Vortrag von Dr. Thomas Piesbergen anläßlich des Symposiums "Ein Park Aus Stieg" des Einstellungsraums e.V. 27. Juni 2014
Als ich bei meiner Rückkehr von einem längeren Arbeitsaufenthalt in Äthiopien um 7:00 morgens in der Frankfurter U-Bahn stand, erlitt ich etwas, worauf ich bei meiner Ankunft in Äthiopien vergeblich gewartet hatte: einen Kulturschock.
Die nach 2 Monaten afrikanischer Erfahrung verschobene Perspektive auf den vorgefundenen Zustand der Menschen ermöglichte mir, Verhaltensstrukturen zu erkennen, für die wir in der Regel blind sind, da sie unser Selbstverständnis und unseren Standpunkt ausmachen, von dem aus wir Dinge beobachten und beurteilen - sie sind unser blinder Fleck.
Das, was ich sah, waren lauter Menschen, die nicht an dem Ort waren, an dem ihre Körper sich befanden. Zudem schien niemand zu begreifen, was für eine Außenwirkung er seinen Mitmenschen zumutete, wie durch unkontrollierte Gestik und Mimik persönliche Intimität entgrenzt wurde, d.h. niemand schien sich bewußt zu sein, wieviel persönliches Leid, Frustration, Schmerz, Hass, Trauer und Apathie sich durch Gesichtsausdruck und Körpersprache vermittelte.
Niemand sah den anderen an und niemand schien daran zu denken, er selbst könne gesehen werden. Niemand war dort, wo der eigene Körper war. Nahezu jedes Mitglied unseres Kulturkreises wird wohl diesen Zustand der Abwesenheit aus eigener Anschauung und Erfahrung kennen.
Erst durch diese wirklich schockierende Beobachtung wurde mir klar, was den habituellen Unterschied zwischen Deutschland, stellvertretend für die mediale, postindustrielle Gesellschaft, und Äthiopien, stellvertretend für eine noch weitgehend prä-mediale Gesellschaft, ausmacht, und wie gravierend dieser Unterschied ist.
Ich hatte dort im Berufsverkehr um 7:00 morgens in der Frankfurter U-Bahn in reinster Gestalt das erlebt, was Richard Sennett als die Tyrannei der Intimität bezeichnet, die dem Verfall und Ende des öffentlichen Lebens folgt.
Sobald in Äthiopien zwei Menschen sich begegnen, entsteht soziale Interaktion. Will ein Mensch etwas über die Welt wissen, ist er auf andere Menschen angewiesen, da es so gut wie keine Zeitungen oder Bücher gibt. Radios sind selten, Fernseher kaum zu finden und zudem fast immer nur an öffentlichen Orten.
Völlig unvorstellbar wäre dort ein Rückzug in den individuellen Raum der eigenen vier Wände, der noch vor wenigen Jahren in unserer Gesellschaft unter dem hippen Neologismus „Cocooning“ als neuer, erstrebenswerter Lifestyle angepriesen wurde.
Dieser Rückzug in die Isolation des Individuellen, in die „Tyrannei der Intimität“ ist in der etwa 2 Millionen Jahre währenden Geschichte der Menschheit nur den Bruchteil eines Augenblicks alt und kann angesichts der in diesem Zeitraum sich gefestigten natürlichen Bedürfnisse und „natürlichen“ Verhaltensmustern des Menschen als pathologische Abweichung angesprochen werden, deren totale Eskalation wir derzeit in Form der Abwanderung des Menschen in die digitale Realität beobachten können.
Doch kommen wir zurück zu der Situation, in der ich mich damals in der Frankfurter U-Bahn befand: Ich war Teil einer temporären Zwangsgemeinschaft, gekennzeichnet durch ein gegenseitiges Ignorieren, eingesperrt in einem länglichen Raum, der die Funktion hatte, diese sich einander fliehenden Menschen zu transportieren.
Dieser Raum, den meine Mitreisenden ebenfalls versuchten so gut es ging zu ignorieren, ist Teil eines gewaltigen Systems von architektonischen Un-Orten, in denen die meisten Menschen der postindustriellen, medialen Gesellschaft einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit verbringen - wenigstens physisch.
Aus anthropologischer Perspektive, die immer die zeitliche Tiefe menschlicher Kultur einschließt, kann Architektur immer nur unter zwei Gesichtspunkten betrachtet werden: als Träger von Funktion und als Träger von sozio-kultureller Bedeutung. Vor allem ihre Eigenschaft als Träger von Bedeutung macht sie auf vielen verschiedenen Wirkebenen zu einem essentiellen Teil der menschlichen non-verbalen Kommunikation.
Und sie ist nur zu begreifen als eine „strukturierende Struktur“, d.h. daß sie einerseits vom Menschen nach seinen kulturellen Bedürfnissen gestaltet wird, und daß sie andererseits hilft, die kulturellen Strukturen wiederum zu reproduzieren.
Den angesprochenen „Un-Orten“ ist zwar eine Funktion zu eigen, kennzeichnend für sie ist aber das weitgehende Fehlen einer kulturellen Bedeutung (vergl.„The Geographie of Nowhere“, James Howard Kunstler). Für die Architektur bedeutet das, es gibt keine physischen Marker, die ein kulturell bedeutsames Handeln implizieren. Das, was von diesen strukturierenden Strukturen der Un-Orte öffentlicher Transportsysteme als kulturelles Muster reproduziert wird, ist also reine, bedeutungsleere, und damit unmenschliche Funktionalität.
Betrachtet man also diese Un-Orte im Hinblick auf die reziproke Eigenschaft als strukturierende Struktur wird sofort ihre Dissoziation von einem unmittelbaren Rückkoppelungsprozess deutlich. Ihre Gestalt wirkt unbedingt strukturierend, läßt aber keinerlei akute Strukturierung ihrer selbst zu. Unter dem Gesichtspunkt kultureller Rückkoppelung kann man diese Un-Orte also ohne weiteres als totalitäre Strukturen ansprechen, die dem menschlichen Bedürfnis nach kultureller Bedeutsamkeit nur dann nachkommen, wenn es funktional oportun ist.
Die übliche Strategie, mit denen das postindustrielle Individuum diesen totalitären Alltagsumgebungen, speziell den Innräumen des öffentlichen Nahverkehrs, begegnet, könnte man als „Park & Hide“ bezeichnen. Denn das Individuum vermeidet, ohne formgebende kulturell bedeutsame Übereinkunft, Blick- und Körperkontakt, zieht sich zurück, versteckt sich, kapselt sich von seiner Umwelt ab, ist nicht mehr als soziales Wesen ansprechbar.
Man flieht bestenfalls in Zeitungen oder in Bücher - als Variante „Park & Read“ - oder seit einigen Jahren zunehmend in die digitale Parallelwirklichkeit mittels Smartphone, in der einerseits die Tyrannei der Intimität ihre endgültige Emanation im Form sog. „sozialer Netzwerke“ gefunden hat, andererseits die Entgrenzung des Intimen atemberaubend voranschreitet - der Un-Ort U-Bahn wird hier also genutzt als Übertrittsort in eine substanzlose pseudo-private Gegenwirklichkeit: „Park & Slide“.
Das Smartphone als Computerspielkonsole bietet dazu die eskapistische Variante des „Park & Fight“.
All diese Strategien bestärken die Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsmuster, die Lawrence Durrell als das „dunkle Labyrinth“ bezeichnet hat: das idiosynkratische Gedankengebäude, in dem sich der Mensch vor sich selbst und seinen Mitmenschen versteckt; das psychologische Gefängnis, das ihm unmöglich macht, zu einer wahrhaften Selbstwahrnehmung und Kommunikation mit anderen zu gelangen.
Da die Strategie des „Park & Hide" einem störungsfreien funktionalen Ablauf zuträglich ist und die unkalkulierbare Eigeninitiative der Fahrgäste einzudämmen hilft, wird sie nach Kräften durch das sogenannte „Fahrgastfernsehen“ gefördert, das inzwischen nicht nur in U-Bahnen, sondern auch schon auf manchen Bahnhöfen eingesetzt wird. Durch Werbeclips und weitgehend inhaltsleere Informationsklischees wird der Fahrgast dazu eingeladen, sich in einen pflegeleichten und sozial nicht mehr präsenten Standby-Modus zu begeben.
Welche gravierenden Konsequenzen diese soziale Abwesenheit an den öffentlichen Un-Orten des ÖPNV haben kann, zeigen immer wieder die unerträglichen Beispiele der Gleichgültigkeit bei gewaltsamen Übergriffen in der Bahn. Geparkt ist hier offenbar nicht nur das individuelle Verkehrsmittel der Fahrgäste, sondern auch gleich deren Mitgefühl, Zivilcourage und soziale Verantwortung. Schließlich ist man ja gar nicht da; man ist in der Bildzeitung, man ist auf Facebook, man hat gerade das 6. Level erreicht, man ist noch bei der Arbeit oder bereits zuhause beim Vorabendprogramm.
Da die Isolierung des Individuums in unserer Gesellschaft zum Glück aber noch kein abgeschlossener Prozess ist und der Verfall und die z.T. sogar gezielte Unterbindung öffentlichen Lebens durch repressives Reglement und entsprechende Raumgestaltung es noch nicht geschafft haben, das in 2 Millionen Jahren entstandene Bedürfnis nach Gemeinschaft und spontaner, bedeutungs-generierender Interaktion zu unterbinden, gab es und gibt es immer wieder Formen einer kulturellen Selbstorganisation, die gezielt oder unbewußt den „befriedeten“ und kontrollierten öffentlichen Raum zurück erobern.
Da keine faktische Umstrukturierung der vorgefundenen Gestalt des öffentlichen Raums vorgenommen werden kann, müssen die strukturierenden Strukturen der angesprochenen Un-Orte umgedeutet werden.
Eine recht häufige Variante dieser Umdeutung ist die Nutzung des Waggons als Konzertsaal in dem die Fahrgäste das mehr oder weniger freiwillige Auditorium stellen. Diese Strategie der Umdeutung wird unterdrückt durch die Interpretation der musikalischen Darbietungen als Nötigung - mit dem Effekt, daß die Musiker nur noch von Waggon zu Waggon hetzen und nichts anderes mehr von sich geben können, als klägliche Fragmente von Musik, die in der Tat meist sehr unerfreulich sind.
Eine zweite Variante war die Umdeutung des Waggons zur mobilen Party-Location. Zum Ende der ersten Dekade gab es in Hamburg eine regelrechte Explosion dieser Art der Umfunktionierung der Transportgehäuse des ÖPNVs zu Räumen akuter sozialer Interaktion: die Partybahn am Freitagabend in Richtung Innenstadt, in der man sich mit absurden Getränken wie Wodka-Redbull in Stimmung brachte und spontane Zufallsbekanntschaften schloß.
Für einen kurzen Zeitraum fügte sich der HVV sogar diesem Phänomen und führte den „Nightcruiser“ ein, eine Nachtbuslinie mit DJs und Bar, die aber schon seit längerer Zeit wieder von der Bildfläche verschwunden ist.
Diese Strategie der Aneignung öffentlichen Raums wurde erfolgreich unterbunden durch das Alkoholverbot in den Bahnen und auf Bahnhöfen.
Egal wie man diese Strategien persönlich beurteilen mag, sie sind nicht zu leugnende Symptome des Bedürfnisses, sich der totalitären und inhaltsleeren Struktur der angesprochenen Un-Orte zu widersetzen, sich die Räume wieder anzueignen und sie kulturell bedeutsam zu machen.
Denn selbst die von vielen ungeliebten Musiker treten in der U-Bahn auf, da es immer noch genügend Fahrgäste gibt, die für diese Art der Abwechslung gerne etwas in den herumgereichten Spendenbecher werfen.
Warum also nicht diese Bedürfnis aufgreifen und zulassen, daß die rein funktionalen Transporthülsen zu kulturell bedeutsamen Orten werden, anstatt sie als rollende Wartezimmer zu belassen, in denen das Fahrgastvieh für den Transport möglichst störungsfrei medial sediert wird?
Warum nicht dem gewillten Fahrgast ein Angebot machen, daß ihn davon erlöst, Anstrengungen zu unternehmen, nicht auf das Fahrgastfernsehen zu starren, nicht unfreiwillig den Telephonaten seiner Nachbarn zu lauschen, und nicht aus der akuten Situation, in der er sich befindet auf irgendeine Weise flüchten zu müssen.
Ein Trend, der auf der Hand liegt und in manchen Metro-Bussen bereits aufgegriffen wird, wäre eine Nutzung einzelner Waggons als mobile Lesesäle mit Bibliothek.
Genauso naheliegend wäre ein als solcher funktional gestalteter rollender Konzertsaal, in dem Musiker mit vorheriger Anmeldung kleine Konzerte geben können - dem Konzept folgend, das in der Untergrundbahn von London bereits vor vielen Jahren umgesetzt worden ist: dort werden in großen Bahnhöfen kleine Zonen extra als Spielorte für Straßenmusiker ausgewiesen. Denn die Musik wird dort als essentieller Bestandteil des menschlichen Lebens begriffen, nicht als Nötigung.
Ebenfalls denkbar wäre, ein Model, das auf vielen Bahnhöfen bereits realisiert ist, auf die Schiene zu bringen: einzelne Waggons zu mobilen Orten der Stille, der Andacht oder Meditation umzufunktionieren.
Und natürlich muß auch die Möglichkeit genannt, die mobilen Un-Orte des ÖPNV als Kunst-Orte zu erschließen, deren Eigenart dazu führen könnte, völlig neue Kunst-“Formate“ zu entwickeln.
In einer Zeit der fortschreitenden Anonymisierung und Atomisierung der Gesellschaft, eines rapiden Verfalls von kulturellen Werten und Bedeutungssystemen, sollte nicht nur darüber nachgedacht werden, welche Strategien sinnvoll sind, um sich regelrechte Orte wieder anzueignen - man denke da nur an die weltweiten Aktivitäten der „Occupy“ oder der „Reclaim the Street“ -Bewegung, das Guerilla-Gardening, Flashmobs etc. - sondern auch, wie man die kaum wahrgenommenen öffentlichen Un-Orte sozial und kulturell umdeuten und nutzen könnte, um den Verfall des öffentlichen Lebens, die endgültige Isolation und Entsozialisierung des Individuums, die Zerstörung sozio-kultureller Verhaltenssysteme und die darauf folgende totalitäre Herrschaft der Funktionalität aufzuhalten.
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2014
Schreibwerkstatt in Hamburg - Literarische Projekte - Privates Lektorat und Coaching - Einführungsreden und Katalogtexte zu zeitgenössischer Kunst
Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de
Sonntag, 29. Juni 2014
Donnerstag, 26. Juni 2014
"Ein Park Aus Stieg" - Vorträge und Gespräche im Einstellungsraum e.V., Hamburg, 27. Juni 2014
Das diesjährige Symposium zum Jahresthema "Park & Ride" im Einstellungsraum vereint eine ganze Reihe sehr verschiedener Perspektiven auf das Konzept des Umstiegs vom Automobil in den ÖPNV:
Ingo Freund (SPD): Zur Parksituation in Wandsbek
Karsten Lubkert (Dipl.-Ing.): Ruhender Verkehr in der Großstadt
Dr. Thomas J. Piesbergen (Kulturanthropologe, Schriftsteller): Untote Zeit in der Sozialwurst
Bettina Sefkow (bild. Künstlerin): Der Sockel als Leitsystem der Blicke
Christoph Riemer (Playing Arts): Parken = Kunstpause
Moderation: Brigitte Engel-Hiddemann
27.Juni 2014
18:00
Einstellungsraum
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg
Ingo Freund (SPD): Zur Parksituation in Wandsbek
Karsten Lubkert (Dipl.-Ing.): Ruhender Verkehr in der Großstadt
Dr. Thomas J. Piesbergen (Kulturanthropologe, Schriftsteller): Untote Zeit in der Sozialwurst
Bettina Sefkow (bild. Künstlerin): Der Sockel als Leitsystem der Blicke
Christoph Riemer (Playing Arts): Parken = Kunstpause
Moderation: Brigitte Engel-Hiddemann
27.Juni 2014
18:00
Einstellungsraum
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg
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