspiel von Schwarz und Weiß. Groß steht es uns gegenüber, ballt sich langsam zu uns vertrauten Formen, und bei längerer Betrachtung scheinen sogar Farben daraus hervorzutreten.
Die potenzielle Illusion eines Bildraum, der sich durch die fließenden Helligkeiten und den sichtbaren Pinselduktus aufdrängt, wird durch herabfließende Tropfen und andere Zufallsspuren gebrochen, wodurch Farbe und Bild ganz konkret als das hervortreten, was sie sind. Die von den Betrachter*innen unterstellte Absicht der Erzeugung einer Bildillusion wird dadurch unterwandert.
So werden wir einerseits dazu angeregt, in einen pareidolischen Prozess einzutreten und Dinge in die Bilder hinein zu sehen oder zu deuten, andererseits werden wir durch ihre konkret gemachte Oberfläche und die als Illusion erkannte Projektion von Farben in das farblose Grau-Spektrum darauf verwiesen, dass nur wir es sind, die versuchen einer verunsichernden Ambivalenz zu begegnen, indem wir eine Bedeutung generieren, die aber nicht im Bild angelegt ist.
Die Wahl der Farbe bzw. „Unfarbe“ Anthrazit ist dabei eine bewusste Setzung, die uns zu dem Kern der ursprünglichen Verunsicherung führt, nämlich zur Dunkelheit, in der unser Überlebensinstinkt versucht, mögliche Gefahren auszumachen.
Auch korrespondiert der Grad der Dunkelheit mit dem Moment der Dämmerung, in dem das Licht soweit gewichen ist, dass wir nur noch schwarz-weiß sehen können, um die jeweiligen Farben nur noch wissen und sie in das kaum noch Gesehene an der Schwelle zur vollständigen Finsternis hineindenken.
Bezüglich der amorphen Struktur der Grautöne drängen sich auch andere Assoziationen auf, die selbst bis zu einem gewissen Grad in dem Bereich Ambivalenz verharren: Sie erinnern uns an Qualm oder Gewitterwolken, beides sowohl bedrohliche Erscheinungen als auch selbst willkommene Matrizen für pareidolische Projektion.
Mit der bedrohlichen Ambivalenz und Dunkelheit korrespondiert auch das Format der Bilder. Zwar haben sie Proportionen, die am menschlichen Körper orientiert sind, doch sind sie eben um ein Stückchen zu groß und ragen ein wenig zu sehr über die menschlichen Dimensionen heraus. Wenn wir also etwas in der Dunkelheit auf ihnen erahnen, ist es sehr wahrscheinlich größer als wir und wirkt deshalb bedrohlicher.
Eine drastische, aber ebenfalls zulässige Interpretation von Größe und Format wäre, sie mit der Gestalt eines Grabes zu vergleichen. Damit wäre verwiesen auf die größte und unfassbarste Ungewissheit, die die Menschheit seit jeher verfolgt und antreibt: Den Tod.
Doch ist es nicht die Aufgabe der Bilder, uns zu einem bestimmten Bedeutungszusammenhang zu führen, da, wie bereits erwähnt, jede Gestaltungsabsicht vermieden werden soll. Vielmehr wird ein Rahmen geschaffen, der uns hilft die Angst und das Unbehagen, das wir angesichts von Ambivalenz und Dunkelheit empfinden, zu objektivieren und zu überwinden, in dem wir die Ambivalenz auch als Möglichkeit erkennen, konkret zu erleben, wie wir der Wirklichkeit aktiv mit unseren inneren Bildern begegnen - und das ohne befangen zu sein in einem System von Symbolen, gesellschaftlichen Übereinkünften oder Klischees, die sich mitteilen oder sich uns aufzwängen wollen.
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt Peter Schindler in einer Serie von kleinformatigen Bildern. Ihnen gehen zahlreiche nächtliche Waldspaziergänge in weitgehender Dunkelheit und Depravation des visuellen Sinns voraus. Die dabei erlebten Wahrnehmungsereignisse sind wiederum pareidolische Projektionen. Sie werden ergänzt durch die uferlosen Geräuschen des Nachtwaldes und deren synästhetische Verarbeitung. Das, was in das Dunkel hineingesehen wird, wird also zusammengebracht mit dem, was die visuelle Vorstellungskraft aus den Umgebungsgeräuschen hervorbringt. Die Muster aus dieser Überlagerung hat Peter Schindler anschließend in die Bilder übertragen, die sich aber jeder Wiedererkennung entziehen, da sie nur einen vagen Eindruck von dem wiedergeben, was von einem spontan sich bildenden, vielschichtigen Wahrnehmungsgewebe in Erinnerung geblieben ist.
Außer dem Verweis auf synästhetische und pareidolische Effekte, bieten sie keine weiteren Anhaltspunkte, die sie der Ambivalenz entziehen könnten. Wiederum sind wir es, die wir mit unserem entsprechenden Verlangen nach Eindeutigkeit und unserer Neigung zur Überformung des Ungestalteten konfrontiert werden.
Auf einer dritten Bildergruppe tritt ein anderes Element hinzu, das sich der Verweigerung einer Gestaltungsabsicht bis zu einem gewissen Grad widersetzt:
Auf großen Formaten, die den anthropomorphen Bezugsrahmen wieder verlassen haben, erstrecken sich chaotische Liniengeflechte, schwarz auf dunkelgrau, darüber feine Gespinnste und Flecken von Graphit. Trotz der ersten Anmutung handelt es sich aber nicht um Écriture automatique oder Neurographische Zeichnungen. Den Liniennetzen liegen reale Vorbilder zugrunde, Dinge, die vom Menschen konstruiert worden sind, um feste Struktur und physiche Sicherheit zu gewährleisten: Es sind Bewehrungen von Stahlbeton, die bei Abrissen wieder aus ihrer Ummantelung herausgeschlagen worden sind.
Im Englischen heißt Beton concrete, das wie das deutsche Wort konkret, auf das lateinische Verb concrēscere zurückgeht, mit der Bedeutung: zusammenwachsen, sich verdichten, gerinnen, verhärten.
Wir sehen also etwas, das zur Stabilität unserer Lebenswirklichkeit verdichtet, geronnen und verhärtet ist, das sich nun aber in einem Auflösungsprozess befindet, in der Dekonstruktion. Es wird in einen chaotischen amorphen Zustand zurückgeführt und verliert dadurch die Form, die den von uns gespeicherten und wiedererkennbaren Mustern entspricht. Es will nicht erkannt sein, sondern fordert uns statt dessen wiederum ab, etwas Neues darin zu suchen, mittels unserer kreativen Wahrnehmung etwas Neues aus der Ambivalenz zu erschaffen.
Vielleicht können wir daraus sogar die Aufforderung lesen, unsere verhärteten Wahrnehmungsroutinen zu durchbrechen, um sie angesichts einer dann wieder unvoreingenommen rezipierten Wirklichkeit neu aufzubauen, ohne Angst vor ihrer Ambivalenz zu haben.
Doch auch diese Interpretation meinerseits bleibt nur eine Antwort, die ich auf die Fragen gebe, die uns die Bilder stellen. Und schließlich müssen wir, jede und jeder für sich, selbst die uns befragende Ambivalenz der Bilder beantworten.
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Juni 2025
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Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
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Montag, 9. Juni 2025
Befragung durch die Dunkelheit - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung "It's time for..." von Peter Schindler
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