Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
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Donnerstag, 19. August 2021

Die Unvergänglichkeit des Vergänglichen - Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Sic transit… In Memoriam Love on Tour“ von Ursula Steuler


Wenn ein neu gewählter Papst zur Zeit der Renaissance zum ersten mal den Petersdom betrat, entzündete ein Zeremoniar, um den Papst der eigenen Vergänglichkeit zu gemahnen, dreimal ein Bündel Werg und rief dabei die Worte: „Sic Transit Gloria Mundi“, „So vergeht der Ruhm der Welt“. Die Redewendung geht auf den mittelalterlichen Mystiker Thomas von Kempen zurück und sie hat, seitdem sie vom Vatikan übernommen wurde, als geflügeltes Wort Verbreitung gefunden.

Doch während die deutsche Übersetzung mit dem Begriff des „Vergehens“ die Vergänglichkeit betont und damit eine große Nähe zum „memento mori“ aufweist, schwingt in der lateinischen Urform noch eine andere Botschaft mit.
Denn das Verb „transitare“ bedeutet nicht „vergehen“ sondern „durchschreiten“. Es wird also nicht auf die Endlichkeit alles Weltlichen und damit auch auf den Tod verwiesen, sondern nur auf die Vergänglichkeit eines Zustandes, der nichts anderes ist, als ein Übergangsfeld. Die Formel verweist also lediglich auf den ewigen Wandel, dem die Welt unterworfen ist.

Die abendländische Überlieferung dieser Perspektive auf die Wirklichkeit geht auf Heraklit zurück, der das Bild eines Flußes entwarf, der sich niemals gleich bleibt.
Ausgehend von dieser Quelle einer geistesgeschichtlichen Tradition mündet die Überlieferung schließlich in den Erkenntnissen der modernen Physik, die einerseits eine Wirklichkeit entwirft, deren Fundament das unstete Gewimmel der subatomaren Welt ist, in der, wie im Fluß des Heraklit, nichts fassbar und gleichbleibend ist, und die andererseits mit den Erhaltungssätzen verkündet: Nichts auf der Welt geht verloren, es geht lediglich in einen anderen Zustand über. Panta rei: Alles fließt, nichts bleibt wie es ist und nichts vergeht.

Selbst Schwarze Löcher, jenseits deren Ereignishorizont unsere Konzepte von Wirklichkeit nicht mehr anwendbar sind, sind nicht imstande, die Information zu zerstören, die in der von ihr verschlungenen Materie gespeichert ist. Denn während die Materie selbst in einer Singularität jenseits von Zeit und Raum verschwindet und nur noch in Form einer zunehmenden Gravitation mit dem Universum verknüpft ist, wird die Information über sie durch rätselhafte Quanteneffekte mittels der sogenannten Hawking-Strahlung wieder emittiert. Das Universum vergisst nichts.

Doch wie ist es um das menschliche Gedächtnis bestellt? Unsere Alltagserfahrung lehrt uns, daß Menschen vergessliche Wesen sind. Dinge und Ereignisse, die für uns keine Relevanz haben, werden von unbewußten Routinen rasch aussortiert und gar nicht erst mit unseren assoziativen Netzwerken verknüpft, es werden also keine konkreten langfristigen Erinnerungen gebildet; andere, etablierte Pfade der Erinnerung hingegen werden verschüttet, wenn wir sie nicht regelmäßig benutzen und scheinen später unauffindbar; und manche Dinge, die zu vergegenwärtigen zu schmerzhaft sind, verdrängen wir, sodaß sie tatsächlich aus unserem Gedächtnis gelöscht zu sein scheinen, meist so gründlich, daß wir nicht einmal mehr eine Leerstelle spüren.

Experimente mit Hypnose haben allerdings gezeigt, daß diese unauffindbaren, vergessenen und abgespaltenen Erinnerungen z.B. über sogenannte „Affektbrücken“ durchaus noch zugänglich sind. (1) Die Psychoanalyse wiederum hat uns gelehrt, daß die abgespaltenen Ereignisse, obwohl wir nichts mehr von ihnen wissen oder wissen wollen, einen massiven Einfluß auf unser Leben und Handeln haben. Denn sie sind nicht verloren, sie sind nur in einen anderen Zustand übergegangen und wirken nun maskiert und indirekt auf uns ein.

Was für die subjektiven Erinnerungen gilt, gilt genauso für das kollektive Gedächtnis. Gerade im letzten Jahrzehnt wurde die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf das kollektive Trauma des 2. Weltkriegs und des Nazi-Regimes gelenkt, das nicht nur die heimsucht, die von den historischen Ereignissen betroffen gewesen sind, sondern auch deren Kinder und Enkel, ungeachtet dessen, ob sie von den auslösenden Ereignissen wissen oder nicht.
So wie der Einzelne Vermeidungsstrategien zum Selbstschutz entwickelt, so tun es auch ganze Gesellschaften, um nicht die auf ihr lastende Schuld und die erlittenen Verletzungen spüren zu müssen. Doch da die daraus entstandenen Handlungsroutinen und gesellschaftlichen Normen um einen Schmerz herum gewachsen sind, wird auch die Form des Schmerzes weitergegeben, sobald die Routinen und Normen tradiert werden. Auf diesem Umweg können auch Kinder unter seelischen Beschädigungen leiden, deren Ursachen in der Generation ihrer Großeltern verborgen liegen (2).

Aber kehren wir noch einmal zurück zu unserer alltäglichen, oberflächlichen Vergesslichkeit: Daß wir sie alle als ein Faktum unseres Seins akzeptiert haben, zeigt sich in unserer Gewohnheit, Erinnerungen an materiellen Dingen zu verankern. Das kann ganz profan geschehen mit einem Kalender oder einem Knoten im Taschentuch, der uns an einen Termin erinnern soll; oder sinnlich-poetisch in Form der Haarlocke eines geliebten Menschen, einer Muschel vom Strand, der Uhr eines verstorbenen Angehörigen. Natürlich gehören auch Urlaubsandenken dazu, genauso wie die irgendwann leerstehenden Kinderzimmer, die von manchen Eltern nur zögerlich einer neuen Funktion zugeführt werden. Wir umgeben uns also bewußt mit einem Archiv von Dingen, um Erinnerungen und Gefühle am Leben zu erhalten.

Zunächst mag es so scheinen, als würden die Dinge Erinnerungen für uns speichern. Doch natürlich können die einzelnen Dinge lediglich Erinnerungsereignisse auslösen. Denn die Erinnerungen, auch wenn sie eine Weile verschüttet sein mögen, sind immer und ausschließlich in unserem Geist verwahrt.
Doch mit Hilfe solcher materieller Gedächtnisstützen können wir nicht nur Erinnerungen wieder beleben, vor dem Versinken bewahren oder sie sogar aus dem Orkus der Verdrängung emporziehen, sie ermöglichen uns ebenfalls, einzelne Erinnerungen aus dem großen Strom zu lösen und mit ihnen umzugehen. Sie ermöglichen es uns auch, zuvor disparate Erinnerungen zusammenbringen und mit ihnen zu spielen, in dem wir die Bedeutungsträger anderen Kontexten aussetzen.

Walter Benjamin schrieb einmal: „Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Körper entfernt.“ (3)  Und Machado de Assis ließ eine seiner Figuren in den Posthumen Erinnerungen des Bras Cubas über ihr Scheitern in der Kunst sagen: „...niemand wird mir echte Empfindungen absprechen können. Es ist aber auch möglich, daß gerade meine Gefühle wirklicher Vollendung im Wege standen…“ (4)
Beide Zitate verweisen darauf, daß erst eine Distanzierung von den eigenen Gefühlen und Erinnerungen ermöglicht, unsere Befangenheit zu lösen, um mit dem Erinnerten schöpferisch umzugehen. So kann also auch ein Archiv von Memorabilia uns helfen, unseren Erinnerungen nicht mehr nur ausgesetzt zu sein, sondern sie spielerisch als Rohmaterial nutzen zu können, um Neues aus ihnen zutage zu fördern und ihren Bedeutungsgehalt zu verändern, um so schließlich Vergangenes verarbeiten zu können.
Genauso ist es möglich, Erinnerungen auszugraben, die von uns verdrängt worden sind, die uns aber dennoch in maskierter Form gesteuert haben, und die wir schließlich, sind sie einmal zutage gefördert und demaskiert, überwinden und artikulieren können.

Der eigenen Vergesslichkeit und des assoziativen Potenzials der Dinge gewahr, baut sich Ursula Steuler schon seit langer Zeit aktiv ein solches Archiv aus bedeutungstragenden Objekten auf. Dabei untersucht sie, ausgehend von ihrer persönlichen Geschichte, deren historischen Kontext, also die seelische Bedingtheit und Verfassung eines ganzen Landes im Wandel der Zeit, und schließlich die Gegebenheiten des Erlebens und des Erinnerns an sich und den damit unmittelbar verknüpften Umgang mit der Zeit.

Ein entscheidendes Momentum ist dabei immer die Transformation, die die Erinnerungen dabei unterlaufen. Am plastischsten kann das anhand einer Reihe von Spazierstöcken illustriert werden, die Ursula Steuler mit aufwendigen textilen Überzügen eingekleidet hat.
In ihrem persönlichen Assoziationsraum ist der Spazierstock auf das Engste mit ihrem Großvater und dessen Nazivergangenheit verknüpft. Doch an dieser Vergangenheit wurde nie gerührt, so wie auch das Nachkriegsdeutschland seine jüngste Geschichte so rasch wie möglich verdrängen wollte. So sagte Konrad Adenauer schon 1952 im Bundestag: „Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei mal Schluss machen. Denn verlassen Sie sich darauf: Wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört.
Statt also die Naziverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, wurde diese schwärende Wunde einer unerträglichen Schuld zugedeckt mit dem Heimat- und Wohlstandskitsch der 50er Jahre, den erst die Studentenbewegung der 60er Jahre auf dem Müllhaufen der Geschichte zu entsorgen begann.
Diese Kaschierung der Vergangenheit, die plüschige Gemütlichkeit mit Häkeldeckchen und röhrendem Hirschen, wird von Ursula Steuler aufgegriffen durch die gehäkelten Überzüge. Die Oberfläche erscheint harmlos und flauschig. Doch formgebend, gleich dem verdrängten Kern einer traumatischen Erinnerung, ist noch immer der harte Holzstock des niemals bloßgestellten, geschweige denn bestraften Nazis.

Zugleich wird mit der Handarbeit das reaktionäre Frauenbild aufgegriffen, das vom NS-Regime propagiert und in den 50er Jahren nahezu unverändert beibehalten worden ist. Doch wird es in einer schrillen und rebellischen Parodie gezeigt, denn die in braver Handarbeit gefertigten Hüllen, erinnern eher an die aufreizenden Kostüme einer Travestieshow. Sie zeigen einen verspielten Widerstandsgeist, der zwar noch nicht zu einer eigenen Form finden kann, aber den in ihm steckenden Kern durch Flamboyanz ins Lächerliche zieht.

Eine weitere Arbeit besteht aus Stofftaschentüchern aus dem Nachlass der Eltern der Künstlerin, die auch unabhängig ihrer Herkunft aus der persönlichen Sphäre auf eine vergangene Zeit verweisen, in der andere Vorstellungen von Hygiene vorherrschten. Sie hängen aufgereiht an einer Wäscheleine und sind bestickt mit „Sic Transit“, einer Kurzform der bereits erläuterten Formel „Sic Transit Gloria Mundi“.
Hier öffnet sich ein ganzes Netz von Bezüglichkeiten und Assoziationen: Das Auswaschen von unerwünschten Flecken, die auf Gewesenes verweisen. Das Taschentuch, mit dem man zum Abschied winkt oder in das man hineinweint. Fotografien, die nach ihrer Entwicklung in der Dunkelkammer zum Trocknen aufgehängt werden, aufgereiht wie einzelne Erinnerungsfragmente an einem roten Faden.
Der aufgestickte Spruch ist dabei auch durchaus selbstbezüglich. Denn durch die Stickerei ist der ursprüngliche Zweck des Taschentuchs vergangen, so wie die damit verknüpfte Zeit mit ihren Menschen vergangen ist. Das Material jedoch ist geblieben und wurde durch seine Transformation künstlerisch angeeignet und damit dem beherrschenden Einfluß einer vergangenen Zeit entrissen. Die losen Fäden, die von den aufgestickten Buchstaben hängen, verweisen jedoch auf etwas Unabgeschlossenes, auf ein Gewebe aus Beziehungen, und vor allem auf die Möglichkeit des Anknüpfens.

Eine andere, minimalistische Gruppe von Arbeiten behandelt die bloße Zeit und den Versuch ihrer konkreten Materialisierung. Mit verschiedenen Garnen und Fäden hat Ursula Steuler jeweils eine Stunde lang Luftmaschen gehäkelt, entsprechend hat jeder daraus entstandene Faden eine andere Textur und Länge. Diese Arbeiten stammen aus Momenten bleierner, ereignisloser Zeit, mit der nichts anderes verknüpft werden kann, als eben ihr Verstreichen. Sie schaffen das Bewußtsein dafür, selbst dann am Leben zu sein, wenn sich nichts Erinnerungswürdiges ereignet.
Doch in dem man die Zeit in einem materialisierenden Prozess mißt, sie ergreift und ihr einen sicht- und fühlbaren Körper gibt, so wird sie der Erinnerung und dem eigenen Leben einverleibt, das so um eine Stunde Erinnerung länger wird.

Einige solcher Stunde wiederum werden in dem Objekt „Neue Saiten“ mit einem Gegenstand kombiniert, der, ähnlich wie die Sammlung von Spazierstöcken, von dunklen Erinnerungen belastet ist: Eine alte Geige, deren Transformation durch die Bespannung mit Luftmaschenschnüren unmittelbar bevorzustehen scheint. Ihr Korpus wird zukünftig nicht mehr die Musik aus dem etablierten Repertoire bürgerlicher Erbauung erklingen lassen, sondern nur noch Resonanzraum für eine imaginierte Musik sein, die auf der selbst durchlebten, selbst durchwirkten und dadurch vor dem Nichts geretteten und einverleibten Lebenszeit gespielt wird.

Diese und etliche andere Exponate sind alle miteinander verknüpft durch ein Projekt, mit dem Ursula Steuler 17 Jahre einen roten Faden durch ihr gesamtes Werk gezogen hat, das mit der Möglichkeit zur Artikulation von Erinnerung zusammenhängt. Mit der schöpferischen Distanzierung und der Verdinglichung von Erinnerungsanlässen ist es möglich, sonst nur schwer fassbare oder schwer zu ertragende Erinnerungen sowohl im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn zu „begreifen“ und damit mitteilbar zu machen. Sie erhalten eine stellvertretende benennbare Gestalt. Hiermit wird ein weiteres mal die Grenze vom Persönlichen zum Allgemeingültigen überschritten, denn durch die verdinglichte Umsetzung und die damit einhergehende Abstraktion einer Erfahrung, tritt ihre elementare Struktur zutage und offenbart ihren universellen Charakter, an den andere, über den Umweg der visuellen Metapher, anknüpfen können. Es entsteht ein Dialog.

Dieser Logik entsprechend war Ursula Steuler 17 Jahre lang mit einem alten Wohnwagen unterwegs, der zugleich Exponat, Ausstellungsort und Begegnungsstätte war. Ein Ort, an dem der Umgang mit Erinnerung mit all seinen Stationen in Form des Dialogs Gestalt annehmen konnte; ein Ort, an dem sich eine schöpferische Distanzierung von den uns beherrschenden Erinnerungen ereignen konnte, um die Freiheit des Handelns zurück zu erlangen.

Doch schließlich ist auch dieser Wohnwagen, dieses Stück mobiler Kommunikations- und Erinnerungskunst selbst, den Weg alles Irdischen gegangen und in einen anderen Zustand überführt worden. Geblieben ist ein Hörstück über den Abschied von dem Wagen und seine rosafarbene Tür, die nun zu einer Drehtür umfunktioniert ist und dadurch ihre Funktion des Verschließens und Abschottens verloren hat.

Mit der permanenten Möglichkeit der Passage ist sie nun zu einem Symbol des Übergangs geworden, zu einer Einladung, die Befangenheit angesichts einer unveräußerlichten, nicht mitgeteilten und deshalb isolierenden Erinnerungslast zu überwinden; zu einer Einladung, Erlittenes nicht zu vergessen, sondern es zu veräußerlichen, es für sich selbst und andere begreiflich zu machen, es zu teilen und es schließlich zu transformieren, damit das Erinnerte und mit ihm der Erinnernde selbst in einen anderen Zustand übergehen kann. Sic Transit Gloria Mundi.

(1) Dirk Revensdorf, Fördert Hypnose verschüttete Erinnerungen zu Tage?, in: Spektrum der Wissenschaft: Geist und Gehirn, 12, 2017
(2) Bettina Alberti, Seelische Trümmer, Kösel, München 2010
(3)
Walter Benjamin, Traumkitsch (1927), in Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Schweppenhäuser, Frankfurt a. M., 1991
(4) Joaquin Maria Machado de Assis, Postume Erinnerungen des Bras Cubas, Rütten & Loening, Berlin 1967

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, August 2021

Montag, 16. August 2021

Neue Veröffentlichung: Thomas Piesbergen "Entscheidung am Pilatus Creek" in der Literaturzeitschrift Do!Pen 17

Es ist schon eine Weile her, daß meine Kurzgeschichte "Entscheidung am Pilatus Creek" mit dem Do!Pen-Award ausgezeichnet worden ist. Aufgrund interner Schwierigkeiten hat sich die Veröffentlichung des 17ten Heftes der Literaturzeitschrift Do!Pen immer wieder verzögert - bis jetzt!

Ich freue mich entsprechend, die Veröffetnlichung endlich ankündigen zu dürfen!

In der Nummer 17 dreht sich alles um Trash und Groschenhefte. Deshalb ist auch meine Adaption der biblischen Ostergeschichte als kruder Rachewestern bestens darin aufgehoben. Außer mir sind noch folgende Autoren im Heft vertreten: Heinrich Beindorf, Andreas Neuenkirchen, Ralf Thenior, M. Nolte, Johannes Witek, Alan Scribe, Martin Görlitz, Stephan Gräfe & Annika Weertz, Alexander Bach, Tobi Katze, Michael Steffens, Thomas Tonn, Carsten Hein

 

Zu beziehen ist das Do!Pen 17 unter folgendem Link: (KLICK)

dO!PEN 17
Literaturzeitschrift
82 S., 7,50 EUR
ISBN 978-3-937821-07-8

Freitag, 6. August 2021

Das Automobil, die Fläche und die Vertikalität - Festrede zum 20jährigen Jubiläum des Einstellungsraum e.V., Dr. Thomas J. Piesbergen

 Seit zwanzig Jahren arbeitet der Einstellungsraum e.V. mit einem strengen Konzept, das auf den ersten Blick etwas skurril anmutet und, wie meine Erfahrung gezeigt hat, sogar als satirisch mißverstanden werden kann. Denn der Verein sieht seine Aufgabe in der „Vermittlung von Projekten zwischen Autofahrern und Fußgängern“.

Ist einmal klar geworden, daß es sich dabei keineswegs nur um eine launige Idee handelt, sondern um den Versuch einer ernsthaften Ergründung des Phänomens der Automobilität mit den Mittel der zeitgenössischen Kunst, stellen sich zwangsläufig die Fragen, ob denn etwas so Profanes wie die Automobilität überhaupt imstande ist, einen Ausstellungsort über 20 Jahre lang thematisch zu tragen, und welche Zusammenhänge von übergeordnetem Interesse sich aus der Opposition von Automobil und Fußgänger ableiten lassen?

Wenden wir uns zunächst dem Automobil zu.

Allem voran dient das Auto zur Fortbewegung. Es ist der Logik der Fläche unterworfen. An seiner technischen Entwicklung ist abzulesen, daß es wünschenswert ist, mit dem Automobil immer schneller von einem Ort zu einem nächsten zu gelangen, die Zeit zu raffen, die Zwischenstationen zu überspringen, die Außenwelt mehr und mehr abzuschirmen.
Damit wird impliziert, daß der Mensch erst durch einen schnellen Ortswechsel und eine maximale Reichweite imstande ist, seine Bedürfnisse adäquat zu befriedigen. Der Ort, an dem wir uns befinden, ist allein unzureichend; er muß verlassen werden können, da erst an einem anderen Ort dem unbefriedigenden Zustand abgeholfen werden kann.

An dieser Stelle möchte man gleich zwei Zitate einwerfen, die den Fetisch der Rastlosigkeit in die Schranken verweisen:
Kong Fuzi schrieb, egal wohin man reise, man träfe immer auf sich selbst, und Blaise Pascal sah in dem Verlangen, die eigenen vier Wände zu verlassen, die Wurzel allen Übels schlechthin. Fügt man diese beiden Splitter zusammen, ergibt sich daraus für den in die Ferne strebenden Automobilismus zwangsläufig das Bild einer Selbstflucht, die jedoch fruchtlos bleiben muß.

In einem Gespräch mit Caroline Herder äußerte Goethe hingegen: „Man reist ja nicht um anzukommen, sondern um zu reisen.“
In diesem Zitat kann man den Fußgänger entdecken, dem es nicht darum geht, die Reisezeit mit dem Auto durch Beschleunigung bis zur Auslöschung zu raffen, nur um an ein verheißungsvolles Ziel zu gelangen, von dem man sich vergeblich Erlösung erhofft. Der Fußgänger erscheint hier, ganz im Gegenteil, als ein Mensch, der bereit ist, sich selbst im Spiegel einer sich wandelnden Welt zu betrachten. Die äußere Reise wird zu einem Vehikel der inneren Reise. Der Logik der Horizontalität und Fläche wird die Logik einer Vertikalität entgegengestellt.

Um diese Begriffe und deren grundlegend gegensätzlichen Konzepte zu illustrieren, möchte ich sie auf einen kleinen Exkurs in die Entwicklungsgeschichte des kulturellen Raums mitnehmen.

Funde von den ältesten faßbaren humanoiden Kulturen und Vergleiche mit noch beobachtbaren Wildbeutergruppen ohne ausgebildete soziale Kategorien legen nahe, daß die älteste räumlichen Vorstellung des Menschen von der Welt ihren Ausdruck im unsegmentierten Kreis oder Sphäroid findet. Alle Erscheinungen der Welt sind in einem allumfassenden Zyklus vereinigt, einem magischen, fließenden Bewußtsein. Alle Erscheinungen haben die gleiche Berechtigung auf Existenz. 

Kreislegung aus Tropfsteinen, Bruniquel-Höhle, Mittelpaläolithikum, ca. 170.000 v. Chr

Für die !Kung-Buschmänner der Kalahari sind Bäume, Wolken und Wind ebenfalls Buschmänner, die sich lediglich in einem magischen Zustand befinden. Für die Aboriginies sind alle Naturerscheinungen Ahnen in der Traumzeit.
In diesen Kulturen ist es jedem Menschen möglich, in spontanen Trancezuständen oder, im Fall der Aboriginies, durch das Wandern entlang der mythischen Songlines mit dem magischen Aspekt der Welt in Verbindung zu treten, da diese magische Welt uns in jedem Moment unmittelbar umgibt. Der von diesen Kulturen gestaltete Raum ist immer rund, ein Abbild des einheitlichen, in sich geschlossenen Kosmos.

Schema einer !Kung-Buschamnn-Siedlung, David & Kramer, 2001, rezent


In dieser Beschreibung der Wirklichkeit hat sich allerdings schon ein erster subtiler Bruch ereignet, der den Menschen im Laufe der kulturellen Evolution schließlich aus dem Eins-Sein mit der Natur verbannen wird.
Aus der Idee einer anderen, magischen Sphäre der Wirklichkeit und der Beobachtung der stetigen und gleichförmigen Erneuerung individueller Erscheinungen im Wechselspiel von Leben und Tod entsteht wahrscheinlich im Laufe des frühen Mittel-Paläolithikums die Vorstellung einer überzeitlichen Wirklichkeit, in der die Formen und Gesetze der akut erlebten Welt bewahrt werden, eine Welt der Urbilder und Naturgeister, die die Stabilität des Gegebenen garantiert. 

Schamanentrommeln mit "Axis Mundi", (re: finnisch, li: sibirisch), subrezent

Entsprechend gibt es in allen weiter entwickelten Wildbeuterkulturen Mythen einer vormals einheitlichen Welt, die durch die Verfehlung eines Menschen auseinander gerissen und in die Sphäre der Menschen und die der überzeitlichen Wesen geteilt wurde. Doch die Sphären sind noch miteinander verbunden durch die Axis Mundi, die Weltachse oder den Weltenbaum im Zentrum allen Seins; und alle Erscheinungen auf der Ebene der Menschen haben immer eine Entsprechung in der Welt der Geister. Sobald in unserer Welt der Menschen ein Mißstand herrscht, muß ein spezialisierter Schamane entlang der Weltachse in die Welt der Geister aufsteigen und dort dessen Ursache beheben.
Der Mittelpunkt der Welt jedoch, selbst wenn er durch ein aufsteigendes Feuer, einen Baumstamm oder einen Mittelpfosten konkret repräsentiert wird, ist eine nichtörtliche Kategorie des Bewußtseins. Der eigentliche Mittelpunkt ist überall und ist nur durch Selbstversenkung zu erreichen. Genau darin besteht die Logik des Vertikalen.

Die Ordnung einer runden Welt mit der heiligen Vertikalen in ihrem Mittelpunkt wird im weiteren Verlauf der kultureller Differenzierung im späten Mittelpaläolithikum ergänzt durch das horizontale Richtungskreuz, das vor allem aus der Beobachtung des Sonnenlaufs hervorgeht. 
So wird eine Segmentierung und Hierarchisierung des Kreises um die ideelle Weltachse möglich, bis der Kreis im Verlauf des Neolithikums schließlich vom Quadrat als Ordnungssystem ersetzt wird, was sich vor allem in der Entwicklung der frühen dauerhaften Architektur ablesen läßt.

Nummelites Perforatus mit Kreuzritzung, Tata, Ungarn, Mittelpaläolithikum, ca. 100.000 v. Chr.

Die Idee der kosmischen Orthogonalität, die aus dem Kreuz abgeleitet worden ist, ermöglicht wiederum die Erweiterung des horizontalen Kreuzes zum Raster und damit die Verlagerung des symbolischen Weltmittelpunkts aus dem unmittelbaren Lebensumfeld an einen realen Ort. Die Bedeutung des Mittelpfostens, des Ahnenschreins oder des heiligen Feuers im Mittelpunkt jedes individuellen Hauses geht zunächst über auf das Heiligtum im Zentrum eines Dorfes und schließlich auf eine heilige Zentralsiedlung mit einem streng kontrollierten Sakralbereich wie Babylon, Teotihuacan, Tenochtitlan, Athen, Rom, Jerusalem oder Mekka. 

Stadtplan von Tenochtitlan nach einem aztekischen Codex
 

Auf diesem Weg wurde die Logik des Horizontalen etabliert. Die heilige Vertikale wurde isoliert, die Strukturierung der Fläche hingegen wurde zu einem Werkzeug einer sakral legitimierten, aber dennoch profanen Kontrolle des Heiligen und damit wiederum zu einem Ausdruck hierarchischer Strukturen. Die flache Welt wurde weltlich, sie wurde zu einer Repräsentation der Machtverhältnisse und der damit verknüpften sozio-ökonomischen Prozesse.

Stadtplan des röm. Cemenelum (bei Nizza) mit Cardo und Decumanus, 120 v. Chr.

Gründungsstein von Cambodunum (Kempten/Allgäu), römisch, ca. 100 n. Chr.

Entwicklung der kulturellen Raumkonzepte, Piesbergen, 2006


Die postindustrielle, materialistische Welt, in der wir leben, hat inzwischen mit dem Glauben auch ihre kontrollierten heiligen Bezirke und damit ihren Kontakt zu der numinosen, überweltlichen Seite der Wirklichkeit verloren.
Geblieben ist die rastlose Logik der Fläche ohne Mittelpunkt, ohne Innehalten, ohne Besinnung - und darin wir, in immer schneller werdenden Automobilen, um Orte miteinander zu verknüpfen, die alleine nicht ausreichend erscheinen, um ein vollständiges Leben an ihnen zu führen. Denn das „hier und jetzt“, ohne die ehemals darin enthaltene Möglichkeit zum Aufstieg in die Vertikale, nimmt sich im Vergleich mit dem unbekannten und hoffnungsbeladenen „dort und später“ immer fade, halb und unzureichend aus.

Als Elke Suhr im Zuge ihrer künstlerischen Erforschung historischer Bildwelten das Läuterungsschema eines alchimistischen Ofens von Thomas Norton aus dem Jahr 1477 mit dem atmosphärischen Flugkolbenmotor von Nicolaus Otto aus dem Jahr 1867 verglich, trat ihr die Polarität dieser beiden entgegengesetzten Konzepte der Wirklichkeit mit größter Klarheit entgegen.

Alchimistischer Läuterungsofen und Ottos atmosphärischer Flugkolbenmotor, Elke Suhr, 2019


Während in beiden die Materie zunächst von unten nach oben aufsteigt, setzt sich bei Norton die Bewegung in der Vertikalen bis hin zur Transmutation, Läuterung und Gotteserfahrung fort, während die Energie bei Otto auf der Höhe, auf der Norton den Menschen verortet, zur Seite, in die Horizontale abgelenkt und damit in den Bereich profaner, materialistischer Zweckmäßigkeit überführt wird.
Eine alchimistische Transmutation oder eine uns transformierende Begegnung mit dem Numinosen findet nicht statt, statt dessen wird die aufstrebende Energie umgeleitet in streng geregelte kinetische Prozesse, die sich fast immer im Kontext der Produktion materieller Güter abspielen oder der optimierten Fortbewegung in der Horizontalen dienen.

So wird der Otto-Motor zu einer sowohl symbolischen als auch konkreten Emanation eines der größten Paradigmenwechsel der Menschheitsgeschichte, dessen Anfänge zwar bis in die Morgendämmerung der Zivilisation zurück verfolgt werden können, der aber erst im 20. Jahrhundert zu einer beispiellosen Umformung von Welt und Wirklichkeit geführt hat.

Vor diesem Hintergrund öffnet das Thema der Automobilität, sowohl konkret und auch als Metapher, ein schier unbegrenztes Forschungsfeld, um die Bedingtheiten unserer postindustriellen Realität auszuloten:

Der Blick wird nicht nur gelenkt auf die Auswirkungen von Geschwindigkeit und Stillstand, es stellt sich die Frage nach der Zeit und dem Raum an sich, nach unserer Wahrnehmung im Zusammenhang äußerer und innerer Bewegung, nach Regelungsprozessen und Hierarchien, nach unseren Zielen, nach Richtungswechsel, nach Sinn und Sinnlichkeit - und schließlich sogar nach der Seele, die das Jahresthema 2021 im Einstellungsraum ist.

Die Kunst wird dadurch herausgefordert, zu zeitgenössischen und überzeitlich essentiellen Themen Stellung zu beziehen und damit ihre eigene Relevanz zu überprüfen. Vor allem aber wird den verschiedenen künstlerischen Positionen ermöglicht, im Rahmen der unterschiedlichen Jahresthemen in einen Diskurs einzutreten, in einen herrschaftsfreien Dialog, in dem jede einzelne Position im Mittelpunkt und zugleich neben den anderen steht und jeweils einen von vielen möglichen vertikalen Wegen zur Begegnung mit der Welt und sich selbst darstellt.

© Thomas Piesbergen / VG Wort, Juli 2021

Literaturauswahl:

• Thomas Piesbergen "Der kontextuelle Raum im vorderasiatischen Neolithikum", Oxford, 2007 

• Marie E.P. König "Am Anfang der Kultur", Berlin, 1973

• N. David, C. Kramer "Ethoarchaeology in Action", Cambridge, 2001

• Joseph Campbell "Die Mitte ist überall", München, 1992

• Elke Suhr, Andreas Bromba (Hg.) "Aufbruch: Kunst + Spiritualität", Oberhausen, 2019

• Massimo Pallotino "Die Etrusker und Europa", Mailand, 1992

• S. Golowin "Die großen Mythen der Menscheit", München, 2002