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Donnerstag, 6. Mai 2021

Dualismus und Prozess - Gedanken zu Sabine Mohrs Ausstellung „Der Unsichtbare Begleiter oder die Unbekannte“ von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung von Sabine Mohr in der Galerie des Einstellungsraum e.V.´s fand im April 2021 im Rahmen des Jahresthemas "Seelenklima" statt.

Sabine Mohr, "Der unsichtbare Begleiter", 2021, Ausstellungsansicht

In seinem Höhlengleichnis entwarf Platon eine Metapher der Wirklichkeit, in der er etliche philosophische Entwürfe und religiöse Konzepte, die seinerzeit an Kraft gewannen, bündelte und in der ein bis heute wirksames Extrem der Weltbeschreibung seinen nachhaltigsten und plastischsten Ausdruck fand.

Platon zeichnete das hinlänglich bekannte Bild einer Welt der Erscheinungen, der wir ausgesetzt sind, die aber nur aus Schatten besteht, die von Figuren vor einem Feuer in unserem Rücken geworfen werden. Unsere Erfahrungswelt sei also nur eine Illusion, während die eigentlichen Dinge der Wirklichkeit die platonischen Urbilder seien, die im göttlichen Licht ihren Schatten werfen.

Das größere Konzept, das hinter dieser Vorstellung steht, nämlich eine Welt, die von einer jenseits der Welt befindlichen Kraft geschaffen wurde, eine Welt also, die von ihrem Schöpfer getrennt und  deshalb profan ist, begegnet uns in der Religionsgeschichte erstmals mit den frühesten jüdischen Überlieferungen. Bis dahin wurde in allen bekannten Religionen der Welt das Göttliche immer als inhärenter Teil der materiellen Welt begriffen. Der Dualismus von Gott und Welt bedeutete also einen krassen Paradigmenwechsel in der Vorstellung des Verhältnisses von Geist und Materie, von Göttlichkeit und Welt.1

In der Folge Platons wurde das Konzept in Teilen der antiken Gnosis weiterentwickelt, später von Plotin und von Mani neu formuliert. Während in Plotins Neuplatonismus der reinen Materie die größte Gottesferne zugeschrieben wird2, verstehen die vom Zoroastrismus und Buddhismus beeinflußten Manichäer das Wesen der Materie schlechthin als das Reich der Finsternis.3 In der christlichen Lehre wurde mit dem ersten Konzil von Nicäa von 325 n. Chr. die Trennung von Geist und Welt zum Dogma.4

Im Mittelalter gipfelte diese Tradition der Verneinung alles Weltlichen und Körperlichen in den radikalen Lehren der Katharer. Zwar wurde dieser ins Radikale übersteigerte Dualismus schließlich von der Kirche zur Ketzerei erklärt und die Katharer von der Inquisition vernichtet, dennoch ist die Vorstellung von der geistlosen Materie und eines davon strikt getrennten, jenseitigen Gottes, wie sie im vatikanischen Konzil von 1870 noch einmal bekräftigt worden ist, bis heute einer der Grundbausteine des westlichen Denkens geblieben.

Selbst in der zeitgenössischen Wissenschaft können wir dieses Denkschema wiederfinden. Anhand der Durchbrüche Einsteins und der Quantentheorie wurde eine Welt entworfen, die sich in ihrer Ganzheit nicht nur unseren Sinnen, sondern unserer linearen Logik vollständig entzieht. Die evolutionäre Erkenntnistheorie wiederum zementierte die Vorstellung von unserem Gehirn als einem Organ, das nur an einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit angepaßt sei und niemals zu vollständiger Einsicht gelangen könne, während der radikale Konstruktivismus konstatiert, unsere Realität sei nur eine Konstruktion auf der Basis neuronaler Reflexe, die aus einer Wirklichkeit gespeist würden, über deren tatsächliche Qualität wir keinerlei Aussage treffen könnten 5.

Wenn Carlo Rovelli, einer der Mitbegründer der Quantenschleifengravitationstheorie, einem seiner einflußreichsten Bücher den Titel gibt: „Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint“, drängt sich eine unmittelbare Rückbesinnung auf das Höhlengleichnis Platons auf. Selbst die Zeit, anhand derer wir unsere Wirklichkeit sinnstiftend in Ketten von Ursache und Wirkung gliedern, ist in Rovellis Modell nur noch ein sekundäres Merkmal, das emergent aus einem nur abstrakt denkbaren gequantelten Raum hervorgegangen ist6.

Dementsprechend ist die vorherrschende Zielsetzung der modernen Physik die Formulierung einer Weltformel, die alle meßbaren und beobachtbaren, derzeit aber noch nicht miteinander zu vereinbarenden Phänomene schließlich doch vereinen kann und damit ermöglicht, die endgültige Wahrheit hinter den trügerischen Erscheinungen zu erfassen. In der Sprache Platons entspräche das der Suche nach den Urbildern und der die Erscheinungen verursachenden Lichtquelle.

Doch genauso gibt es heute Denkströmungen, die diesem Ansatz diametral entgegengesetzt sind, angefangen bei einer kategorischen Ablehnung der Metaphysik, wie wir sie von Schopenhauer kennen, über Nietzsches Idee des Welt-bejahenden Kindes, bis zur Existentialphilosophie und der Phänomenologie, die sich ausdrücklich der Welt und den darin sich ereignenden Prozessen zuwenden.

In der Physik wurde vor allem vom Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin „Der Abschied von der Weltformel“ ausgerufen, und der Blick auf die Prozesse der Emergenz und das Problem der Komplexität gelenkt, denn ohne ein Verständnis dieser Zusammenhänge sei selbst die Kenntnis der Weltformel bedeutungslos7.
Auch Lee Smolin, neben Rovelli ein Mitschöpfer der Quantenschleifengravitation, regte an, der Zeit genau die Bedeutung zurück zu geben, die sie in unserer menschlichen Welterfahrung hat, nämlich die der einzig tatsächlichen Konstante der Wirklichkeit. Damit wiederum wäre das Individuum vor der Sinnlosigkeit eines zeitlosen Universums, in das wir eine Illusion von Zeit und Leben projizieren, gerettet und dem menschlichen Handeln seine Bedeutung in einem Ursache-Wirkungs-Gefüge zurück gegeben8.

Diese dem Dualismus entgegengesetzten Ansätze zeichnen sich alle dadurch aus, daß sie die großen Antworten nicht jenseits der erfahrbaren Wirklichkeit suchen, wie die Konzepte platonischer Prägung, sondern innerhalb unseres zeitlich linearen Erfahrungskontinuums, so wie auch alle mythischen und religiösen Systeme vor dem Einbruch des Dualismus das Göttliche als der Welt inhärent begriffen haben.

Auch Sabine Mohr setzt sich seit langer Zeit mit dem Problem der Erkenntnisfähigkeit des Menschen angesichts der modernen Physik auseinander und fand dabei auch immer wieder zu der Höhle Platons zurück.
Doch ließ Platons Gleichnis, das durchaus eine Reihe von Inkonsistenzen aufweist, immer viele Fragen zurück, angefangen von der, ob nicht die in der Höhle Gefangenen, wenn man ihnen Schatten der idealen platonischen Körper gezeigt hätte, dazu in der Lage gewesen wären, deren wirkliche Gestalt sowie die Beschaffenheit der Lichtquelle aus dem Gesehenen abzuleiten.

Bereits in diesem Gedankenspiel wird das Merkmal absoluter Wirklichkeit nicht mehr, wie bei Platon und seinen Nachfolgern, nur dem Licht bzw. der Welt außerhalb der Höhle zugeschrieben. Vielmehr wird, um aus den Schatten auf die Gestalt der Körper zurück schließen zu können, der Prozess ihrer Entstehung relevant, und mit dem Blick auf den Prozess auch alle daran beteiligten Aspekte: das Licht, die schattenwerfenden Objekt, die Höhle, auf deren Wand sich die Schatten abzeichnen, und schließlich sogar die Betrachter und ihr Erkenntnishorizont. Sie alle sind auf einmal Teil einer anderen Idee absoluter Wirklichkeit, da sie alle Teil des Prozesses sind, in dem sich diese Wirklichkeit manifestiert. Hier öffnet sich das Reich der Komplexität und Emergenz.

Sabine Mohr, "Der unsichtbare Begleiter", 2021, Ausstellungsansicht

In Sabine Mohrs aktueller Ausstellung im Einstellungsraum nimmt ein Vorhang den Platz der platonischen Höhlenwand ein, auf der die Illusion der Wirklichkeit inszeniert wird. Doch schon die Projektionsfläche selbst ist merklich in einen größeren Kontext eingebunden, in dem ihre Position mit den innenarchitektonischen Elementen des Galerieraums korrespondiert.
Die Schatten, die sich über sie hinweg bewegen, stammen von Modellen der platonischen Körper, die in einer steten Rotation anwachsen, sich wieder zurückziehen und einander durchdringen. Folgt man Platons Bild von dem angeketteten Betrachter, der dieses Schauspiel als die Wirklichkeit hinnimmt, und versucht man sich auf dieser Ebene der Wahrnehmung zu halten, also sich bloß an der Projektion zu erfreuen, fällt jedoch sofort eine weitere Irritation ins Auge: In ihrer Bewegung berühren die Körper den Vorhang und setzen ihn ebenfalls in Bewegung. Die Illusion der Wirklichkeit auf der Oberfläche, das körperlose Schattenspiel, wird durch den Eintritt der realen Körperlichkeit der schattenwerfenden Objekte zerstört.

Ein Blick hinter den Vorhang, der sich auf einem Gang durch den Galerieraum zwangsläufig ergibt, zeigt schließlich die ganze Versuchsanordnung. Doch indem der Prozess sichtbar gemacht wird, wird keineswegs die faktische Wirklichkeit oder die sinnliche Qualität des Phänomens, das sich auf der Vorderseite des Vorhangs abspielt, in Frage gestellt. Denn selbst die detaillierte Kenntnis des Prozesses kann niemals die sinnliche Erfahrung der Erscheinung vermitteln, geschweige denn sie ersetzen, so wie man die sinnlich zugängliche Welt in all ihren ungezählten Erscheinungsformen nicht aus einer Weltformel ableiten könnte. 

Sabine Mohr, "Der unsichtbare Begleiter", 2021, Ausstellungsansicht


Doch im Umkehrschluss wird eben so deutlich, hinter der Welt der Erscheinungen stehen Prozesse, die einer anderen Logik unterworfen sind, als der von uns konstruierten Logik der Schatten auf dem Vorhang, einer Schein-Logik, die der Logik der Narrationen im Kino entspricht: denn die Handlung der Schauspieler auf der Leinwand gehorcht nicht den subjektiven Impulsen der von ihnen dargestellten Figuren, deren Schicksal wir folgen, sondern dem Drehbuch und den uns verborgenen Anweisungen des Regisseurs, also dem Prozess der Entstehung des oberflächlichen Phänomens.

Setzt man diese gedankliche Annäherung an die Installation Sabine Mohrs in Zusammenhang mit dem Jahresthema „Seelenklima“, in dessen Rahmen sie stattfindet, liegt es zunächst nahe, die Vorstellung des Klimas als eines Prozesses heranzuziehen, in dem Temperatur, Niederschläge, Winde, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Bewölkung zusammen wirken, um die Gesamtheit „Klima“ hervorzubringen.
Die tiefer gehende Frage nach der Seele führt so zwangsläufig zu der Frage nach deren Bezugssystem, nach dem Prozess, in dem sie sich manifestiert. So ließe die Installation, die Sabine Mohr explizit als einen offenen Denkraum begreift, in diesem Zusammenhang die Deutung zu, die Seele sei etwas, das weder in einem numinosen Jenseits beheimatet ist, noch in einem von Göttlichkeit durchdrungenen Diesseits, sondern sich erst in einem Prozess manifestiert, der als Tertium Quid zwischen die Materie und die verborgene Wirklichkeit tritt: Ein Verb das zwischen Ideal und Realität wirkt, das keinen festen Ort hat und erst in dem Vollzug des Zusammenspiels der Dinge der Welt ins Sein tritt.



1 Joseph Campbell: Die Masken Gottes Bd. 3 - Mythologie des Westens. dtv, München 1996

2 Christoph Delius et al.: Die Geschichte der Philosophie. Von der Antike bis heute. Könemann, Köln, 2000

3 Alexander Böhlig: Die Gnosis: Der Manichäismus. Artemis & Winkler, München, 1995

4 Joseph Campbell: ibd.

5 Paul Watzlawick: Die erfundene Wirklichkeit – Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Piper, München 1981

6 Carlo Rovelli: Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint. Eine Reise in die Welt der Quantengravitation. Rowohlt, Reinbek 2016

7 Robert B. Laughlin: Abschied von der Weltformel. Die Neuerfindung der Physik. Piper, München 2007

8 Lee Smolin: Im Universum der Zeit. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos. DVA, München 2014



© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, März 2021