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Mittwoch, 3. Dezember 2014

Die Kollateralschäden der Bequemlichkeit - Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen zu einer Ausstellung von Werner Schöffel

Werner Schöffel / Vagari #8 - Bilder aus dem Zyklus
Ausstellung in der Galerie des Einstellungsraums e.V., Dezember 2014  
zum Jahresthema "Park & Ride"

Seit vielen Jahren wandert eine Figur durch das Werk von Werner Schöffel, eine einsame Figur, ein anonymer Wanderer, dessen Identität verborgen bleibt: Vagari, benannt nach dem Lateinischen Verbum für das Umherschweifen, namensgebend für den Werk-Zyklus, dessen achte Station wir in dieser Ausstellung sehen.

Der einsame Wanderer Vagari begegnet uns auf fast allen der sorgfältig inszenierten Fotografien als Rückenfigur. Niemals sehen wir sein Gesicht. Er erhält keine eigene Persönlichkeit, die eine unabhängige Dynamik entwickelt, er folgt keiner Narration, er steuert kein Ziel an, noch wird ein Ort angedeutet, von dem er fortgegangen ist. Genausowenig ist er ein Alter Ego des Künstlers.

Er verkörpert vielmehr zwei Prinzipien: das Prinzip der steten, unbehausten Bewegung und das Prinzip des Schauens.

Der Topos der Rückenfigur wird seit der Renaissance benutzt als Träger des Blicks, als im Bild befindlicher, anteilnehmender Stellvertreter des Betrachters vor dem Bild, so z.B. beim Fresko Stanza dell'Incendio di Borgo von Rafael oder später auf dem Gemälde Die Malkunst von Vermeer von Delft, das den Betrachter an dem Blick des Malers auf sein Modell und sein entstehendes Gemälde teilnehmen läßt.

Vermeer van Delft, Die Malkunst, 1666

Während der Romantik entwickelt vor allem Caspar David Friedrich die Rückenfigur maßgeblich weiter zu einem Symbol des reinen Schauens, das von den beobachteten Naturschauspielen weitgehend abgekoppelt ist, und zum Ort eines inneren Ereignisses wird, das sich aber tatsächlich im Bildbetrachter abspielt. Die Rückenfigur ist hier vollständig zu einem Ort des Übergangs, einem Tor geworden, zu einem Träger unseres Blickes und unserer Empfindungen und Reflexionen.

Diesen Aspekt finden wir auch in der Figur des Vagari wieder: sie läßt uns schauen, sie nimmt für uns einen Blickwinkel ein und führt unseren Blick, sie bezieht Stellung.

Doch was ist der Gegenstand ihrer Betrachtung? An was für Orte führt uns die ewige Wanderung des Vagari?
Die ersten Abschnitte des Zyklus` führten Vagari vor allem in die Natur. Der Kontext des Einstellungsraums und des Jahresthemas „Park & Ride“ ließen ihn in eine vom seßhaften Menschen geprägte oder sogar geschaffene Landschaft zurückkehren.
Doch wir begegnen keinen Menschen, wir werden an keine Orte geführt, die das menschliche Leben beherbergen oder die Spuren eines lebendigen Miteinanders tragen.

Statt dessen sehen wir die konkreten und massiven Spuren, die die Bewegungsmuster der Menschen hinterlassen haben, und wir werden an Orte geführt, die nur dazu dienen - oder dazu gedient haben - die Art der Fortbewegung zu ändern; Orte, an denen der Mensch das eine Vehikel zurückläßt, um sich mit einem anderen fortzubewegen. Und schließlich sehen wir in Form von Autofriedhöfen am Rande der Straße Orte, an denen die Bewegung endgültig endet.
Und wir sehen, welchen enormen Raum dieser Stillstand einnimmt, gewaltige, leere Flächen, die einst geplant wurden, nicht um die faktische Mobilität zu ermöglichen, sondern nur um deren Abfallprodukt, den „ruhenden Verkehr“ aufzunehmen.

Vagari führt uns die manifest gewordenen Folgen einer zunehmend eskalierenden Mobilität vor Augen. Das, was wir sehen, sind die Verkrustungen und der Stillstand, die die Mobilität gleichsam einer Ausscheidung absondert, erodierender Stillstand, in Zerstörung befindlicher Stillstand.
Und außer Vagari und uns, die wir stellvertretend durch ihn blicken, ist kein anderer Mensch zugegen, der diese immensen Zerfallserscheinungen am Rande der Mobilität, an den bröckelnden Ufern der Insel der Glückseligen bezeugen kann.

Werner Schöffel, aus dem Zyklus #8 -Vagari-, 2014


Und natürlich fragt man sich, wenn vielleicht auch nur im Stillen: wie konnten Menschen solche trostlosen, toten Unorte hervorbringen? Was für eine Kultur gebiert solche Landschaften? Sind diese Folgen der Mobilität schon vorher absehbar gewesen und deshalb auch gewollt oder wenigstens bei vollem Bewußtsein in Kauf genommen?

Gehen wir diesen Frage tiefer nach, stoßen wir schließlich auf einen Grunddisput der Kulturwissenschaften: Welche Kräfte geben der Kultur und all ihren materiellen und immateriellen Erscheinungsformen ihre Gestalt?

Vor allem seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stehen sich in dieser Frage zwei Lager in einem steten Widerstreit gegenüber:
Die Verfechter des Determinismus, der sich vor allem in Form des historischen Materialismus ausgeprägt hat, auf der einen Seite, auf der anderen die Verfechter des Possibilismus, dessen Logik besonders im Strukturalismus von Claude Levi-Strauss seinen kulturtheoretisch einflußreichten Ausdruck gefunden hat.

Während die Deterministen die Kultur lediglich als das Ergebnis eines Anpassungsprozesses an die natürlichen Gegebenheiten und Ressourcen betrachten und davon ausgehen, daß Dinge und Beziehungen erst durch ihre Nützlichkeit und ihr Verhältnis zu den Ressourcen ihre kulturelle Bedeutung erlangen, gehen die Possibilisten davon aus, daß die materiellen Kräfte erst durch ihre Integration in die kulturellen Bedeutungsschemata wirksam und für den Menschen relevant werden.
Das heißt, daß sich der Mensch nicht, wie der Historische Materialismus postuliert, durch seine Arbeit selbst erschafft, sondern daß der Akt der Arbeit selbst bereits durch eine vorher bestehende kulturelle Struktur determiniert wird.

Während nach Anschauung der Kulturmaterialisten schließlich Individuen oder Machteliten an der Spitze der Hierarchien stehen, die durch Erschaffung, Erhalt oder Manipulation eines Status Quo versuchen, ihre Machtstellung zu festigen oder auszubauen, steht nach Anschauung des Strukturalismus die kulturelle Struktur selbst im Mittelpunkt, der die Individuen in erster Linie durch bewußte Reproduktion ihrer Bedeutungsmuster dienen.

Die Antwort auf die vorher gestellt Frage nach der Ursache des Zustands der Welt würde also im Sinne der Kulturmaterialisten lauten:
Machteliten führen durch Steuerung des sozio-ökonomischen Gefüges all diese furchteinflößenden Zustände bewußt herbei, um ihren Reichtum und ihre Macht zu mehren.
Strukturalisten müßten hingegen argumentieren: all diese Erscheinungen sind von den Mitgliedern unserer Gesellschaft bewußt und gewollt reproduzierte Strukturelemente unserer Kultur.

Beides scheint kaum annehmbar. Weder scheint es plausibel, das es Individuen möglich ist, die in eskalierender Entropie befindliche und unglaublich komplexe menschliche Zivilisation tatsächlich zu kontrollieren und zu steuern - sieht man sie doch bereits bei der Planung und Kontrolle von viel weniger komplexen Vorhaben scheitern - , noch scheint es glaubwürdig, daß eine große Gemeinschaft von Menschen sich darauf geeinigt hat, diese dem Individuum unerträglichen Zustände gezielt zu reproduzieren.
In diesem Sinne beschreibt ein Zitat von Oskar Kokoschka, auf das sich Werner Schöffel gerne bezieht, die Masse als instinktlos, das Individuum hingegen als ohnmächtig.

Doch was ist es dann, was das Vorgefundene hervorgebracht hat?

Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jhd. haben sich zahlreiche Theoretiker daran versucht, die Unvereinbarkeit dieser beider Ansätze zu überbrücken.
Neben Pierre Bourdieu ist vor allem Anthony Giddens bekannt geworden, der mit seiner vom französischen Neo-Marxismus beeinflußten Theorie der Strukturation versucht hat, das Spannungsfeld zwischen dem Individuum und der Gesellschaft zu überbrücken.

Er stellt einerseits das fortdauernde Handeln des Individuums in den Mittelpunkt, andererseits dessen Motivation, denn „gemäß der Theorie der Strukturation haben soziale Systeme keine Absichten, Zwecke oder Bedürfnisse welcher Art auch immer, nur Menschen haben diese.“
Die Konsequenzen der Summe dieser individuellen Handlungen verdichten sich zu Strukturen, die mit den primären Handlungsabsichten und -gründen allerdings nichts gemein haben müssen.

Werner Schöffel, aus dem Zyklus #8 -Vagari-, 2014

Dieses Phänomen wird sehr bildhaft vor Augen geführt durch ein Blatt, auf dem Werner Schöffel mittels GPS-Tracking seine Bewegung durch Hamburg aufgezeichnet hat. Handlungsabsicht war die Suche nach Motiven für die Ausstellung. Zu diesem Zweck nutzte er verschiedenste Verkehrsangebote wie Bus, Bahn, Carsharing und StadtRAD. Mit der Suche verband er auch andere alltägliche Verrichtungen wie  einzukaufen, Freunde zu besuchen oder spazieren zu gehen. Als eine bleibende Konsequenz und Spur der Handlung sehen wir jedoch ein Blatt mit einer abstrakt anmutenden Linienführung vor uns, die in dieser Form nicht beabsichtigt war, sondern eine ungeplante Konsequenz darstellt.

Zwar sind die Machteliten, wie der Historische Materialismus sie beschreibt, darauf erpicht, diese individuellen Absichten und Bedürfnisse im Sinne ihrer eigenen Machtausübung so gut es geht zu Manipulieren und zu Kanalisieren, aber  nicht, um die vom Individuum unbeabsichtigten Spuren hervorzubringen, sondern jeweils nur im Dienste der wiederum eigenen individuellen Bedürfnisse und Absichten, die sich nicht zu Absichten eines „Systems“ verdichten.

Der Bankier, der Vorstand eines Pharma-Konzerns oder der Ölmagnat will durch seine Handlungsweise nicht den individuellen Tod von ihm unbekannten Menschen im Sudan, Somalia oder im Irak herbeiführen, er will lediglich über mehr Geld für Investitionen verfügen, das Gefühl individueller Macht und Potenz mehren und bestätigt finden oder ganz schlicht eine neue Segelyacht kaufen oder eine neue Geliebte beeindrucken. 
Ebensowenig will der ökonomisch bewußte Endverbraucher, daß zur Arbeit gezwungene Kinder in Bangladesh durch giftige Textilbehandlungsmittel vergiftet werden. Er möchte lediglich für seine Jeans nicht mehr als 20,- € zahlen.
Trotzdem führen die Handlungen dieser Individuen unter anderem zu genau diesen unerwünschten Folgen. Die Konsequenzen des individuellen Handelns sind durch die weltweit vernetzte Wirtschaft so weitreichend und dadurch so verschleiert, daß sie, selbst wenn man sich der Aufgabe mit Beharrlichkeit und aufwendiger Recherche widmet, kaum noch abzuschätzen und zu verfolgen sind.

Die kulturelle Struktur, der Status Quo unserer Gesellschaft, entpuppt sich nach Giddens also als ein Kollateralschaden unreflektierter Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Begierden. Der Mensch bezweckt nichts Böses, er hat lediglich und zuallererst sein persönliches Wohlergehen und seine Bequemlichkeit vor Augen.
 Der Autofahrer will lediglich seine individuelle und gemütliche Privatsphäre soweit ausdehnen wie möglich. Er will nicht auf dem Fahrrad oder dem Fußweg frieren oder vom Regen durchnäßt werden, er möchte zum Klang seiner Lieblings-CD auf dem Weg zur Arbeit alleine zu sich kommen und sich nicht mit Hunderten von anderen mürrischen Frühaufstehern um halb acht Uhr morgens in Bus und Bahn drängeln, er möchte sich nicht mit schweren Einkaufstaschen abmühen.

Werner Schöffel, Pano, 2014

Genausowenig möchte er aber die infrastrukturelle Zerstörung der Innenstädte durch die zunehmende Trennung von Arbeit, Konsum und Wohnen, die er durch seine individuelle Automobilisierung herbeiführt; er möchte keine Umweltverschmutzung durch CO2 und Feinstaub, er möchte keine Lawinen aus Blech, die die Innenstädte verstopfen, er möchte auch keine Wüsten aus Beton für den ruhenden Verkehr. Er möchte lediglich seine Bequemlichkeit. Doch genau diese unerwünschten Auswirkungen hat sein automobiler Lebensstil.

Und an diesem Punkt kehren wir wieder zurück in die Welt des Vagari. Denn Vagari ist kein Ausgestoßener, kein Ahasver, den seine Sünden zu der ewigen Wanderung durch die Zeit verdammt haben.
Vagari hat sich ganz bewußt von der Menschheit und vor allem von ihrer betäubenden Bequemlichkeit abgekehrt. Seine Einsamkeit ist das Ergebnis einer bewußten, freiwilligen Abkehr von der instinktlos und unbewußt handelnden Masse.

Er kehrt zurück in einen Nomadenzustand, in dem die Menschheit Jahrhunderttausende verbracht hat, bevor sie sich durch Ackerbau und Seßhaftigkeit selbst domestiziert hat.
Dadurch kehrt er auch zurück zu einer konsequenten Unmittelbarkeit des Handelns, mit der er versucht, die Entfremdung von Mensch und Natur zu überwinden: Alle Gegenstände, die die Figur des Vagari am Leib trägt sind selbst gefertigt - von den Schuhen über den Rucksack bis hin zu den Knöpfen am Mantel, die aus dem Holz eines Kirschbaums aus dem elterlichen Garten des Künstlers geschnitzt wurden. Die Materialien aller Gegenstände stammen aus natürlichen und dem Künstler bekannten Quellen und sind durch seine eigenen Hände gegangen.

Werner Schöffel, aus dem Zyklus #8 -Vagari-, 2014


Zwischen dem Menschen und der Natur entsteht so eine Schnittmenge, ein weiches Übergangsfeld: Wenn Vagari die Natur aufsucht, geht er nicht gerüstet mit einem High-Tech-Kokon in eine romantisierte Umwelt, die es heroisch zu bezwingen gilt, und die, sobald sie in diesen Kokon eindringt, z.B. in sein mit Polyurethan beschichtetes Nylonzelt, von „schöner Natur“ zu „Schmutz“ umgewertet wird; vielmehr wird die Natur an der Schnittstelle zum Menschen transformiert zu etwas, daß ihm ermöglicht, in ihr zu leben.
Durch diese Rückkehr zur Unmittelbarkeit hat Vagari wieder die Kontrolle über die Konsequenzen seines Handelns erlangt.

Werner Schöffel, aus dem Zyklus #8 -Vagari-, 2014

Und nun kehrt dieser einsame, unbehauste Nomade zurück an die Ränder dessen, was wir unsere westliche Kultur nennen und läßt uns einen Blick darauf werfen, was unser Tun und unser Wunsch nach Bequemlichkeit für ungewollte Konsequenzen haben.

Mit diesem Blickwinkel, den er stellvertretend für uns öffnet, stellt er die Frage, ob wir uns der Konsequenz unseres Tuns bewußt sind und ob wir bereit sind, die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Ⓒ Dr. phil Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Dezember 2014