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Montag, 15. Mai 2017

Der Hühnerarsch männlicher Kunst und ihr blinder Fleck

Einführungsrede zur Ausstellung im hühnerhaus volksdorf.kunst
"Utz Biesemann und Daniel Hopp - Contemporary fArts & ⫏rafts - weigh their brushes“ 
von Dr. Thomas J. Piesbergen

Wenn das menschliche Bewußtsein mit der Wirklichkeit konfrontiert wird, mit ihrer unendlichen Vielfalt der Erscheinungen, ihrer unendlichen Tiefe in den Mikro- und den Makrokosmos, bleibt ihm nichts anderes übrig, um sich nicht selbst sofort wieder in einem omnipotenten Nichts aufzulösen, als Unterscheidungen zu treffen.


Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi
Zunächst sind es nur die grundlegenden bio-oralen Überlebensschaltkreise, die sich ausprägen in Unterscheidungen wie hungrig oder satt, warm oder kalt, weich oder hart, hell oder dunkel, Schmerz oder Wohlgefühl. Bald werden Stimmen voneinander unterschieden, Gerüche und schließlich Gesichter. Dann kommt ein entscheidender Punkt der Ontogenese, nämlich die Unterscheidung zwischen dem Selbst und der Welt. Erst in diesem Moment kann man von einer werdenden, individuellen Persönlichkeit sprechen. Gleichzeitig beginnt hier die Ausbildung des psychologischen Blinden Flecks, wie ihn der Mathematiker Spencer-Brown und der Soziologe Niklas Luhmann beschrieben haben.

Denn die Unterscheidungen, die nun getroffen werden, werden nach dem subjektiven Gefühl einer äußeren Wirklichkeit zugeschrieben, gleichwohl es die sich entwickelnde Persönlichkeit ist, die unterscheidet, die mithilfe ihrer subjektiven Unterscheidungen ihre Lebenswirklichkeit untersucht, erkennt und ordnet und sich durch die so getroffene Auswahl relevanter und individuell geordneter Aspekte der Realität selbst konstituiert.
Schließlich glauben wir die Welt zu erkennen, verkennen aber dabei, daß durch die Art und Weise, wie wir die Welt betrachten, durch unser subjektives Set an kognitiven und schließlich habituellen Mustern, vielmehr wir selbst zu erkennen sind, als eine äußere Wirklichkeit.

Dieses Set an unbewußten kognitiven und habituellen Mustern ist unser blinder Fleck. Aber das Phänomen des blinden Flecks ist nicht nur in der Sphäre der Individualpsychologie relevant. Auch die kollektiven Identitäten, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Kultur, einer Subkultur, einer sozialen Schicht, einer politischen Fraktion, einer Berufsgruppe, einer Clique, einer Familie geht zurück auf einen entsprechenden blinden Fleck, der uns nicht sehen läßt, wer wir sind, sondern uns sehen läßt, worin sich andere von uns unterscheiden. Uns selbst können wir nur im Umkehrschluss zu fassen kriegen.

Nachdem die Kunst seit der Altsteinzeit vorwiegend dazu gedient hat, die jeweiligen kulturell definierten Sets an Unterscheidungen zu visualisieren, später auch zu verfeinern, hat sie spätestens seit dem frühen 20. Jhd. die Rolle eines kollektiven Agent Provocateur der bürgerlichen Gesellschaft übernommen. Durch eine stetig fortschreitende selbstreflexive Erweiterung und Verschiebung der Perspektive ist sie dazu imstande, den jeweiligen Kulturträgern ihre Sets an Unterscheidungen, also ihren kollektiven blinden Fleck bewußt zu machen.

Gleichzeitig aber wird sie selbst durch Unterscheidungen definiert und in einem Kontext rezipiert, der wiederum selbst seinen eigenen Blinden Fleck hat. Dadurch wird auch dieses Korrektiv der Gesellschaft, das, wie Karel Capek es ausdrückt, dazu da ist, die verknöcherten Seelen der Rezipienten gehörig durchzurütteln, domestiziert. Die Kunst, die nach unserer gegenwärtigen Vorstellung dazu dienen sollte,  kulturelle Routinen und sich selbst bestätigende Muster zu überwinden, bekommt selbst ihren klar umrissenen gesellschaftlichen Platz zugewiesen.

Robert Louis Stevenson beschrieb diesen Aspekt der Kunst wie folgt: „Das Leben ist monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant, ein Kunstwerk, verglichen damit, ist harmlos, begrenzt, beherrscht, vernünftig, fließend und gezähmt.“

Welche Strukturen sind es aber nun, in die wir die Kunst einbetten, aus welchen Mustern setzt sich unser blinder Fleck zusammen und welche Verschiebungen sind notwendig, um ihn sich bewußt zu machen?
Dazu ist es notwendig den Blick darauf zu richten, wo die zeitgenössische Kunst stattfindet, wo sie präsentiert wird und sich selbst präsentiert, in welchen Kontexten wir auf sie treffen. Das geschieht in der Regel in den sogenannten Kunstorten, also in Museen, Kunstvereinen, Galerien und den sogenannten Off-Spaces, wie dem Hühnerhaus.

Die Konstellation der voneinander unterschiedenen Elemente ist im Prinzip überall die gleiche und variiert von Ort zu Ort nur graduell.

Da ist zum einen der Ort, der sich in der Regel durch ein charakteristisches Programm auszeichnet, dadurch einen spezifischen Ruf etabliert hat und eine entsprechende Erwartungshaltung erzeugt. Hier sieht man Malerei, dort Street Art, der eine Ort zeigt illustrative Arbeiten, der andere Bildhauerei, manche Orte profilieren sich durch ein experimentelles oder konzeptgebundes Programm, andere gelten vor allem als hippe Partylocations mit Rahmenprogramm, an manchen Orten vermeiden professionelle Künstler es auszustellen, da sie als Bühnen für Hobbykünstler gelten, andere sind heißbegehrt, weil ihre Namen als bedeutend gelten, auch wenn sie so abgelegen liegen, daß sie kaum Publikum anziehen, etc.pp.



Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi

Diese Orte, gleich welcher Art, machen die Bühne frei für das Werk, sie geben den Rahmen ab, in den es sich fügen muß. Hier ist ein Gang mit Galleriesystem für Flachware, dort ein Raum für Skulptur, hier eine große Wand für Überformate, dort ein dunklerer Raum, in dem Videos gut zur Geltung kommen.
Zwar gibt es immer wieder Künstler, die mit Raumbezug arbeiten und die Räume in ihre eigenen installativen Kontexte einbeziehen, doch bleibt der Kunstort als solcher in der Regel unangetastet.

Und schließlich sind da die menschlichen Akteure und ihre Rollen:

- Die Künstler, in deren Anwesenheit man sich sonnen und die man als außergewöhnliche, kreative Menschen bestaunen darf, die in ein Gespräch zu verwickeln aber nur wenige Ausstellungsbesucher wagen.


Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi

- Die Gastgeber, die für den Raum und sein Konzept stehen, die stets mit der Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt sind, die bei Verkaufsausstellungen den Dialog mit möglichen Käufern suchen und die von Künstler, die selbst gerne in dem betreffenden Kunstort ausstellen möchten, umschwärmt werden wie das Licht von den Motten.

- Die Kunstvermittler und Eröffnungsredner, die entweder in der Art hochkultivierter Marktschreier die Qualität der ausgestellten Werke und die Bedeutung der Künstler in den Vordergrund stellen sollen oder den Besuchern die künstlerischen Programme und Konzepte der jeweiligen Räume und Künstler vermitteln sollen und einen Schlüssel zur Interpretation anbieten, um, als Cordon Sanitaire, den Künstlern die peinliche Situation zu ersparen, ihre eigene Kunst erklären zu müssen.

- Und schließlich gehören die Besucher dazu, die meist in respektvollen Sicherheitsabstand, mal in mehr oder weniger substantielle Gespräche über die gesehene Kunst vertieft, durch die Ausstellung schreiten, nachdem sie die Begrüßung und die Einführungsrede über sich haben ergehen lassen um sie dann so schnell wie möglich mit einem Glas Vernissage-Weißwein oder einem bewußt bodenständigen Bier hinunter zu spülen.


Diese Anordnung wird nahezu überall und ohne Reflexion hingenommen und ihre Rituale vollzogen. Und da die Akteure, in sich selbst befangen, in der Regel nicht imstande sind, ihren eigenen blinden Fleck zu sehen, tragen sie alle dazu bei, die Kunst zu zähmen, sie vom Leben zu trennen und ihr eine klar umgrenzte Ecke im gesellschaftlichen Kontext zuzuweisen.

Und schließlich ist auch diese Anordnung dafür verantwortlich, daß die gewaltige Gesinnungskluft, die zwischen Künstlern und Kunstsammlern besteht, keinerlei Konflikte oder Verwerfungen zeitigt. Denn während die Künstler in der Regel gesellschaftskritisch, nonkonform und politisch links orientiert sind, sind die maßgeblichen Sammler meist tragende Mitglieder oder Institutionen des konservativen, bürgerlichen Establishments, gegen dessen Strukturen und Werte sich die Künstler in der Regel auflehnen.

Utz Biesemann und Daniel Hopp haben sich nichts geringeres vorgenommen, als genau dieses System unreflektiert sich fortschreibender Kontexte zu durchbrechen. Den dazu notwendigen Kunstort hat ihnen Edith Sticker zur Verfügung gestellt.
Und selbstverständlich war die erste Intervention, die zur Umsetzung des Vorhabens nötig war, die Identität des Hühnerhauses zu überformen und den Ort als Institution ganz und gar ihrer performativen multi-media-Skulptur einzuverleiben. So findet also nicht eine Ausstellung im Hühnerhaus statt, sondern das “chickenhouse“ findet im Rahmen eines Kunstwerks statt.


Doch bei dieser Überschreibung der gewohnten Routinen bleibt es nicht. Die Künstler versuchen nicht nur den blinden Fleck der rezipierenden Kunst- und Kulturszene zu entblößen, sondern auch ihre eigene Position, den eigenen blinden Fleck als Künstler, im speziellen als männliche Künstler, deren Eigenarten sie überzeichnen, um sie kenntlich zu machen.
So könnte man, in Anlehnung an den Film „Being John Malkovich“, in dem ein Mann als Abenteuer-Urlaub einen Aufenthalt im Kopf des Schauspielers John Malkovich bucht, die Ausstellung auch „Being Biesemann and Hopp“ nennen.

Dazu mußte natürlich auch die Anwesenheit der Künstler rekontextualisiert werden und wir begegnen nicht Utz Biesemann und Daniel Hopp, sondern Utz Sebastian Dr. Biesemann und Danni Hopp, beide mit frisch für die Vernissage geschnittenen Frisuren. Die Künstler sind nicht mehr Urheber eines Werks, sondern selbst nur mehr Elemente in einer Konstellation, die sie inszeniert und in Gang gesetzt haben, deren Eigendynamik sie aber aus ihrer Kontrolle entlassen. 


Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi
Ein anderer Künstler, Tizian Baldinger, dessen Erscheinung den Erwartungshaltungen des Kunstpublikums an zeitgenössische, männliche Künstler entspricht, ist ebenfalls zum Exponat umgedeutet worden. Gleich einem Säulenheiliger hockt er in drei Metern Höhe auf einem abgesägten Baumstamm. Die Angewohnheit des Publikums, den Künstlers als Paradiesvogel und Genie zu bestaunen, allerdings immer nur verstohlen, niemals mit dem bloßen Zeigefinger weisend, wird in aller Klarheit vor Augen geführt und dadurch bloßgestellt.

Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi

Die Problematik des Machismo im männlichen Kunstschaffen und die männliche Dominanz im Kulturbetrieb, die es zweifellos immer noch gibt, und die fast immer ein aus Bequemlichkeit wohlwollend in Kauf genommener Teil des blinden Flecks männlicher Künstler ist, wird nicht durch eine von außen herangetragene Kritik im Sinne einer  Gender-Diskussion angesprochen, sondern ebenfalls durch eine nur leichte Verschiebung und Überzeichnung von Innen heraus thematisiert, und tritt uns in nahezu allen Elementen der Inszenierung entgegen:

Bereits der Titel und die Einladungskarte lassen erste, zweideutige Interpretationen zu. Das angeschmuddelte Rosa der Karte und die Namens-änderung in Chickenhouse suggerieren bereits etwas leicht Schlüpfriges, denn „Chicks“, die Hühner, sind im amerikanischen ein sexualisierter, abschätziger Begriff für attraktive Mädchen und junge Frauen. 


 Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi

Der Titel der Ausstellung „weigh their brushes“ („wiegen ihre Pinsel“) kann ebenfalls nur als Chiffre verstanden werden, denn von Malerei weit und breit keine Spur. Es geht bei der Frage, wer den schwereren Pinsel hat, also um nichts anderes als die Frage, wer den längeren Penis, wer die dickeren Eier hat. Wir müssen in der Kunstgeschichte nicht lange suchen, um Belege für die Figur des Malerfürsten als chauvinistischem Potenzprotz zu finden, man denke nur an den unstillbaren sexuellen Hunger von Picasso, die Skandale um Immendorff oder die Frauenverachtung von Baselitz, der mit der Behauptung, Frauen können nicht malen, den Pinsel zum Phallus macht.

Ebenfalls eine sehr männliche Pose wird vertreten durch die Rockband Arsch von Trier, ein Projekt der Künstler Mitko Mitkov und Raphael Dillhof, die den Soundtrack der Inszenierung liefern. Es gibt eine Redensart unter Musikern, die meisten Bands würden nur deshalb gegründet, weil die Bandmitglieder zu schüchtern wären, um Mädchen anzusprechen, und in den meisten Fällen trifft das sicherlich zu. Alle weiteren, zahlreichen Bezüge zwischen Rockmusik und Sexualität sind hinlänglich bekannt und müssen hier nicht weiter ausgeführt werden. 



Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi

Diese Aspekte des männlichen Kunstschaffens führen uns, ohne daß eine weitere Überleitung nötig wäre, zu dem gezeigten Video und den daraus entnommenen Standbildern, die im Treppenhaus zur Kunstdiele zu sehen sind.
Wir sehen einen Mann und eine Frau bei einer offenkundig sexuellen Handlung, der Mann wird, entsprechend der Vorstellung des Künstlers als Macho, von der Frau bedient. Dazu hört man die Band Arsch von Trier einen Cover-Song von Georg Ringsgwandl spielen: „Hühnerarsch, sei wachsam“. Hier ereignet sich allerdings eine Inversion: Der Arsch, der hier zu sehen ist, der Arsch des ehemaligen Faßbinder-Darstellers Harry Baer, den er schon damals, häufiger als ihm lieb war, hinhalten mußte, ist ganz und gar kein Hühnerarsch. Die Warnung geht nicht etwa an ein Huhn, ein „Chick“, eine Frau, sondern wendet sich an die Rückseite des Mannes, an die Seite, an der er keine Augen hat, die er nicht sieht, seinen blinden Fleck, wohlmöglich seine weibliche Seite.

Eine solche Deutung legt auch die zentrale Holzskulptur nahe: Ein großer Holzklotz mit einem grob gearbeiteten Schriftzug auf der Front, dessen hingepfuschte und splittrige Beschaffenheit etwas aggressiv-männliches hat, und einer mit Stoff bespannten Rückseite, deren rosa Farbe und zarte Beschaffenheit in der Regel als weibliche Attribute gedeutet werden. Die weitere Auslegung dieses assoziativen Raums möchte ich dem Betrachter überlassen.

Treten wir abschließend noch einmal von der Innenperspektive des männlichen Künstler wieder einen Schritt zurück zu der Problematik öffentlicher Kunstrezeption.

Ihre Zusammenarbeit übertiteln die Künstler Biesemann und Hopp mit dem mehrschichtigen Wortpaar Contemporary fArts & ⫏rafts (mit kleinem f, großem A und gespiegeltem D).

Zunächst provoziert das vordergründige „Farts and Drafts“, also Fürze und Entwürfe. In dieser Lesart begenen wir einer bitterböse Polemik gegen gewisse Formen der Kunst: hingeschluderte Entwurfe und viel heiße, stinkende Luft, möglicherweise auch eine Besonderheit mancher männlicher Kunstposition, sich mit breiter Brust zu präsentieren, aber abgesehen von einer kernigen Außenwirkung, wenig Substanz bieten zu können.
 
Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi

Auf den zweiten Blick ist das Wortpaar auch zu lesen als fine Arts & Crafts und bringt damit einen sehr ambivalenten Begriff ins Spiel. Denn einerseits spielt es an auf Formen der Kunst, die sich einer überlieferten Formensprache bedienen und sich in das bestehende System integrieren, die durch bloße Reproduktion eines gewissen Repertoires durchaus als Kunsthandwerk anzusprechen sind, nicht als freie Kunst. Wieviel der gegenwärtigen Kunstproduktion ist tatsächlich innovativ, erweitert den Realitätssinn und befähigt zur Selbstreflexion? Und wieviel davon erfüllt lediglich die Erwartungen des Kunstmarkts, gibt sich damit zufrieden, domestiziert und durch die gesellschaftliche Einordnung gesellschaftspolitisch wirkungslos zu bleiben, und ist deshalb also kaum mehr als Kunsthandwerk?

Andererseits war die zentrale Programmatik der englischen Arts & Crafts-Bewegung der Versuch, Leben und Kunst wieder zusammen zu führen und regte dadurch maßgeblich die Kunst der moderne und ihr Selbstverständnis als gesellschaftserneuernde Kraft an.

In dem Versuch den konventionellen Rahmen der Kunstrezeption zu hinterfragen und aufzulösen, den blinden Fleck von Künstlern und Rezipienten zu dekonstruieren, und schließlich durch eine lange Schlinge, die von Station zu Station führt, sogar den Besucher, der ihr folgt, zu einem Teil der Inszenierung zu machen, verbirgt sich schließlich nichts anderes, als ein Experiment mit ungewissem Ausgang, das überprüfen soll, ob die Trennung von Kunst und Leben nicht überwunden werden kann, um auch der Kunst, im Sinne des Zitats von Robert Louis Stevenson, die Qualitäten zurück zu geben, die sie durch ihre Domestikation verloren hat und die sonst nur dem Leben selbst zuzuschreiben sind, nämlich monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant zu sein.


In diesem Sinne: Hühnerarsch, sei wachsam.

Vernissage, Contemporary fArts & Drafts - weigh their brushes, 2017, Foto von Angela Anzi


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2017 

Donnerstag, 4. Mai 2017

Die Gegenwart der Erinnerung - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Wonek Lee - p.o.r." von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "p.o.r." von Wonek Lee im Einstellungsraum e.V. findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Drehmoment".

Wonek Lee, p.o.r., 2017
Vor wenigen Tagen hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ich wurde mitten in der Nacht von meinem jüngsten Sohn aus einem ausgesprochen intensiven und bildgewaltigen Traum geweckt. Während ich, noch immer ganz umfangen von den Traumbildern, den Kleinen wieder beruhigte, dachte ich, wie gut es war, daß er mich geweckt hat, sonst wäre der Traum durch die weiteren durchschlafenen Nachtstunden sicher verschüttet worden, so als hätte ich ihn nie geträumt.

Plötzlich wurde mir klar, daß das Traumgeschehen, das ich vor wenigen Momenten als akute, intensive Gegenwart empfunden habe, nicht in dem Moment für mich zu einem faktischen Teil meines Erlebniskontinuums geworden ist, in dem ich es geträumt habe, sondern erst in dem Moment, in dem ich erwachte und imstande war, mich daran zu erinnern.
Die Paradoxie, die mich bei diesem Gedanken elektrisiert hat, bestand, darin, daß die Entscheidung, ob ich das Traumgeschehen als eine intensive Gegenwart empfinden konnte, nicht in dieser akut erlebten Gegenwart begründet gewesen ist, sondern durch ein zu dem Zeitpunkt noch zukünftiges Ereignis, nämlich das Erwachen. Erst die zukünftige Möglichkeit des Erinnerns ließ also die Gegenwart bewußt erlebbare Realität werden.

Doch wenn das zukünftige Erinnern die gegenwärtige Realität terminiert, eröffnet sich gleich das nächste Problem: Dieses erst noch kommende Erinnern, das das gegenwärtige Erleben erst hervorbringt, ist zugleich so geartet, das es das Erinnerte nur subjektiv und reduziert festhält, also einer authentischen Vergegenwärtigen zuwiderläuft. Es scheint also faktisch kaum möglich, sich ein vollständiges und konsistentes Bild erlebter Ereignisse zu machen.

In seinem Werk Schöpferische Entwicklung schrieb Henri Bergson 1907:

„Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag. So kehrt sich der Verstand, einzig auf das konzentriert, was sich wiederholt, einzig darin befangen, Gleiches mit Gleichem zu verschweißen, vom Schauen der Zeit ab. Ihn widert das Fließende, und er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Wir denken die reale Zeit nicht. Aber wir leben sie, weil das Leben über den Intellekt hinaus schwillt.

Wir können also weder den tatsächlichen Ablauf eines Ereignisses rekonstruieren und wiederholen, noch können wir im Anschluß an ein Ereignis dasselbe in seiner Gänze in der Erinnerung wieder beleben. Das einzige, was wir können, ist die wenigen Elemente, die sich uns eingeprägt haben, zu einem sinnvollen Muster zu ordnen, das uns im Abgleich mit dem Vorgefundenen wahrscheinlich erscheint. Das Bewußtsein einer Gegenwart kann, nach Bergson, erst durch die abstrahierende Rückschau entstehen, die körperliche Gegenwart selbst ereignet sich bewußtlos.

Vernissage, Dr. Thomas Piesbergen
Die Eigenart des Verstandes Muster aufzuspüren hat in den vorgeschichtlichen Kulturen zu der "erstarrten" mythischen Vorstellung kollektiver Tierseelen geführt (Joseph Campbell). Später ordneten sie sich als Naturgeister und Gottheiten zu einem Pantheon, dem eine eigene Lebenssphäre, ein eigener Götterhimmel zugestanden wurde. In der Antike wurde dieses Wahrnehmungsprinzip von Aristoteles neu formuliert in Gestalt der aristotelischen Urbilder, den ursächlichen Ideen, die den Erscheinungen unserer Welt zugrunde liegen sollten. Der Mensch erschuf sich so eine bildhafte Gegenwelt, eine idealisierte Spiegelung der erlebten Wirklichkeit.

In der Gegenwart begegnen wir dieser Eigenart des menschlichen Verstandes, sich Spiegelungen zu schaffen, in der digitalen Protethik, den Computern und ihren Algorithmen, mit denen unsere Kapazität der Welterkenntnis und Effizienz vervielfacht werden soll.

Zunächst war das zentrale Paradigma der digitalen Gegenwelt die Simulation. Der Mensch versuchte die von ihm erkannten Muster in Algorithmen zu übersetzen, um mit darauf basierenden Rechenprozessen eine virtuelle Wirklichkeit zu schaffen, die der unsrigen soweit wie möglich entsprechen sollte, sei es, um Klimaprognosen zu erstellen, um besonders realistische Computerspiele zu programmieren oder einfach nur um Benutzeroberflächen zu schaffen, die ein Gefühl der analogen Interaktion hervorrufen.

Doch die digitalen Welten, die dadurch geschaffen worden sind, unterscheiden sich in einem maßgeblichen Punkt von unserer Lebenswirklichkeit, denn in ihnen ist es möglich, die gleiche, konkrete Wirklichkeit zu wiederholen - schließlich sind sie ein reines Produkt unserer mustergenerierenden Vernunft:
Beginnen wir ein Computerspiel von neuem, findet sich unser Avatar in der immer vollkommen identischen Situation wieder; die Abfolge der Ereignisse folgt immer dem gleichen zeitlichen Muster; die virtuellen Objekte verhalten sich immer gleich und durch die Repetition der immer gleichen Routinen lernt man schließlich das Spiel zu beherrschen.

In der digitalen Welt ist es möglich, alle Situationen zu resetten, das System zu rebooten, um noch einmal von vorne zu beginnen. Die unumkehrbare Linearität des Zeitpfeils, das Fließende scheint aufgehoben und die fatale Besessenheit des Großen Gatsby scheint auf einmal nicht mehr vergeblich zu sein, wenn er ausruft: „Die Vergangenheit nicht wiederholen?“(…)“Aber natürlich kann man das!“

Inzwischen ist das Bedürfnis des Menschen, sich in einer prothetischen Wirklichkeit ein idealisiertes Spiegelbild zu schaffen, in eine neue Phase getreten. Das neue goldene Kalb der Software-Entwicklung heißt nicht mehr Simulation, sondern Mustererkennung.
Nicht mehr der Mensch ist es, der dem Computer die Muster, die er zu erkennen geglaubt hat, einprogrammiert, sondern die Computer sollen selbsttätig in der Lage sein, in der Außenwelt Muster aufzuspüren und sie miteinander abzugleichen.
Kameras und Bildverwaltungsprogramme verfügen über selbsttätige Gesichtserkennung. Facebook und andere Dienste verknüpfen selbsttätig Gesichter mit den dazugehörigen Namen. Derzeit sollen die Mustererkennungsroutinen auf Facebook soweit verfeinert werden, daß sie imstande sind, nicht nur Gegenstände wie Stühle, Kaffeetassen oder Fahrräder auf hochgeladenen Photos zu erkennen, sondern auch sie den jeweiligen Marken und Herstellern zuzuordnen.

Dahinter stecken zwei maßgebliche Motive:

Zum einen soll die vergangene, individuell erlebte Wirklichkeit kontrollierbar gemacht werden, um sie idealisierten, normativen Mustern anzupassen. Wenn z.B. ein zu fotografierender Mensch sich selbst einem eingebauten Smile Detector hartnäckig verweigert, ist es ohne weiteres möglich, ihn nachträglich mit Hilfe einer App zum Lächeln zu bringen.

Wenn das Wetter im Urlaub schlecht gewesen ist, erkennt der Computer, was alles zum Grau des verhangenen Himmel gehört und macht es strahlend blau.
Es wird sicher auch nicht mehr lange dauern, daß er aus Aldi-Sonnenbrillen Ray-Ban-Modelle macht und die entsprechenden Reflexe auf die Gläser zaubert, daß er Zellulitis und Bierwampen selbsttätig korrigiert, den Busen und den Bizeps vergrößert und so eine idealtypisch-normierte Wirklichkeit schafft, mit der sich der User einer Weltöffentlichkeit zu präsentieren getraut.

Auf der anderen Seite stehen natürlich die eiskalt kalkulierten ökonomischen Interessen der Datenkrake, die das Konsumverhalten der User bis in die intimsten Winkel ausleuchten möchte, um sie zu kontrollieren und zu einer perfekt auszubeutenden Resource zu degradieren.

In beiden Fällen aber ist der Glaube an konsistente, sich stets wiederholende Muster wirksam, sowie das starke Bedürfnis, ein Spiegelbild zu schaffen, das unsere Wirklichkeit deutlicher, schöner, verständlicher und kontrollierbarer wiedergibt, als sie ohne diese Prothese der Wirklichkeit tatsächlich ist.

In seinen bisherigen Arbeiten hat sich Wonek Lee immer wieder intensiv mit diesen Problemen der Normierung über den Umweg durch eine digitale Gegenwelt beschäftig sowie mit der temporären Migration der Identität zwischen der analogen und der digitalen Sphäre; und wie andere Künstler, die mit ihrem Material umgehen und durch Experimente zu neuen formalen Lösungen kommen, entwickelte er, ausgehend vom Medium und dessen Auswirkungen auf unsere kulturellen Routinen, seine künstlerischen Konzepte.

Die Genesis der Arbeit „p.o.r.“, oder auch als „p.o.v.“ zu lesen (also Persistence of Vison oder Persistence of Remembrance) hat jedoch einen ganz anders gearteten Ausgangspunkt:

Als er im Februar 2017 in China war, unternahm er eine fünfstündige Wanderung um den Westsee zwischen Shanghai und Hangzhou. Als er nach 4 Stunden eine Pause machte, um auszuruhen, überkam ihn, ausgelöst durch den Schlüsselreiz des eigentlich gewöhnlichen Seegeruchs, eine ungewöhnlich heftige Erinnerung, ein akuter Flashback: Er erlebte bis ins Detail zum zweiten mal den Moment, als er zwei Monate zuvor seiner Freundin auf einem Boot inmitten des Westsees den Verlobungsring schenkte. Alle Einzelheiten kehrten in diesem Erinnerungsereignis wieder, bis hin zu der damals empfundenen Kälte und den Gesichtszügen des Bootsführers.

Aus subjektiver Sicht erlebte er etwas, das sich jeder objektiven Vernunft entzieht, nämlich einen Moment, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart berühren, also das bewußtlos fließende Körperlich-Zeitliche und das ordnende Erinnerungsgedächtnis (H. Bergson) miteinander verschmelzen, als seien sie durch ein die Raumzeit überwindendes Wurmloch miteinander verbunden.
 Zwar empfand er das Ereignis als in hohem Maße real und eindringlich, da es ja sogar mit akuten physischen Empfindungen und fast hyperrealen Details einherging, andererseits hatte es, da es allen Routinen der Vernunft widersprach, etwas Gespenstisches, denn es ließ ihn etwas empfinden, das eigentlich nur innerhalb einer digitalen Realität möglich ist: die gleiche und konkrete Wiederholung der Wirklichkeit.

Dieses Ereignis regte ihn an, sich intensiv mit den Phänomenen Zeit und Erinnerung in einem digital-medialen Kontext auseinanderzusetzen und das erlebte Phänomen in eine Form zu übersetzen, die es metaphorisch zu spiegeln versucht.

Im Zentrum der Installation "p.o.r." steht auf einem Dreibein mit bewußt gewählt menschlichen Dimensionen eine rotierende Lichtleiste mit LEDs. Die Rotation und die Lichtimpulse werden durch einen Computer so aufeinander abgestimmt, daß sie unter Ausnutzung des „Persistence of Vision“-Effekts Bilder erzeugen.

Wonek Lee, p.o.r., 2017
Die verschiedenen Eigenarten der Wahrnehmung dieses sog. P.O.V.-Displays korrespondieren mit verschiedenen Eigenschaften unserer Erinnerung. Wie das Bild des P.O.V.-Displays setzt sich unsere Erinnerung aus einer unüberschaubaren Zahl von Details und Fragmenten zusammen, die von uns zu einem Ganzen zusammengefügt werden, zu einem sinnvollen Muster, das uns im Abgleich mit der Gegenwart wahrscheinlich erscheint.
Gleichzeitig bleibt die Erinnerung geisterhaft, nicht wirklich greifbar. Sie hat keine Substanz, keinen Körper, so wie das vom P.O.V.-Display erzeugte Bild in der Luft zu schweben scheint und keine Körperlichkeit hat, ganz so wie Henri Bergson das abstrakte, aus Mustern aufgebaute Erinnerungsgedächtnis charakterisiert.

Dieses Bild wird wiederum aufgefangen und gespiegelt zwischen zwei halbdurchlässigen, runden Glasscheiben, in denen es sich bis in eine verdämmernde Unendlichkeit wiederholt. Zu Beginn der auf dem P.O.V.-Display gezeigten Bildsequenz entsteht ein Tunnel aus Licht, der gelesen werden kann als Einladung in eine erinnerte, zeitliche Tiefe einzutauchen, als ein Time Tunnel, ein Wurmloch, das zwei Punkte der Raumzeit miteinander verschmelzen läßt.
Darauf folgt das flimmernde Ziffernblatt einer Uhr, das sich rasch deformiert, einerseits als Symbol der Zeitgebundenheit, der ephemeren Qualität aller Erscheinungen, gleichzeitig auch ein Verweis auf Dalis schmelzende Uhren in dem Bild „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (engl. Persistence of Remembrance) und deren Konnotation, die Geltung der zeitlichen Linearität löse sich in der im Traum erlebten Erinnerung auf, so wie es auch Wonek Lee am Ufer des Westsees selbst erlebt hat: vollständig und tief.

Wonek Lee, p.o.r., 2017

In dem weiteren Verlauf der Bilder tauchen mehrfach Darstellungen des menschlichen Gehirns auf. Dadurch werden Assoziationen angestoßen, die die verschiedenen Reflektionsebenen auf den Glasscheiben in die Nähe der Darstellung eines MRTs rücken, eine von Wonek Lee bewußt eingesetzte gedankliche Verknüpfung: denn so wie in einem MRT versucht wird, die vollständige Darstellung des untersuchten Objekts durch seine scheibenartige Fragmentierung zu erreichen, so wäre es, der Vernunft folgend, auch notwendig, um einen erlebten Moment in der Erinnerung in seiner ganzen Tiefe wieder auferstehen zu lassen, ihn scheibchenweise, in allen Details und aus allen Blickwinkeln wahrzunehmen. Denn genauso erschien Wonek Lee die akute Gegenwart der Erinnerung am Westsee.

Um schließlich die vermeintliche Perfektion der Technik und die durch sie erträumte unbegrenzte Machbarkeit zu konterkarieren, hat Wonek Lee bewußt auf eine makellose Wiedergabe der Bildsequenz verzichtet. Denn schließlich, wie Bergson es ausdrückt, schwillt das Leben über den Intellekt hinaus, dessen Repräsentation der Computer ist. Die Spiegelung der Wirklichkeit durch die Vernunft und ihre digitale Prothese muß an ihrer wesensbestimmenden Eigenart scheitern, in etwas Fließendem nach statisch sich wiederholenden Mustern zu suchen, in etwas Fließendem, das sich wesensbestimmend der Wiederholung widersetzt.

Im Gespräch: Wonek Lee und Dr. Thomas Piesbergen
 Ein letzter Aspekt, auf den ich hinweisen möchte ist der Verweis auf diesen Unterschied zwischen der Landschaft und der Karte, zwischen der gelebten fließenden Wirklichkeit und ihrer aus Mustern aufgebauten Simulation: Jedes mal, wenn es nicht mehr von dem Leuchten des P.O.V.-Displays überstrahlt wird, stehen wir, reflektiert von der halb getönten Scheibe, erbarmungslos dem Zahn der Zeit unterworfen und in steter Veränderung begriffen, unserem eigenen Spiegelbild gegenüber. Auch wenn wir uns in eine überzeitliche Wiederauferstehung der Vergangenheit, in eine digitale ewige Gegenwart flüchten wollen, werden wir doch immer wieder und unweigerlich in die sich stets fließende, wandelnde und vergehende Zeitlichkeit unserer Körper zurück geworfen.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VGWort, Mai 2017