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Dienstag, 14. März 2017

Technik und Natur - Ambivalenz und Inversion. Eröffnungsrede zur Ausstellung "Janine Eggert - Superposition“ von Dr. Thomas J. Piesbergen

Die Ausstellung "Superposition" von Janine Eggert  im Einstellungsraum fand statt im Rahmen des Jahresthemas 2017 DREHMOMENT.

Janine Eggert, Superporsition, 2017
Wenn wir uns heute in unserem Lebensumfeld umsehen, sehen wir eine Welt, die vom Menschen gestaltet worden ist. Eingebettet in eine bereits weitgehend überformte Biosphäre befindet sich unsere eigentliche Umwelt, die Technosphäre.
Abgesehen von der Restnatur tritt uns kaum noch etwas entgegen, das nicht in erster Instanz vom Menschen gestaltet worden ist oder ein entropisches Abfallprodukt menschlicher Tätigkeit darstellt. Der Mensch lebt in einem Kontext, der das Ergebnis einer kulturellen Transformation ist. Allerdings hat der Prozess dieser Transformation inzwischen eine Stufe der unkontrollierten Hypertrophie erreicht, und droht nun, ähnlich einem Krebsgeschwür, den Wirtsorganismus, die natürliche Umwelt, zu überwuchern.

Am Anfang der Kultur sehen wir ein umgekehrtes Kräfteverhältnis: Nicht die umgebende Natur ist bedroht, sondern die kulturelle Sphäre des Menschen scheint ein schützenswertes, hochempfindliches System zu sein. In der Bildsprache des frühen Neolithikums stehen sich immer wieder die gezähmte Welt des Menschen und die todbringende Welt der wilden Natur gegenüber. Alle Aspekte des neolithischen Handelns schienen darauf abzuzielen, das Überleben der menschlichen Kultur in einer furchteinflößenden und übermächtigen Umwelt zu gewährleisten, während auf lange Sicht die Natur in zunehmendem Maße transformiert und in kulturelle Strukturen überführt wurde.

Dieser Prozess setzte sich ungebrochen fort, und die Bewertung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt blieb über die Jahrtausende unverändert. Der große Paradigmenwechsel bahnte sich erst im 18. Jahrhundert an und vollzog sich voll ausgebildet im frühen 19. Jahrhundert. Der entscheidende Impuls war die Entwicklung der Dampfmaschine, die die transformierende Wirkkraft des Menschen um ein Vielfaches erhöhte. Endlich schien der Mensch den Sieg im Kampf mit der Natur errungen zu haben. Endlich schien der biblische Auftrag gelungen, sich die Erde Untertan zu machen.

Gleichzeitig aber erschuf sich der Mensch mit der industriellen Technik ein zweites Gegenüber, das ihm nicht nur die Macht zur Beherrschung der Natur verlieh, sondern das ein eigenes Leben zu entwickeln schien:
In der Literatur tauchten zur selben Zeit die ersten Visionen von autark und bewußt handelnden Maschinen und Robotern auf ( z.B. Die Automate und Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann oder The Steam Man of the Prairies von Edward S. Ellis).
Mit dem „Schachtürken“ wurde ein vorgeblicher Schachspielautomat gebaut, von dem behauptet wurde, er wäre tatsächlich in der Lage selbst zu denken, und schließlich entwickelte Ada Byron Lovelace für die analytische Maschine des Charles Babbage um 1840 die erste Programmiersprache der Welt.

Die unterschwellige Angst, sich eine Gegenwirklichkeit geschaffen zu haben, die sich irgendwann gegen den Menschen auflehnt, wie wir es auch in dem ebenfalls in dieser Zeit entstandenen Roman Frankenstein von Mary Shelley finden, korrespondiert mit der beginnenden Entfremdung des Menschen von seiner Arbeitswelt. In den erbarmungslos laufenden Maschinen begegnet er einem Gegenüber, dem er sich im Arbeitsalltag auf Gedeih und Verderb unterzuordnen hat.

Auf der anderen Seite erleben wir zur selben Zeit in dem Kulturphänomen der Romantik eine erstaunliche Inversion des Naturverständnisses: Nicht mehr die Errungenschaften der Kultur erscheinen als die menschlichen Aspekte der Wirklichkeit, sondern die Natur selbst wird zu der wahren Heimat des Menschen, in der er, aus einer bedrohlichen technischen Umwelt fliehend, Zuflucht nimmt.

So heißt es in Die Automate von Hoffmann, der vollkommene musikalische Ton könne niemals aus einem Automaten kommen, er müsse naturnah sein. Als Beispiel wird die Faszination angeführt, die eine Äolsharfe auf den Zuhörer ausübt. Will man also als Musiker, der E.T.A. Hoffmann ebenfalls gewesen ist, einen vollkommenen Ton erzeugen, der das menschliche Herz tief berührt, ist es notwendig, nicht auf seine technisch-kulturellen Fähigkeiten zu vertrauen, sondern auf die uns innewohnende Natur zurückzugreifen und sie durch uns hindurch sprechen zu lassen.
Der Arzt und Philosoph Gotthilf Heinrich Schubert schrieb in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft von 1808, der Kunsttrieb des Menschen sei nur dann erhaben, wenn er als Organ der Natur fungiere. Und erst dadurch werde er wirklich menschlich.

Die Industrielle Revolution führte also dazu, daß Natur und Technik in ihrer Beurteilung durch den Menschen die Rollen miteinander tauschten.

Eine weitere bahnbrechende geistesgeschichtliche Entwicklung, die sich zu dieser Zeit vollzog, war die Entwicklung des Konzepts der Evolution zunächst durch Lamarck, später durch Darwin. Mit einem mal wurden technoide Mechanismen und funktionale Logik, die zuvor nur Teil der menschlich kulturellen Sphäre gewesen waren, zu den grundlegenden Entwicklungs-impulsen der Natur erklärt, wo man zuvor nur von dem Wunder der Schöpfung gesprochen hatte.

Im Umfeld dieser geistigen Strömung entwickelte sich bald die moderne Kulturtheorie, in deren Zentrum immer wieder die Frage stand und bis heute steht, was schließlich die treibende Kraft hinter der Transformation von Natur in Kultur ist.  In diesem Diskurs treten zwei gegensätzliche Positionen zutage:

Die eine wird vor allem vertreten durch den historischen Materialismus und die daraus abgeleiteten Varianten Umweltdeterminismus, Utilitarismus und Funktionalismus. Nach diesen Schulen sind alle Äußerungen der menschlichen Kultur von der Umwelt und der ökonomischen und funktionalen Anpassung an sie bestimmt. Dinge und Beziehungen, die eine kulturelle Bedeutung haben, konnten sie nur dadurch erlangen, daß sie vorher bereits eine ökonomische Bedeutung hatten, die wiederum von den Umweltbedingungen determiniert worden ist.
Die Urheberschaft jeglicher Formgebung geht nach dem Umweltdeterminismus in letzter Instanz also zurück auf die uns umgebende Natur, die sich uns anbietenden Ressourcen und unsere Anpassung daran.

Dem widerspricht die Denktradition des Possibilismus. In ihrem Zentrum steht nicht die Logik der Funktion, sondern die Logik der Bedeutung, wie z.B. im Strukturalismus von Claude Levi-Strauss oder in der Theorie kultureller Ordnung von Marshall Sahlins. Nach ihr erhalten Dinge nicht durch ihre praktische Nützlichkeit Bedeutung, sondern dadurch, daß sie sich im Analogiedenken dazu anbieten Bedeutung aufzunehmen. Sie erhalten dadurch Bedeutung, daß sie sich gut denken lassen. Die so entstehenden Beziehungen der Dinge sind per se ästhetischer Natur und ihr Ursprung liegt in der geistigen Natur des Menschen.
Die Urheberschaft jeglicher Formgebung geht nach dem Strukturalismus in letzter Instanz also auf das uns innewohnende Analogiedenken zurück, auf die uns innewohnende Natur, nicht die Funktionalität einer äußeren, uns umgebenden Natur.

In der Genese der Geisteswissenschaft erleben wir also eine ganz ähnliche Inversion der Begriffe von Natur und Kultur wie im Zuge der Romantik.

Der historische Materialismus sieht unsere Lebenswirklichkeit als ein Produkt der Anpassung an übermächtige Naturkräfte an. Die kulturelle, technische und dem Menschen entfremdete Umwelt der marxistischen Theorie ist entsprechend nichts anderes als die maskierte feindliche und alles beherrschende Natur. So wie der neolithische Mensch der Gewalt von Unwetter, Dürre oder Kälte ausgesetzt war, ist der Mensch des Industriezeitalters der erbarmungslosen Funktion der Dampfmaschine untergeordnet. Er lebt in einer Welt, deren Gestalt dem Primat der Funktionalität unterworfen ist. Auf diesem Wege wird der ästhetische Gestaltungswillen des Menschen unterlaufen. Der Mensch lebt also nicht in einer gestalteten, sondern in einer funktional angepassten Welt.

Diese Argumentation scheint plausibel, wenn man sich z.B. die Gestaltung von Maschinenteilen anschaut. Sie sind Produkte reiner Funktionalität und entsprechend erscheint ihre Form unter ästhetischen Gesichtspunkten absichtslos zu sein, wie auch die Gestalt einer Blume oder eines Schneckengehäuses im Sinne der Blume oder Schnecke zwar funktional, aber ästhetisch absichtslos ist. Dennoch gibt es sowohl industrielle wie natürliche Formen die in hohem Maße ästhetisch ansprechend sind.
Der essentielle Unterschied besteht darin, daß Objekte aus dem industriellen Kontext trotz ihrer rein funktionalen und deshalb fremdartig wirkenden Gestalt, der Sphäre der Kultur, der Sphäre des Menschen entstammen. Und da die Anpassung des Menschen sich immer auch in Form einer ökonomischen Ordnung niederschlägt, sind deren formale Erscheinungen also auch Repräsentationen von Herrschaftsstrukturen.

Janine Eggert setzt sich in ihren Arbeiten schon seit längerer Zeit mit diesem Spannungsfeld zwischen reiner Funktionalität und ästhetischer Bedeutung von Formen auseinander,  mit deren sozio-politischer Bedeutung sowie mit Momenten der Superposition, wenn sich also verschiedene dieser genannten Aspekte überlagern.

Die Formen anhand derer sie ihre Arbeiten entwickelt, findet sie in erster Linie in den erwähnten industriellen Kontexten. Sie nimmt sich Getriebeteile zum Vorbild oder Arme von Werkzeugautomaten.
Den meisten von uns ist die Faszination bekannt, die die Formen solcher Maschinenteile ausüben können, und nicht selten zieren sie als „ready mades“ unsere Wohnungen - genau wie es Blumen, Schneckengehäuse oder Muscheln oft tun. Doch neben der ästhetischen Faszination bleibt auch immer der entfremdete, kalte Beigeschmack der reinen, unmenschlichen Funktion und der bereits erwähnten Repräsentation von Herrschaftsstrukturen. Denn schließlich scheint uns ein Strand oder eine Blumenwiese ein menschlicherer Ort zu sein, als eine Maschinenhalle, obwohl es sich eigentlich gerade umgekehrt verhalten sollte.

Diesem Widerspruch begegnet Janine Eggert mit der bereits erwähnten und gegenläufigen Logik des Strukturalismus und seinem Analogiedenken, nach dem die ästhetische Gestaltgebung und Bedeutungszuweisung nicht der Funktion folgt, sondern ihrer Eignung, unsere Vorstellungen und Gedanken aufzunehmen und zu repräsentieren. Dafür unterzieht sie die Objekte einer zweiten Transformation, in der nicht Natur in Kultur, sondern funktionale Kultur in ästhetisch bedeutsame Kultur transformiert wird.

Janine Eggert, Superposition, 2017

In der Ausstellung „Superposition“ sehen wir zwei Objekte, die in Tiffany-Technik ausgeführt sind, eines nach tatsächlich funktionalem Vorbild, eines nur von Maschinenteilen inspiriert. Allein die Wahl des Materials macht die Überführung in die Sphäre des Menschlich-Ästhetischen überdeutlich. Die Objekte werden dadurch der Assoziation an ihre mögliche Funktion weitgehend enthoben. Was bleibt sind reine Formen, die, aus dem funktionalen Kontext gelöst, als schön erkannt worden sind.
Durch diese betonte Visualisierung einer neuen, rein ästhetischen Bedeutungs-zuweisung, die durch ihre Zerbrechlichkeit und die handwerkliche Ausführung mit ihren zahllosen kleinen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet ist, wurden sie aus ihrem entfremdeten Zusammenhang errettet und wieder zu Gegenständen, die der Sphäre des Menschen und seiner kulturellen Ordnung zugeordnet werden können.

Janine Eggert, Superposition, 2017

Mit diesen beiden Arbeiten korrespondieren die Logos von Computerfirmen aus den 60er Jahren, die sich einer gegensätzlichen Methode bedienen. In ihnen wurden Bauteile früher Computer auf ihre strukturelle Idee zu Piktogrammen reduziert, die mit ihrer fremdartigen Gestaltung und Perfektion den Eindruck der Erhabenheit wecken sollen. Die Art der ästhetischen Überhöhung führt nicht zu einer Rückführung in die menschliche Sphäre, sondern zu einer verbildlichten Festigung der Herrschaftsstrukturen, die sich mit dem Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter fortgesetzt haben.

Janine Eggert, Superposition, 2017

Aus ihnen spricht der teleologische Optimismus des historischen Materialismus, der darauf abzielt, die Technik sei wie die Natur und die Gesellschaft schließlich doch beherrschbar und kontrollierbar. Ist diese Kontrolle einmal etabliert, liegt in dem bedrohlichen Gegenüber, gleich ob Natur oder Technik, das große Heilsversprechen. Denn so wie die Natur des neolithischen Menschen in ihrer wilden Form den Tod bringt und in der gezähmten Form Leben schenkt, so versklavt die Technik den Menschen, wenn sie nicht selbst im Sinne des Menschen beherrscht wird, um ihm den Weg in ein technisches Utopia zu ebnen.

Darauf, daß diese Vorstellung von Kontrolle nicht den Tatsachen entspricht, sondern eine reine Konstruktion ist, scheint der Einbau zu verweisen, auf dem sich die Objekte und Piktogramme befinden. Der Einbau, der ein völlig dem menschlichen Gestaltungswillen unterworfenes Umfeld vorstellt und zu gleichen Teilen von Displays aus Designerläden der 60er Jahre und der Innenraumgestaltung von Containerschiffen inspiriert worden ist, besteht aus einem Modul, das ganz im Sinne industrieller Fertigung seriell hergestellt und bis in die Unendlichkeit verlängert werden kann, wodurch es seine menschliche Dimension wiederum einbüßt.
Gleichzeitig wird der Einbau durch die Offenlegung seines Unterbaus als Konstruktion und ephemere Kulisse entlarvt, die die tatsächliche Umgebung, den faktischen Ort maskieren und unsichtbar machen soll. Die perfekte Kontrolle der Umgebung ist nur eine in hohem Maße fragile Inszenierung.

Janine Eggert, Superposition, 2017
In einer Videoarbeit wird einmal mehr das höchst ambivalente Verhältnis von Mensch und Technik in gegeneinander gesetzten Bilder herausgearbeitet. Wir sehen Maschinenelemente, Gänge in den Eingeweiden von Containerschiffen, Stills von Maschinenhallen, Filmabschnitte, in denen man eine vollbesetzte Fähre in tobendem Wasser wie eine Nußschale treiben sieht. Die Bilder hinterlassen in uns zwiespältige Gefühle. Einerseits scheinen sie ganz gezielt auf die einschüchternde und düster-erhabene Ästhetik einer Maschinen-herrschaft a la Terminator anzuspielen, von der wir uns, zunächst voller Vertrauen, vollkommen abhängig gemacht haben. Andererseits verweisen sie auf die Utopie eines perfekten technisch-funkktionalen Environments, das uns schließlich ermöglichen kann, den nächsten großen Schritt in ein interstellares Zeitalter zu vollziehen. Ob uns dieser große Schritt gelingen kann oder wir genauso wie die Passagiere der Fähre zum Spielball einer schließlich doch noch größeren Natur werden, bleibt offen.

Janine Eggert, Video-Still: Beginning of Infinity, 2016

Die Ausstellung „Superposition“ veranschaulicht auf eine sehr komplexe und subtile Art und Weise diese Ambivalenz im Verhältnis von Mensch und Technik. An dieser Ambivalenz liegt es, daß wir in den letzten 200 Jahren Kulturgeschichte immer wieder Entwürfen einer Zukunft begegnen, die beständig changiert zwischen Verheißung und Apokalypse, und die sich zu jeder Zeit in ihr Gegenteil verkehren kann.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2017



Montag, 6. März 2017

Transformation und Realitätskompost - Einführungsrede zu der Ausstellung "Silja Ritter - Every Cloud Has a Silver Lining" im Kulturforum Buxtehude von Dr. Thomas Piesbergen


Silja Ritter, Nose-Bear

Es gibt die landläufige Redewendung, „Kunst kommt von Können“. Diese reichlich abgenutzte Phrase geht in der Regel einher mit einem Kunstverständnis, das es nicht zu leisten vermag, zwischen Kunsthandwerk und freier Kunst zu unterscheiden.

Der Kunsthandwerker stellt schöne und praktische Gegenstände auf bestenfalls hohem handwerklichen Niveau her und bedient sich dabei überlieferter Techniken und einer bereits vorgefundenen Formensprache, die er lediglich variiert, wenn auch mitunter sehr ansprechend. Er integriert sich in ein bestehendes System.
Die Aufgabe des freien Künstlers jedoch besteht darin, dieses System zu transzendieren, zu transformieren und es schließlich neu zu erschaffen.

Die künstlerische Laufbahn Silja Ritters begann hier in Buxtehude mit einer Ausbildung zur Photographin, einem Beruf, den man im weiteren Sinne dem Kunsthandwerk zuschlagen kann. Während ihres anschließenden Studiums der Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg verließ sie bereits dieses klar abgesteckte Terrain und begab sich damit in einen künstlerischen Bereich, in dem sich die Sphären von Kunsthandwerk und freier Kunst überlagern. In dieser Sphäre also sind Übergänge von dem einen in den anderen Bereich künstlerischer Tätigkeit latent. Im Fall von Silja Ritter vollzog sich dieser Übergang zu Gänze spätestens mit ihrem darauf folgenden Studium an der Ecole Beaux-Arts in Paris, wo sie als DAAD-Stipendiatin schließlich Freie Kunst studierte.

Thomas Piesbergen (l.), Sila Ritter (m.), Vernissage, Photo: Thorsten Laß

Natürlich stellt jedes Ende eines Entwicklungsabschnitts den Anfang eines neuen dar. Und damit komme ich zurück zu der bereits angesprochenen Aufgabe, der Arbeit des freien Künstlers: Was bedeutet es, Systeme zu überwinden und sie zu transformieren? Es bedeutet, zu erschaffen, neu zu schöpfen, eigene Bildwelten und eine eigene Formensprache zu entwickeln.

In alle großen Schöpfungsmythen der Welt geht dem ersten Akt der Gestaltwerdung die universelle Formlosigkeit voran. In Ägypten war es der Ur-Ozean. In Babylonien das Ur-Chaos, das manchmal auch mit der ozeanischen Ur-Göttin Tiamat identifiziert wurde. In den hinduistischen Veden schwimmt das goldene Ei des Brahma, bevor es sich öffnet, 1000 Jahre im Ur-Chaos des Nicht-Seins.
In den orphischen Schöpfungsmythen erschafft Chronos, das personifizierte dunkle Ur-Chaos, aus dem Äther das silberne Weltenei. Auch im pelasgischen Schöpfungsmythos steht am Anfang der chaotische Ur-Ozean. Selbst in der finno-ugritischen Kalevala begegnen wir dem Ur-Ozean, in den eine Taucherente das Weltenei legt.

Und natürlich begegnen wir dem Ur-Ozean, diesem Sinnbild des formlosen, ur-anfänglichen Chaos, auch in der Bibel. Bevor Gott mit dem eigentlich Schöpfungsakt beginnt, schwebt sein Geist über der Urflut, in der Licht und Dunkelheit, Himmel, Wasser und Erde noch nicht voneinander geschieden sind. Er ist konfrontiert mit einer Formlosigkeit, einer Grenzenlosigkeit, die noch keine Anhaltspunkte bietet und in der doch alle Möglichkeiten bereits vorhanden sind.

Die Situation des freischaffenden Künstlers ist durchaus mit diesem Bild zu vergleichen. Natürlich ist kein Künstler dazu genötigt, und zudem auch gar nicht in der Lage, selbst wenn er wollte, eine Creatio ex Nihilo zu bewerkstelligen, denn er ist bereits von einer Formen- und Dingwelt umgeben. Aber um etwas Neues zu schaffen und eben nicht nur innerhalb des gegebenen Systems zu agieren, muß der Künstler hinter diese Dingwelt schauen, sie dadurch relativieren oder ihre Strukturen auflösen und sie wieder in das ur-anfängliche, grenzen- und formlose Chaos zurückführen können, um daraus eine eigenständige Bildwelt und Formensprache zu erschaffen.

Diese Bedingtheit erfordert es, sich in ununterbrochener Auseinandersetzung zu befinden mit den überlieferten Bildern und den inneren Strukturen, die mit diesen Bildern korrespondieren - und natürlich mit den Auflösungsprozessen, die den künstlerisch arbeitenden Geist mal in elysische, entgrenzte Gefilde führen können, mal in die dunklen und furchteinflößenden Abgründe des formlosen Chaos.

Silja Ritter, Be

Mit nichts Geringerem als genau diesen Phänomenen, dieser Arbeit, diesem Kampf an der Grenze zwischen bekannten Strukturen, der Formlosigkeit und dem Aufdämmern einer neuen Welt voll neuer, eigenständiger Formen, Beziehungen und Erscheinungen, beschäftigen sich die Arbeiten von Silja Ritter.

Um das zu veranschaulichen, möchte ich versuchen, einzelne wiederkehrende Bildelemente oder Motive zu isolieren, die sich in den Malereien in vielen Schichten immer wieder überlagern, miteinander um die Vorherrschaft ringen oder einander stützen.


Silja Ritter, And You Do Nothing Wrong

Da Silja Ritter das gegenständliche Malen schon vor langer Zeit hinter sich gelassen hat, sehen wir auf fast allen Bildern, meist den Grund bildend, mal aus anderen Formen wieder hervorbrechend, das grenzenlose, amorphe Ur-Chaos, meist in dunklen, schwer benennbaren Farbverläufen. Darin scheinen entweder viele Farben zu einem undefinierbaren Schlamm zusammengefallen zu sein, oder sie scheinen sich noch nicht aus einer Art latenter Ursuppe gelöst zu haben. Sie können also verstanden werden einerseits als die Bedrohung durch Verfall und Depravation, andererseits als ein Substrat, das zwar selbst aus seinem amorphen, grenzenlosen Zustand nicht hervortreten, aber als Nährboden für andere Erscheinungen dienen kann, eine Art kompostierte Wirklichkeit, die als Dünger für Zukünftiges dienen kann.

Ein nächstes Element wären die klaren und deutlich erkennbaren Formen, Symbole, Buchstaben, die aus einer uns allen geläufigen Symbolsprache stammen. Sie wirken in dem um Ordnung ringenden Chaos der Bilder wie Verankerungen in einer alltäglichen Gegenwart.

Silja Ritter, Fragmichnichichweißesauchnich

Mal sind es Zeichen, die den entdeckenden und gestaltenden Geist aus dem schöpferischen Chaos zurück in den Alltag rufen und an Verpflichtungen erinnern, wie z.B. ein Telefonsymbol oder ein einzelner, strenger Buchstabe, der an die strikten Konventionen unserer Kommunikationssysteme gemahnt.

Andere Elemente wiederum wirken wie eine ersehnte Zuflucht zu vertrauten und haltgebenden Konzepten, die uns vor der dunklen Nacht der Seele bewahren können, wie schlichte Herzen, Blumen oder Sterne.

Silja Ritter, All I Want

Die einen stehen also für Strukturelemente, die von Außen an uns herangetragen werden und uns zurück in den Alltag rufen. Die anderen stehen für solche Formen, Vorstellungen und Routinen, die aus uns selbst, nach den in uns gespeicherten Mustern, gezielt erzeugt werden, da sie uns eine Rückkehr in die mitunter wohltuenden Verhaltensnormen des Alltags ermöglichen.

Denn schließlich können wir nicht ohne diese äußeren Strukturen, ohne die alltägliche Welt und ihre Übereinkünfte und Beziehungen leben. Diese Abhängigkeit erläutert sehr anschaulich eine kleine Anekdote aus der Zen-Buddhistischen Tradition: Ein Schüler fragt seinen Meister: „Sensei, was kommt nach der Erleuchtung?“ Der Meister antwortet: „Wasser holen und Holzhacken.“


Silja Ritter, Flying to You

Als drittes auffälliges Element der Malerei Silja Ritters fallen Formen ins Auge, die wirken, als seien es organische Rohlinge, alchimistische Halbfabrikate, die sich noch im Prozess ihrer Entstehung befinden. Manche organischen Strukturen scheinen gerade der Ursuppe entwachsen zu sein, andere wirken, als wären es hybride Zufallsprodukte, entstanden aus sich überlagernden Erinnerungen oder Echos bekannter Formen. Man meint mal Augenwimpern erkennen zu können, mal fischartige Umrisse oder Gebilde, die an altsteinzeitliche Frauenidole erinnern. Diese Bildelemente können vielleicht als erste, werdende Schöpfungen einer eigenständigen Wirklichkeit gelesen werden, als geistige Homunculi, die, wenn sie schließlich zu einer endgültig festen, autarken Form gefunden haben, eine neu erschaffene Bild-Welt bevölkern könnten.

Das letzte markante Element, das ich in der malerischen Grammatik von Silja Ritters Bildern herausarbeiten möchte, korrespondiert wieder mit dem amorphen und farblich unbestimmbaren Verläufen, dem Realitäts-Kompost, dem rückgeführten Ur-Chaos: Es sind die klaren, leuchtenden und sauber voneinander geschiedenen Farben. Manchmal gruppieren sie sich und bilden einzelne Formen nach, doch in den meisten Fällen scheinen sie aus den streng umrissenen Formen hervor zu leuchten, wie das Licht der Sterne in der platonischen Weltvorstellung: das reine Licht aus dem Reich der Ideen, das durch die Löcher im Firmament in unsere Welt dringt.

Silja Ritter, Treasure

In unserem Vorgespräch sagte mir Silja Ritter, manchmal wünschte sie sich, mit nichts anderem malen zu können als mit farbigem Licht, vergleichbar mit dem Licht, das durch bunte Kirchenfenster fällt und mit seinen leuchtenden Farbfeldern sogar imstande ist, die konkrete Architektur vor unseren Auge nahezu aufzulösen.

In diesem Sinne stünde die reine Farbe in Silja Ritters Bildern für ein Utopia, in dem es dem Künstler gelungen ist, die vorgefundene Welt mit ihrer Dinglichkeit und ihren Struktur zu überwinden, und das Substrat, in das sich die überwundene Welt aufgelöst hat, zu läutern und scheiden in die reinen Farben, das reine Licht des Elysiums, eine endgültige, geläuterte utopische Wirklichkeit.


Silja Ritter, In Deinem Nichts hoffe ich das All zu finden

In dem Versuch, sich diesem Ringen und diesem Prozess bildnerisch zu nähern, in dem sich der Künstler nicht mehr in ein bestehendes System integriert, sondern daran arbeitet, es zu transformieren, ist es Silja Ritter gelungen, eine im hohen Maße eigenständige Bild- und Formensprache zu entwickeln, eine Art symbolischer Grammatik der essentiellen Bedingtheit künstlerischen Schaffens, die nicht nur eine hohe intellektuelle Dichte aufweist, sondern gleichzeitig einen mitreißenden sinnlichen Sog ausübt, der sowohl den furchteinflößenden Abgrund der Formlosigkeit, als auch das elysische Utopia am Horizont des künstlerischen Schaffens erahnen läßt

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein Ausstellungserlebnis, das ihnen nicht nur einen hohen sinnlichen Genuß bereiten wird, sondern auch ihren Sinn für die Wirklichkeit und deren mögliche Transformationen bereichern kann.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, März 2017