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Dienstag, 17. Mai 2016

Zwischen den Welten - Eröffnungsrede zu der Ausstellung "Rahel Bruns: Wagentourette" im Einstellungsraum, Mai 2016, von Dr. Thomas Piesbergen

Eine Ausstellung zum Jahresthema "Speichern. Akkumulieren"

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

In der Geschichte der Wissenschaft, Philosophie und Religion wurde der Mensch immer wieder dargestellt als gefangen in einer Zwischenwelt, einem Bereich der Transition oder selbst in einem Übergang befindlich.

So entwarf z.B. Thomas von Aquin in der Mitte des 13. Jhd. in seinem Werk Über die Einheit des Geistes ein Menschenbild, das ihn als ein Wesen begreift, das sich abmüht, von einem tierischen Zustand in einen engelsgleichen überzugehen, sich aber erst auf halben Wege dahin befindet - ein Paradigma, das sich bis in die Neuzeit hartnäckig behauptet hat, und z.B. bei Friedrich Nietzsche in nahezu unveränderter Form wieder auftaucht: "Der Mensch ist ein Seil - geknüpft zwischen Tier und Übermensch..."1

In den meisten Wissenschaften wird der Mensch zwischen den Extremen der Mikro- und der Makrosphäre verortet:

In der Physik bezeichnet die Mikrosphäre den Bereich der Moleküle, Atome und Teilchen, die Makrosphäre hingegen das kosmische Geschehen. Da sich beide Bereiche dem menschlichen Zugriff und Begreifen weitgehend entziehen, war es notwendig, eine Mesosphäre als menschliches Zwischenreich zu postulieren. Zugleich bezeichnet die Mesosphäre einen Ausschnitt der Wirklichkeit, in dem ein definiertes Ensemble von Naturgesetzen gilt, die in Mikro- und Makrosphäre mitunter ihre Geltung verlieren.2

In der Geschichtsschreibung wird die Mikrosphäre des inneren, individuellen Erlebens den großen historischen und politischen Bewegungen der Makrosphäre gegenübergestellt. Der Mensch, der aber tatsächlich an beiden teilhat, agiert in der Mesosphäre der Erfahrung.3

Im Bereich der Psychologie und der Philosophie stehen sich immer wieder die Innen- und die Außenwelt des Menschen gegenüber, eine Polarität die Niederschlag in den konkurrierenden Denksystemen des Objektivismus und des Subjektivismus findet.

Nach der Handlungstheorie, die diese Dichotomie zu überwinden versucht, versorgt die Außenwelt den Menschen mit externen Impulsen, auf die er im Erfahrungsraum der Handlung reagiert und sie in der Innenwelt der Erinnerungen und Emotionen umformt und speichert. Hier erscheint der sozial agierende Mensch als eine Schnittstelle, als ein Prozessor, ein Handlungsagent, der zwischen die materielle und die geistige Welt geschaltet ist. 4

Das Phänomen der Erinnerung wiederum verweist auf das Problem der Zeit: in den Reden des Buddha wird der Mensch als die Summe all dessen bezeichnet, was er in seinem Leben gedacht hat, also als etwas, das aus einer schwer zu fassenden und abzugrenzenden Vergangenheit in die Gegenwart tritt. Vor ihm allerdings liegt eine ungewisse, ebenso grenzenlos und unfassbar erscheinende Zukunft. Der Mensch selbst ist also gefangen in der Sphäre einer unendlich kleinen Gegenwart, in der die Zukunft und die Vergangenheit als reine Fiktionen erscheinen, und die sich auszeichnet durch unablässigen Wandel, als Inbegriff ewiger Transformation.

In der Kulturtheorie sehen wir den Menschen schließlich als kaum fasslichen Mittler zwischen Natur und Kultur, und seit sich der Mensch die Frage nach dem Ursprung seiner Kultur stellt gibt es den Widerstreit derer, die die Kultur als reines Symptom der Anpassung an natürliche Erfordernisse sehen, und ihren Gegnern, nach denen der Mensch die Natur anhand seiner kulturellen Strukturen ordnet. Doch gleichgültig ob man sich nun dem Lager der kulturellen Vernunft zugehörig fühlt, oder das Lager der Kulturmaterialisten vertritt - immer steht der Mensch als handelndes Tertium Quid zwischen zwei einander gegenüberstehenden Sphären: in diesem Fall der natürlichen Umwelt und der künstlichen, vom Menschen geschaffen Umwelt.5

Zu dieser künstlichen, vom Menschen geschaffenen Umwelt gehören beide Aspekte, die hier im Einstellungsraum und in den Arbeiten von Rahel Bruns zusammengeführt werden: die Kunst und das Automobil.
Doch wie entsteht diese vom Menschen geschaffene Sphäre der Kultur?
Wenn etwas erschaffen wird, so möchte man meinen, ist es dem Gestaltungswillen seines Schöpfers untergeordnet, entspricht ganz und gar seinen Zwecken und steht unter seiner Kontrolle.
Betrachtet man sich aber das individuelle Hineingeworfensein in unsere zivilisatorischen Zusammenhänge, steht der Mensch seiner Schöpfung genauso hilflos gegenüber wie der übermächtigen Natur. Wie der alte Besen aus Goethes Zauberlehrling hat die Kultur begonnen, ein eigenes Leben zu führen und setzt sich über die Wünsche ihres Schöpfers hinweg.

Als die Entdeckung des Blutkreislaufs von William Harvey als Gedankenmodell auf die Städte, also die Brennpunkte der menschlichen Kultur übertragen wurde, begriff man sie mit einem mal als einen eigenständigen Organismus, sie wurden anthropomorphisiert. Straßen und die Mittel der Fortbewegung wurden nicht mehr begriffen als Einrichtungen, die dem Individuum dienen, sondern als essentielle Aspekte dieses übergeordneten Organismus. Straßen wurden nicht mehr angelegt, um dem Einzelnen von Nutzen zu sein, sondern dem großen Organismus „Stadt“.

Nach der Handlungstheorie von Anthony Giddens kann zwar nur der individuelle Mensch etwas begehren und dementsprechend handeln, die Konsequenzen der Summe dieser individuellen Handlungen verdichten sich aber zu Strukturen, die mit den primären Handlungsabsichten und -gründen nichts gemein haben müssen.
Durch unsere akkumulierten Bedürfnisse und Begierden haben wir also etwas erschaffen, das sichin einer Form manifestiert hat, die weit über unsere ursprünglichen Absichten hinausgeht oder sich ihnen sogar entgegenstellt.
Wir haben ein System hervorgebracht, das durch seine Komplexität als nicht-linear anzusprechen ist, und entsprechend eine fraktale Dynamik und dadurch eine unvorhersagbare Entwicklung angenommen hat 6. Der Mensch selbst ist darin degradiert zu einem ephemeren, verletzlichen und austauschbaren Element, wie es z.B. beschrieben wird von Joseph Conrad in dem Roman „Nostromo“ oder in dem epochalen Werk „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos.

Ein hervorstechender Aspekt dieses Systems, der uns wie kein anderer die unglaubliche Gewalttätigkeit unserer verselbständigten Schöpfung vor Augen führt, ist die Automobilität, das Versorgungssystem, der Blutkreislauf, die Logistik unserer Zivilisation. Sie ist omnipräsent, sie zerschneidet die Landschaft, sie gestaltet unseren unmittelbaren Wohn- und Lebensraum, sie tötet jedes Jahr abertausende von Menschen, die ihr in die Quere kommen, sie vergiftet uns und unseren natürlichen Lebensraum. Schon längst ist es nicht mehr der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen, ob er sich ihrer reissenden Strömung anvertraut oder nicht: die Gestalt der modernen Städte, die nach dem Primat der Mobilität angelegt worden sind, läßt dem Individuum kaum eine andere Wahl.

Ebenso ist die äußere Gestalt der Automobile schon lange nicht mehr Gegenstand rein ästhetischer Entscheidungen. Hier gilt das Primat der Ökonomie in Form der Aerodynamik, weshalb es heutzutage immer schwerer fällt die verschiedenen Automodelle auseinander zu halten. Der Mensch ist dazu verdammt, ein Leben an der Oberfläche dieses nach eigenen Gesetzen sich entwickelnden Organismus zu führen, den er zwar selbst erschaffen, über den er aber schon lange die Kontrolle verloren hat.

An diesem Punkt möchte ich den Blick auf die Arbeiten von Rahel Bruns lenken. Sie setzt sich schon seit längerer Zeit mit verschiedenen Aspekten der Automobilität und verschiedenen Erscheinungen in ihrem Randbereich auseinander.

In der Ausstellung „Wagentourette“ werden vor allem Fotografien gezeigt, auf denen wir die durch Abgase und Straßenstaub verdreckten Oberflächen von Last- und Lieferwagen sehen, also Oberflächen von Elementen der Selbstversorgungsmaschinerie unseres post-industriellen, kapitalistischen Systems, denen eine offenkundige Verwahrlosung anzusehen. Doch es geht nicht um die Automobile selbst, sondern um die Einschreibung in den Schmutzschichten, um die Spuren menschlichen Handelns.



Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Die meisten dieser Zeichnungen sind nicht intentionell. Es sind zufällige Ergebnisse von Handgriffen, Spuren von Arbeitsvorgängen, häufig auch akkumulierte Spuren von Handlungsroutinen, die durch stete Wiederholung saubere Flächen in der Schmutzschichten haben entstehen lassen.
Hier entdecken wir bereits eine Analogie zu dem „duré“, der Handlungstheorien von Bourdieu und Giddens, dem andauernden, fortgesetzten Agieren,  das, nach Giddens, der Motivation des Individuums entstammt, in seiner Akkumulation aber etwas anderes, unbeabsichtigtes hervorbringt: die Struktur unserer Kultur. So bringen auch die Spuren des Handelns Formen und Einschreibungen hervor, die jenseits jeder Gestaltungsabsicht.
Besonders deutlich zeigt sich diese Diskrepanz an dem Bild der Seitenwand eines Schweinetransporters: Kaum jemand, den nicht ein leises Grauen überkommt, wenn er einen solchen Tiertransport sieht, dessen gerasterte Verschläge an die unmenschliche und mechanisierte Welt der Fleischindustrie gemahnt, die in dieser Form sicher niemand gewollt hat.

Doch an den Verschlüssen der rechtwinkligen Klappen an der Außenseite sieht man die Spuren von Händen. Denn es sind immer Individuen, die eine solche Maschinerie, so grausam und unmenschlich sie auch erscheinen mag, in Gang halten und bedienen, selbst wenn das Ziel des Einzelnen überhaupt nicht darin besteht, sondern nur darin, das tägliche Brot zu verdienen. Trotzdem: nur das akkumulierte Handeln einer menschlichen Gemeinschaft hat diese Maschinerie schließlich entstehen lassen.


Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Neben den unbeabsichtigten Einschreibungen sehen wir aber auch Spuren, die deutlich zeigen, daß Menschen sich des Zeichenmediums der verdreckten Wagen spontan bewußt geworden sind und gezielt kleine Botschaften oder Notizen hinterlassen haben. Sie verweisen auf die kurzen, wachen Moment der Gegenwärtigkeit, auf eine Bewußtwerdung in den sonst andauernden, blinden Handlungsroutinen.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Doch nicht nur die post-industrielle Kultur hat in der Ausstellung ihren Platz, auch die ihr gegenübergestellte Natur wird thematisiert. Sie begegnet uns auf den Fotos in Form von Bäumen, die Rahel Bruns im Vorbeifahren aus dem Autofenster abgelichtet hat, oder als Baumschatten auf den LKW-Hecks in der Diashow, die im Keller zu sehen ist.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

 Doch so wenig wie der Mensch seine eigene Schöpfung beherrschen kann, so wenig kann er im automobilen Strom mit der Natur in Kontakt treten. Sie ist nur noch ein ephemerer Schatten, ein flüchtiges, vorbei huschendes Bild, eine Erinnerung, und dennoch ist ihre innere Logik allgegenwärtig: in der fraktalen Verästelung der Bäume, in der Art und Weise, wie sich die Schöpfung des Menschen verselbständigt hat und sich in ihrer Komplexität jeder Kontrolle entzieht, und in der zufälligen, akkumulierenden Flusigkeit der Spuren menschlichen Handelns.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016
 Schließlich bleibt die Frage nach dem Menschen selbst. Mit einer fast schon rührenden Ausnahme, auf der man eine Hand sieht, die eine kleine Fläche einer Heckklappe reinigt, tritt der Mensch überhaupt nicht in Erscheinung. Er wird vertreten durch seine Spuren, durch die Perspektive, also den Blick aus dem Auto heraus, und schließlich durch die Bleistiftzeichnungen.

Diese Zeichnungen des Werkkomplexes „Wagentourette“ sind tatsächlich während des Autofahrens und ohne einen Blick auf das Papier entstanden. In ihnen erleben wir den Versuch, die Ereignisse in der Äußeren Welt mit denen der Inneren Welt abzugleichen, bzw. eine Brücke von der einen in die andere Sphäre zu schlagen, und wir werden Zeugen des Scheiterns an dem Versuch, der Reizüberflutung in der automobilen Wirklichkeit Herr zu werden. Wir erleben das Zusammenfallen von Gesehenem und Gedachtem, den Kontrollverlust.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Gleichzeitig aber tritt in den Zeichnungen das organische Element der Natur zutage, eine  Unordnung, die Selbstorganisation flüchtiger Einzelereignisse, die sich zu etwas zusammenballen, in dem wir schließlich ein Zeichen, eine komplexe Einschreibung, die Spur eines Handlungszusammenhangs erkennen können, in den es wiederum möglich ist, eine Narration auf menschlichem Maßstab zu projizieren.

Und hier sehen wir schließlich die Stärke des hinfälligen Menschen, der kaum mehr als ein Phantom zwischen den Welten zu sein scheint: entfremdet von der Natur, und von dem selbstgeschaffenen System degradiert zur störungsanfälligen Arbeitsameise.
Seine Stärke tritt uns in der Fähigkeit entgegen, die ungesteuerte, natürliche und allgegenwärtige Selbstorganisation zu erkennen und schließlich mit ihr zu spielen. Denn selbst wenn die strengen graphischen Elemente der technisch-kulturellen Sphäre Linearität und Kontrolle suggerieren sollen: die Verwahrlosung, der Dreck, die nicht-intentionellen Einschreibungen und am signifikantesten das Spiel mit den Einschreibungen entlarvt diese Kontrolle schließlich als Illusion.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016


1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Insel Verlag, 1976, S. 16
2 Rupert Riedl, Über die Biologie des Ursachen- Denkens - Ein evolutionistischer, systemtheoretischer Versuch,
   Mannheimer Forum 78/79, Mannheim, 1979, S. 18 ff.

3 Paul Münch (Hg.): "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, Historische Zeitschrift Heft 31, 
   München, 2001
4 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1961 S.109
   und: Pierre Bourdieu:   Zur Soziologie der Symbolischen Form, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1970, S. 126 ff.

5 Marshall Sahlins: Kultur und Praktische Vernunft, Suhrkamp Verlag, Reihe: Theorie, Frankfurt a.M., 1981
6 Gerd Eilenberger: Komplexität - Ein neues Paradigma der Naturwissenschaften, in: Mannheimer Forum 89/90,
   München 1990, S. 71 ff.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2016