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Sonntag, 22. Mai 2011

Die Überarbeitung literarischer Figuren und ihrer charakterlichen Kontinuität

Es wird oft davon gesprochen, daß sich literarische Figuren während der Entstehung eines Textes verselbständigen und anfangen, ein Eigenleben zu führen. Sie tun plötzlich Dinge, mit denen ihre Schöpfer nicht gerechnet haben. Das ist leider - und zum Glück! - sehr wahr.

Im Laufe des Schreibprozesses, vor allem in Plot-orientierten Geschichten, kommt es häufig vor, daß sich die Figuren unmerklich verändern. Der Autor lernt seine Figuren meist erst während des Schreibens richtig kennen. Er hat zunächst nur eine vage Vorstellung von ihnen. Ihren wahren Charakter zeigen sie erst, wenn sie in Aktion treten und mit Situationen konfrontiert werden, in denen sie kohärent und überzeugend agieren müssen.
Das kann durchaus positiv sein, wenn sie im Laufe der Geschichte z.B. kraftvolle und „publikumswirksame“ Charakterzüge entwickeln, die zu Beginn des Textes nur undeutlich angelegt waren.
Die Figur (und mit ihr der ganze Text!) kann aber auch erheblichen Schaden nehmen, wenn sich im Laufe der Handlung zu viele unterschiedliche Charakterzüge zeigen oder sich zu viele Einfälle für ihre Vorgeschichte eingeschlichen haben. Die Figuren wirken dann verschwommen und uneinheitlich. 
Oft sind Geschichten auch so konzipiert, daß wichtige Charakterzüge erst spät im Handlungsverlauf zum Tragen kommen, die Figur bis dahin jedoch schon eine ganz andere, ebenfalls interessante, aber gegenläufige Entwicklung durchgemacht hat.

Für eine Revision der Figuren und ihrer charakterlichen Konstanz ist es wichtig, daß man zunächst einen gesunden Abstand zu dem eigenen Text bekommt. Man sollte ihn wenigstens drei Monate in der Schublade liegen lassen. Dieser oft gegebene Ratschlag hat im Falle der Charakterrevision folgenden sinnvollen Effekt: Das menschliche Gedächtnis hat die Eigenschaft, Vorgänge und Zusammenhänge in der Erinnerung zu kohärenten Muster zu vereinfachen. Auch literarische Charaktere werden auf diese Weise schematisiert und auf ihre markantesten und bedeutendsten Wesenszüge reduziert.
Beginnt man also mit der Revision einer Figur, sollte man zunächst aus der Erinnerung die wichtigsten Eckwerte festlegen. Das sind:

1. Die herausragende positive Eigenschaft
2. Die markanteste Schwäche
3. Eine charakterliche Besonderheit (optional)
4. Eine Marotte (optional)


1. Die herausragende positive Eigenschaft

Die herausragende positive Eigenschaft trägt den Charakter. Sie sollte das Bild des Protagonisten von der ersten Seite an prägen! Gemeint ist damit eine charakterliche Stärke wie z.B. Tatkraft, Einfühlsamkeit, Hilfsbereitschaft, Mut, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Uneigennützigkeit, Herzensgüte, Unrechtsbewußtsein,  Verantwortungsgefühl, Gutmütigkeit, Loyalität, Gewissenhaftigkeit etc.
Die herausragende positive Eigenschaft muß Sympathie für den Protagonisten hervorrufen und  dadurch die Identifikation mit ihm erleichtern. Außerdem sollte sie, unabhängig von dem Plot der Geschichte, der maßgebliche Handlungsimpuls der Figur sein.

Bei der Überarbeitung einer Figur sollte man sich folgende Fragen zu der herausragenden positiven Eigenschaft stellen:

Wird die herausragende positive Eigenschaft früh genug und deutlich genug eingeführt?
Blitzt sie in jeder Szene der Figur auf?
Motiviert sie das Handeln der Figur durchgehend und maßgeblich?


2. Die markanteste Schwäche

Die markanteste Schwäche sollte bestenfalls die Kehrseite der herausragenden positiven Eigenschaft sein. Der Widerpart von Tatkraft kann Aktionismus sein, Mut kann in eitle Tollkühnheit umschlagen, Unrechtsbewußtsein kann in Rachsucht münden, Gewissenhaftigkeit kann mit Pedanterie einhergehen, Zuverlässigkeit kann sich zu Halsstarrigkeit wandeln, Aufrichtigkeit geht oft Hand in Hand mit Naivität und von Umsichtigkeit zu Feigheit ist es nur ein kleiner Schritt.
In jedem Fall muß die Schwäche aber eine organische Verbindung mit der positiven Eigenschaft eingehen! Eine Figur, die von großer Entschlußkraft und von Tatendrang geprägt ist, gleichzeitig aber opportunistisch agiert, ist unglaubwürdig. Ein Idealist, der mit einem starken Unrechtsbewußtsein ausgestattet ist, aber bei jeder kleinen Gelegenheit lügt, daß sich die Balken biegen, funktioniert nicht als Figur, es sei denn, er ist schizoid.
Bei Protagonisten und anderen positiv besetzten Figuren sollte man darauf achten, daß sich die markante Schwäche nicht zu früh zeigt. Sie sollte einer anfänglichen Identifikation nicht im Wege stehen und der Figur erst nach einer Weile mehr Tiefe und Konfliktpotenzial geben.
Die markanteste Schwäche sollte dementsprechend auch eine zentrale Rolle im persönlichen Konflikt der Figur spielen. Sie sollte zu einer langfristigen Eskalation führen und im Kleinen immer wieder dazu beitragen, angespannte und kritische Situationen und Konfrontationen zu verursachen oder zu verschärfen.

Bei der Überarbeitung sollte man sich folgende Fragen zu der markanten Schwäche stellen:

Tritt die markante Schwäche zu einem geeigneten Zeitpunkt auf?
Wird ihr Konfliktpotenzial deutlich genug?
Wird das Konfliktpotenzial der Schwäche dramaturgisch auch wirklich ausgenutzt?


3. Eine charakterliche Besonderheit

Besonderheiten und ungewöhnliche Aspekte können Figuren farbiger machen. Es kann sich dabei um eine ungewöhnliche Vorliebe, eine Abneigung, eine ärgerliche Angewohnheit, eine Krankheit, eine besondere Lebenssituation oder ähnliches handeln. Die charakterliche Besonderheit wird vor allem in Krimis überdeutlich genutzt, um die Ermittler interessant und lebendig zu gestalten. Fast kein Kommissar oder Detektiv, der nicht gerade aufhört zu rauchen, spielsüchtig ist, in Scheidung lebt, ein absonderliches Hobby oder eine skurrile Phobie hat... Hier droht jedoch die Gefahr, daß man zugunsten dieser publikumswirksamen Kennzeichen den eigentlichen Charakter vernachlässigt.
Die Besonderheit sollte gut auf die zentralen positiven und negativen Eigenschaften abgestimmt sein. Sie sollte sich nie zu sehr in den Vordergrund drängen. Manchmal können verschiedene Besonderheiten nebeneinander bestehen, man sollte sich aber niemals in einem unübersichtlichen Netz aus Skurrilitäten verstricken!

Folgende Fragen sind bei einer Überarbeitung zu beachten:

Ist die charakterliche Besonderheit wenigstens einmal mit der Handlung verflochten? Provoziert oder verschärft sie einen Konflikt, leitet sie eine dramaturgisch kluge Verzögerung oder Ablenkung ein oder führt sie eine unvorhergesehene Wendung herbei?
Überlagert sie zu keinem Zeitpunkt die Hauptmerkmale der Figuren? Oder drängt sie sich zu sehr in den Vordergrund?


4. Eine Marotte (optional) 

Die Marotte dient vor allem dazu, eine Figur durch markante Signale schneller gegenwärtig zu machen und zu visualisieren oder durch einen unauffälligen Fingerzeig auf bestimmte Charakterzüge zu verweisen.
Eine Marotte kann z.B. eine nervöse Angewohnheit sein, wie das Kauen auf den Fingernägeln, das Zupfen an der Unterlippe, das Saugen am Schnurrbart oder stetes Räuspern. Eine Marotte kann auch eine auffällige Mimik, ein schiefes Grinsen, Augenbrauensträuben oder auch eine bestimmte Art zu reden sein, ein bestimmter Jargon, auffällige Auslassungen, doppelte Verneinungen, Füllwörter etc.

Hat man Marotten eingesetzt, sollte man bei der Überarbeitung auf folgende Aspekte achten:

Ist die Marotte früh und deutlich eingeführt?
Wird sie lediglich an Stellen eingesetzt, wo der bezweckte Effekt erwünscht ist?
Hat keine andere Figur die gleiche Marotte? Wenn eine Figur sich bei Anspannung an die Nase fäßt, darf keine andere Figur im Text sich an die Nase fassen! Wenn jemand hüstelt oder sich immer wieder räuspert, darf es keine andere hüstelnde Figur geben!


Ganz allgemein gilt für die Revision von Charakteren und ihrer Konstanz, daß die Eigenschaften, Besonderheiten und Marotten in allen Situationen, in denen sie von den Gegebenheiten abverlangt werden, auch tatsächlich in Erscheinung treten!
Wenn z.B. eine Figur Höhenangst hat, muß sie sich immer fürchten, wenn sie großer Höhe ausgesetzt ist, nicht nur, wenn es gerade dramaturgisch paßt! Denn oft geschieht es, daß sich gerade solche Eigenheiten erst im Laufe eines Textes ergeben und der Autor nicht bedenkt, die Figuren auch im vorangegangen Text entsprechend agieren zu lassen.

Besonders wenn man das Gefühl hat, einzelne Figuren werden im Laufe eines Textes immer wieder undeutlich, sollte man ihre charakterliche „Checkliste“ vor jeder Szene, in der sie auftreten, noch einmal durchgehen, bevor man sich an die Arbeit macht.