Einführungsrede zu der Ausstellung "NETZE, LEITERN, TRICHTER, RÖHREN" von Prof. Jürgen Heckmanns im Einstellungsraum e.V. zum Jahresthema "Schalten und Walten"
Im alltäglichen Sprachgebrauch verstehen wir unter dem Begriff „Schalten“ das Starten oder Regeln eines Prozesses oder einer Maschine. Mit „Walten“ bezeichnen wir noch allgemeiner das generelle Einwirken auf Strukturen oder Prozesse.
In beiden Fällen verbindet man die Begriffe mit dem Wirken in einer vertikalen Hierarchie. Eine Instanz oder Autorität übt ihre Macht aus, um Dinge nach ihrem Willen in Bewegung zu setzen oder zu gestalten. Diese Form der Machtausübung findet man auch bei der Interaktion Mensch-Maschine. Der Mensch schaltet Maschinen, Lampen oder Computer an, damit sie eine Aufgabe für ihn erfüllen. Die angeschalteten Apparate sind dem Menschen zu Diensten.
Auch die Machthabenden in sozio-politischen Kontexten schalten und walten, im schlimmsten Fall „nach Belieben“. Zwischen ihnen und den Menschen, über die sie herrschen, besteht ein dramatisches Ungleichgewicht der Macht. Die sozio-ökonomischen und kulturellen Systeme mit ihren Hierarchien, die sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit etabliert haben, basieren auf diesem Ungleichgewicht. Allein die Tatsache, daß Macht ausgeübt werden kann, bedeutet eine Gliederung der Wirklichkeit in ein hierarchisches Oben und Unten.
Ohne daß wir uns dessen bewußt sind, sind auch unsere Bild- und Objektwelten meist durch analoge hierarchische Strukturen oder Regelsysteme geordnet.
Betrachtet man jedoch die Netze von Jürgen Heckmanns, sucht man diese Regelsysteme vergeblich, die üblicherweise unsere visuelle Umwelt beherrschen. Es gibt kein herrisches Oben, kein duldendes oder tragendes Unten, es gibt keine Diktatur der Symmetrie, es gibt keine Fluchtpunkte oder Achsen zur Orientierung, es gibt keine zwingenden Begrenzungen.
Offenbar scheinen die filigranen, netzartigen Gebilde frei zu sein von herkömmlichen hierarchischen Regelprozessen, die man mit den Begriffen des Schaltens und Waltens in Verbindung bringt.
Was in der Tat fehlt, ist eine einseitige Ausübung von Macht - doch an Regelprozessen fehlt es keinesfalls. Bloß wirken sie auf eine Art und Weise, die zwar natürlich ist, an die wir aber durch unsere soziale und politische Prägung nicht mehr gewöhnt sind. Wir begegnen den Begriffen des Schaltens und Waltens im Gewand der Verschaltung und der Selbstverwaltung.
Um diese Begrifflichkeiten im Bezug auf Heckmanns Installationen besser zu verstehen, müssen wir uns ihrem Entstehungsprozess zuwenden.
Am Anfang des Arbeitsprozesses stehen nur die Elemente „Stege“ und „zerknülltes Papier“, die von leichter Hand zu einer ersten dreidimensionalen Struktur zusammengefügt werden. In diesem Stadium hat die Gestaltungsabsicht des Künstlers noch die Oberhand. Doch ist die erste „Urzelle“ zusammengefügt, löst sich die hierarchische Situation auf und nur das vom Künstler initiierte Prinzip des Wachstums bleibt als gestaltgebende Konstante übrig. Denn nun tritt das Objekt selbst mit dem Künstler in Dialog und legt ihm die Richtung und Form seines eigenen Wachstums nahe. An die Stelle eines diktatorischen Gestaltungswillens, der gezielt eine spezifische, effektvolle Form hervorbringen will, tritt ein Spiel mit dem Zufall. Das geknüllte Papier mit seiner Eigenspannung, die flexiblen Stege, die Schwerkraft und der Künstler sind zu einem System geworden, das sich durch dynamische Rückkoppelung selbst „verschaltet und verwaltet“. Auf diese Weise wächst das Netzwerk aus sich selbst heraus.
Wie ein Kind, das sich im Spiel seinen Weg in die Wirklichkeit ertastet, folgt Jürgen Heckmanns im Schaffensprozess den Wegen, die ihm Papier und Stege nahelegen und er realisiert sie. So läßt er Netzwerke entstehen, die, obwohl von Menschenhand geschaffen, nicht dem Gestaltungswillen des Menschen unterworfen sind. Sie sind keinem autokratischen Schöpfer ausgeliefert.
(Dieser Prozess ist aber nicht zu verwechseln mit der Vorgehensweise der Ecriture Automatique und ähnlichen „automatischen“ Konzepten des Kunstschaffens, in denen lediglich die Kontrolle an das Unterbewußtsein abgegeben wird, der Mensch dennoch alleiniger Gestalter und Schöpfer bleibt!)
Genauso wenig, wie Jürgen Heckmanns seinen Gebilden eine Idee, und damit eine spezifische Form aufzwingt, genauso wenig zwingen die Installationen dem Betrachter eine einzig mögliche Deutung, eine spezifische Perspektive auf oder provozieren eine bestimmte Reaktion.
Diese Arbeit zu tun, also einen Blickpunkt zu wählen, die Objekte für sich wirksam zu machen und zu deuten, wird dem Betrachter ganz und gar selbst anvertraut. Er selbst muß aktiv werden, um die Installationen und Objekte zum Leben zu erwecken, sie bedeutsam zu machen. Er tritt ihnen als Gleichberechtigter gegenüber und wird, wie zuvor im Werkprozess der Künstler, ein Teil des Netzwerkes, ein Teil des Systems.
Eine einzige deutliche symbolische Geste läßt Jürgen Heckmanns jedoch zu: Die Leiter, die in ihrer Eleganz und Fragilität an die Leitern von Hochseil- und Trapezartisten erinnert.
In nahezu allen Mythen und Religionen finden wir die Leiter als Symbol für den Aufstieg in eine Sphäre der Geister oder Götter, also in eine Sphäre, in der die Idee die bloße Physis transzendiert hat. In der Bibel finden wir eine Entsprechung in der Himmelsleiter des Jakob. Besonders im asiatischen Schamanismus ist dieser Aufstieg meist unmittelbar mit der Aufgabe verbunden, ein verlorenes Gleichgeweicht wiederherzustellen und damit Mißstände in der Welt der Menschen zu beheben. Der Aufstieg ist also immer verbunden mit der Aufgabe, tätig zu werden.
Die Leitern Jürgen Heckmanns können also Aufforderung verstanden werden, sich im Geiste in die papierene Struktur hineinzubegeben, um mit ihr zu spielen, ihrem Tanz zu folgen, sie mit Bedeutung, Ideen und Bildern aufzuladen.
Das Baumaterial dieser Struktur, mit der sich der Betrachter nun in einem Dialog befindet, ist weißes, unbedrucktes Papier. Manchenteils sind es unbedruckte Zeitungsbögen. Es ist ein Material, das fast schon eine archetypische Bedeutung als Träger von Ideen gewonnen hat. Wir gehen täglich mit Papier um und kleiden unsere Welt damit aus - mit Zeitungen, Bildern, Büchern, Briefen, Fahrscheinen, Kontoausdrucken etc. Fast könnte man sagen: noch besteht ein großer Teil unserer Wirklichkeit aus Papier. Doch die Eigenschaft, Träger von Ideen zu sein, vermittelt uns nicht nur das beschriebene, bedruckte oder bemalte Blatt. Auch das leere Blatt tut es! In ihm begegnen wir dem Horror vacui der darin begründet ist, daß dem Menschen Leerstellen nahezu unerträglich sind. Das weiße Papier schreit förmlich danach, gefüllt zu werden. Es fordert dem Menschen Ideen ab.
Ein anderer wichtiger Aspekt des Materials ist seine Verfügbarkeit, die in unserem industrialisierten Gesellschaftskontext jederzeit gewährleistet ist. Papier hat nichts Prätentiöses oder Erhabenes.
Und zerknüllt man es gar, gilt es nach unserem kulturellen Verständnis als umgewertet, bzw. abgewertet von einem profanen, nützlichen Alltagsding zu Müll. Es gibt kaum etwas, das weniger Wert hat, als zerknülltes Papier!
So nähert sich der Betrachter den Objekten auch nicht geblendet oder voller Ehrfurcht, sondern ohne Berührungsängste, vielleicht mit Verwunderung, bestenfalls mit Neugier.
Genauso ist auch die Aufforderung an den Betrachter, sich auf einen Dialog mit den Objekten einzulassen, keinesfalls als ein unbedingt tiefes, ernstes und intellektuell anspruchsvolles Unterfangen zu verstehen. Diese Aufforderung ist bewußt niedrigschwellig gehalten und ganz und gar spielerisch gemeint.
Wie man in Wolken Bilder und Gestalten hineinlesen kann, so können sich auch in den luftigen Netzwerken aus weißem Papier nahezu alle Imaginationen des Betrachters einnisten und wachsen. In ihnen können Vogelschwärme entstehen, menschliche Gliedmaßen und Figuren, neurale Zellstrukturen mit ihren Axonen, Dendriten und Synapsen oder architektonische Komplexe. Nur die Vorstellungskräfte der Betrachter setzen die Grenzen. So werden die Netzwerke auf dem Umweg der Wahrnehmung des Betrachters ganzheitlich, universell und deuten stets über sich selbst hinaus. Sie bergen in sich das Potenzial, die ganze Welt in sich aufzunehmen, sie zu umspannen.
Doch Jürgen Heckmanns verzichtet nicht nur auf die Deutungshoheit seiner Kunst und gibt sie bedingungslos an den Betrachter weiter. Er verzichtet nicht nur darauf, auf den Betrachter mit einer gezielt erschaffenen, konsistenten Form einzuwirken. Er verzichtet auch darauf, seine Objekte vor Veränderung und Einwirkungen von außen zu schützen.
Sobald die Arbeit an ihnen beendet ist, werden sie nicht nur zum Spielball der Imagination des Betrachters, sondern sind sie auch allen anderen möglichen Einwirkungen von außen unterworfen. Das wechselnde Licht spielt auf dem anfänglich neutralen Material und gibt ihm je nach Tageszeit oder Ampelphase farbliche Nuancen und Tönungen. Es bewirkt zudem, daß die Netzwerke als Schatten ihre räumliche Begrenztheit transzendieren und sich auf den Wänden und über den Fußboden fortsetzen, vielleicht sogar aus dem Raum hinausgreifen.
Luftbewegungen, Luftfeuchtigkeit, Berührungen und Schwerkraft bewirken Veränderungen der Form der Strukturen. Die Objekte geraten in Schwingung, sinken in sich zusammen, Teile brechen oder knicken ab; dadurch entstehen immer wieder neue Bewegungen und Gesten. Langfristig verändert sich schließlich die Farbe des Papiers durch Lichteinwirkung. Die Objekte sind der Zeit ausgesetzt. Der Alterungsprozeß ist unabdingbarer Teil von ihnen.
Man könnte diese Interaktion mit der Umwelt als eine „Verschaltung“ der Objekte mit der sie umgebenden Wirklichkeit bezeichnen. Dieser offene Dialog, geht soweit, daß die Besucher mitunter dazu ermutigt werden, selbst zu intervenieren und Objekte, die in sich zusammengebrochen sind, nach eigenen Vorstellungen wieder zusammen zu bauen. So ist zum Beispiel die Art der Installation von Heckmanns Röhren und Trichtern oft so gestaltet, daß sie den Eindruck vermittelt, sie wäre unfertig. Einzelne Elemente stehen als Baumaterial bereit, andere liegen wie abgefallen am Boden und warten darauf, wieder angebracht zu werden.
Hier ist die hierarchische Struktur, die kreative „Befehlskette“: Künstler -› Kunstwerk -› Betrachter endgültig zerschlagen. Der Künstler wird selbst zum Betrachter der Entwicklung, die sein Werk nimmt, nachdem er es „freigesetzt“ hat.
Bündelt man all diese Aspekte des Werkes von Jürgen Heckmanns wird deutlich, daß es zutiefst human, ganzheitlich und vor allem demokratisch ist.
Die gegenwärtige Situation unserer Gesellschaft ist durch kaum etwas mehr gekennzeichnet, als durch die Diktatur der Finanzmärkte und ihrer Erfüllungsgehilfen, die derart schalten und walten, daß einem davon ganz schwindelig wird.
Andererseits kann man beobachten, wie ein autokratisches System nach dem nächsten versagt und in sich zusammenbricht. Überall auf der Welt wird mit neuen ideologie- und hierarchiefreien Formen der politischen Opposition experimentiert - seien es die Grassroots-Aktivisten, die Occupy-Bewegung, Flashmobs, Tauschringe, der Arabische Frühling etc.
In so einer Zeit, in der sich Konflikte und Umwälzungen von bisher ungeahnten Ausmaßen ankündigen, in der die Strukturen der Macht grundsätzlich in Frage gestellt werden, ist es von großer Bedeutung, daß auch die Kunst den Menschen immer wieder daran erinnert, daß es möglich ist, sich ohne Machtwillen auf ein offenes, gleichberechtigtes und lustvolles Spiel mit einer ganzheitlichen Wirklichkeit einzulassen; mit einer Wirklichkeit, die zu gestalten er dasselbe Recht hat, wie jeder andere auch!
Dr. Thomas J. Piesbergen, 1.März 2012