Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Dienstag, 14. Mai 2019

Neue Veröffentlichung: Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild

"Die Künstlerin Dorothea Fischer beschreitet in ihrem Umgang mit der Farbe einen vierten Weg. Sie begreift sie nicht als Vehikel eines individuellen Impulses, nicht als Medium einer wie auch immer gearteten Gestaltungsabsicht, in der Mimesis, Symbol oder Emotion die Richtung vorzeichnen. Für sie stellt eine Farbe zunächst nichts anderes dar als eine elektromagnetische Welle, der sie nachspürt, auf deren Frequenzen sie intuitiv reagiert und darauf ihre Arbeit aufbaut."

Der Katalog zeigt u.a. 17 Konstellationen, die sich aus der Arbeit mit 32 Farbtafeln ergeben.

Mit einem Text von Dr. Thomas Piesbergen 

Format 21 x 21 cm, 32 Seiten und 28 farbige Abbildungen.



Hyperzine-Verlag
ISBN 978-3-938218-98-3 
Ladenpreis 8,- €

Freitag, 10. Mai 2019

Die spielerische Zähmung des Monströsen: Dr. Thomas J. Piesbergen zur Ausstellung "Permanent Beta" von Renke Maspfuhl

Die Ausstellung Permanent Beta von Renke Maspfuhl ist ausgerichtet von der Arbeitsgruppe Kultur & Justiz des Hamburger Richtervereins und ist noch bis zum 28. 6. 2019 in der Grundbuchhalle des Ziviljustizgebäudes zu sehen (Sievekingplatz 1, 20355 Hamburg).

Renke Maspfuhl, O.T.

Robert Lois Stevenson, der Autor der Schatzinsel und des Seltsamen Falls von Dr. Jekyll und Mr. Hyde schrieb einmal „Das Leben ist monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant, ein Kunstwerk, verglichen damit, ist harmlos, begrenzt, beherrscht, vernünftig, fließend und gezähmt.“
Damit hat Stevenson, obwohl er nur einen formalen Mechanismus des belletristischen Schreibens illustrieren wollte, nämlich den der narrativen Reduktion, zugleich auf die zentrale Aufgabe aller Kunst verwiesen.

Diese Aufgabe, die die Kunst seit Anbeginn der menschlichen Kultur erfüllt, und die mit großer Wahrscheinlichkeit und nach dem heutigen Stand von Kultur- und Neurowissenschaften, den Ursprung menschlicher Kultur selbst darstellt, besteht darin, dem Menschen zu helfen, Lebenskrisen zu meistern, in dem sie das unlogische, sprunghafte und monströse Leben zähmt.
Die Kunst diente dazu, das Unbegrenzte und Lebensbedrohliche zu interpretieren, zu verdichten und in mythischen Narrationen zu bündeln, die dem Menschen die Welt begreiflich machen sollten und ihm Handlungsdirektiven gaben. Sie war also ein Mittel, um eine lokal gültige Wirklichkeit zu konstruieren, die dem Menschen Halt gab.


Renke Maspfuhl, O.T.

Über Jahrtausende geschah das mittels symbolischer Bildinhalte, die die mythische Ordnung der Welt repräsentierten, später durch den illustrativen Nachvollzug mythischer Abläufe. Seit der Renaissance emanzipierte sich die Kunst schließlich von dem religiösen Kontext und transportierte nun auch das profane, bürgerliche Wertesystem, das in unserem Kulturkreis zum Maßstab menschlichen Handelns avancierte.

Mit dem Zerfall der bürgerlichen Welt jedoch, dem Umsturz politischer Systeme, mit den großen Revolutionen der Psychologie und Physik zu Beginn des 20. Jhd., die die Vordergründigkeit aller Narrationen erkennen ließen, befreite sich mit der Moderne auch die Kunst von ihrer Aufgabe als rein illustrierender Repräsentant von Narrativen und Narrationen.

Renke Maspfuhl, O.T.

Zunächst emanzipierten sich mit dem Fauvismus die Farbe, dann mit dem Kubismus auch die Form. Durch die dadurch eingeleitete fortschreitende Abstraktion entledigte sich die moderne Kunst weitgehend aller narrativer Inhalte und Konventionen und wandte sich, wie auch die moderne Literatur eines James Joyce oder Marcel Proust, dem rein subjektiven Erleben zu, vor allem dem von unterbewußten Vorgängen und emotionalen Zuständen, wie exemplarisch im Dada, dem Surrealismus oder Neo-Expressionismus.

Doch weder die Kunstgeschichte noch die Entwicklung des kulturellen Bewußtseins haben bei der Freilegung der Emotionalität und des Unterbewußten Halt gemacht. Wir haben inzwischen die Meta-Ebenen des Strukturalismus, des Konstruktivismus, des Poststrukuralismus und der Postmoderne durchschritten und die theoretische Physik, die Neurowissenschaften sowie die interkulturellen Verwerfungen einer globalisierten Welt zerlegen und revidieren unser Weltbild nahezu ununterbrochen.


Renke Maspfuhl, O.T.


Die Wirklichkeit ist so monströs, unlogisch, unbegrenzt, sprunghaft und penetrant wie nie zuvor. Und die Parallelität alternativer Wirklichkeiten wird uns durch die zunehmende Bedeutung digitaler Welten auf drastische Art und Weise vor Augen geführt.

Auf welchem Weg kann also ein Künstler agieren, um der ursprünglichen Aufgabe der Kunst gerecht zu werden, nämlich auf Handlungsoptionen zu verweisen, die dem Menschen helfen, die stetig sich wandelnde Welt und darin sich selbst zu begreifen?
Da es keine belastbaren Narrationen mehr gibt, keine beständigen Strukturen, auf die man symbolisch verweisen könnte, bleibt nur der wirklichkeitsgenerierende Prozess selbst, auf den es zu verweisen gilt. 


Renke Maspfuhl, O.T.

Bereits der Titel der aktuellen Ausstellung von Renke Maspfuhls macht das deutlich: „Permanent Beta“. Als eine Betaversion bezeichnet man ein Programm, das bereits alle Elemente des späteren Produkts vereint, sich aber noch in einer Testphase befindet und durch Updates ununterbrochen verändert wird. So spielt sich also das künstlerische Momentum in einer stetig voranschreitenden Suche nach der Form ab, doch die erzielte Form selbst kann auch nur als Zwischenschritt in einem anhaltenden Prozess begriffen werden.

Wie sieht nun aber dieser Prozess der Bildfindung und -konstruktion bei Renke Maspfuhl aus?
Maspfuhl selbst zieht dazu gerne das Attribut „aleatorisch“ heran, also dem Zufall unterworfen. Wenn der Zufall im Spiel ist, ist man mit Begriffen wie Unordnung oder Chaos meist schnell bei der Hand. Doch so wenig unsere nicht-lineare Welt chaotisch ist, genauso wenig sind es die Arbeiten von Renke Maspfuhl.


Renke Maspfuhl, O.T.

Der Physiker Herman Haken beschäftigte sich mit eben dieser Frage, wie es möglich sei, daß es in einer Welt, die vom Zufall regiert werde und sich eigentlich in einem Zustand maximaler Entropie befinden müsse, es dennoch immer wiederkehrende, sich selbst hervorbringende Muster gäbe.  Während er maßgeblich an der Entwicklung des Lasers arbeitete, legte er, um sich diese Frage zu beantworten, den Grundstein der neuen Teilwissenschaft der Synergetik,  der Lehre vom Zusammenwirken.

Stark vereinfacht besagt die Synergetik, daß sich in ungeordneten Systemen über kurz oder lang energie-ökonomisch vorteilhafte Bewegungsmuster bilden, ausgehend von einem oder mehreren Elementen, deren Verhalten sich gegenüber den anderen durchsetzt und sich als sog. „Ordner“ etabliert, der die anderen Elemente „versklavt“.
Auf diesem Weg der Selbstorganisation entstehen aus der Unordnung temporär stabile Muster und Strukturen. Heutzutage ist dieses Prinzip  u.a. belegt bei der Bildung von Kristallen, der Bewegung von Wolken, in volkswirtschaftlichen Abläufen, ja sogar bei neuronalen Vorgängen. Die Synergetik beschreibt also einen grundlegenden Mechanismus des Zustandekommens der Strukturen und Bewegungen unserer Lebenswirklichkeit.


Renke Maspfuhl, O.T.

Und eben diesen Mechanismus können wir auch in der Arbeitsweise und den Bildern Renke Maspfuhls wieder entdecken.
Am Anfang steht immer das spontane Tun, oft der Umgang mit zufällig gefundenen Materialien oder den Resten von älteren Arbeiten aus dem eigenen Atelier. Der Künstler begegnet der Welt und entnimmt ihr Dinge, die sein unmittelbares Umfeld zur Verfügung stellt, wobei dieses Umfeld nicht nur als ein Gegenüber begriffen wird, sondern auch als etwas, das bereits durch unser eigenes Tun geprägt worden ist. Indem Maspfuhl eigene Arbeiten in seinen Bildern „recycled“, verweist er auf die Einbettung des Subjekts in seine Umgebung, auf die Geschichte des Subjekts, die Teil der objektiven Wirklichkeit geworden ist.

Diese subjektiven Elemente, die in Form der Collage auf das Papier oder die Leinwand gebracht werden, werden ergänzt durch Fundstücke, die mal als Stempel genutzt werden, mal als Schablonen, mal selbst der Arbeit zugefügt werden. Es folgen intuitive Übermalungen, mal flächig-malerisch, mal graphisch oder gestisch. Schicht legt sich auf Schicht, wobei die unteren Schichten immer wieder zutage treten können, in dem sie freigekratzt werden, durch lasierte Farbflächen hindurch scheinen oder als unterliegende Strukturen zu erahnen sind. Durch dieses Verfahren wird der Prozess mit seiner zeitlichen Dimension erfahrbar. Das Bild transportiert seine eigene Entstehungsgeschichte als Bildinhalt.


Renke Maspfuhl, O.T.

Die Haltung des Künstlers in diesem Prozess ist ergebnisoffen. Die Arbeiten werden begonnen ohne im Vorfeld formulierte Gestaltungsabsicht. In diesem Sinne wird der Schaffensprozess zu einem aleatorischen Spiel, in dem sich früher oder später eine synergetische Dynamik entwickelt. Einzelne Elemente werden zu den sog. Ordnern, bilden Gravitationszentren, die das Vorgefundene zueinander in Beziehung setzen und dem Folgenden eine Entwicklung vorzeichnen.

Der Künstler läßt sich einerseits durch die synergetische Dynamik der Elemente leiten, andererseits interveniert er mit gezielten Setzungen.
So können wir ohne vordergründige Bild-Symbolik und ohne illustrierte Narration dennoch ein Narrativ aus den Arbeiten heraus lesen, das sich in dem transparent gemachten Werkprozess zeigt: ein Narrativ, das eine dem Stand unserer Kultur angemessene Handlungsstrategie aufzeigt, ohne Berufung auf überkommene mythologische und religiöse Inhalte oder moralische Strukturen, nämlich dem monströsen, unlogischen, unbegrenzten, sprunghaften und penetranten Leben entgegenzutreten, in dem wir uns auf seine synergetische Dynamik einlassen und es in einem aleatorischen Spiel zu zähmen versuchen.


Renke Maspfuhl, O.T.

Und es gelingt Renke Maspfuhl diesen Prozess nicht nur stellvetretend zu veranschaulichen, sondern es gelingt ihm, uns in ihn einzubinden.
Zum einen arbeitet Maspfuhl in seinen jüngeren Arbeiten zunehmend mit Leerflächen in den verschiedensten Schattierungen von Weiß, die nicht nur den Blick in die durchschimmernde Historie der Bilder anregen, sondern den Betrachter auch herausfordern - analog der Begegnung mit dem sprichwörtlichen weißen Blatt Papier - die Bilder weiter zu denken.

Zum anderen verzichtet Maspfuhl ganz bewußt auf Werktitel und dadurch auf bevormundene Hinweise auf eine mögliche Interpretation. So setzt sich das Spiel, daß den Werkprozess gekennzeichnet hat, im Betrachter der Bilder fort. Wir sind es, die Bedeutung und Beziehung in die Bilder und ihre transparente Entstehungsgeschichte hineinlesen.

Schließlich leben wir in einer Welt, in der es so wichtig wie nie zuvor geworden ist, die individuelle Deutungshoheit zu behaupten und sich selbst, durch Teilhabe und freies, spielerisches Handeln, in die Lage zu versetzen, eigenständige und selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen, von denen wir wissen, das sie eine Setzung sein können im synergetischen Ganzen unserer Welt.

© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2019