In der zeitgenössischen Kunst begegnen wir schon seit geraumer Zeit den Zeichen einer Verweigerung von Virtuosität. Bilder und Objekte erwecken häufig den Eindruck des Provisorischen, des Ephemeren, des Entwurfs oder den Eindruck des Naiven.
Es scheint, als suchten Illustratoren und Freie Künstler ihre Positionen vermehrt in den regressiven Bildwelten oder mit den Ausdrucksmitteln des Kindes, und man gewinnt den Eindruck, es läge eine gewisse Atmosphäre der Verweigerung in der Luft, eine Opposition gegen das, was als die gegenwärtige Welt des Erwachsenen und Professionellen konzeptualisiert wird.
Diese Haltung darf allerdings nicht verwechselt werden mit der Haltung, die der Kulturhistoriker Johan Huizinga als „Puerilismus“ oder „Infantilismus“ bezeichnet, die heutzutage zu einem Flächendeckenden Phänomen geworden ist, und auf die wir später noch zurück kommen werden.
Als Leopold Schröder seine Ausstellung „Die Verkehrung der Verkehrung“ im Einstellungsraum vorbereitete, stand die Frage im Raum, ob er die Auswahl der gezeigten Bilder unkommentiert lassen solle, oder sie von vornherein kenntlich machen solle als authentische Kinderzeichnungen. Denn genau die haben wir vor uns.
Die Ausstellung zeigt als zentralen Werkkomplex eine Reihe von Zeichnungen, die entstanden sind, als der Künstler zwischen 8 - 11 Jahren alt war.
Ihr Entstehungsprozess begann jeweils mit einer Art Vision. Die Szenen waren von Beginn an vollständig und mit ihrem ganzen Detailreichtum in der Vorstellung des Künstlers präsent.
Den anschließenden Prozess der Umsetzung beschreibt Leopold Schröder als eine Art Eruption, in der er selbst keine andere Rolle einnahm, als die eines Mediums. Dieses Phänomen hat er erst rund 10 Jahre später in Experimenten mit automatischem Zeichnen erneut nachvollzogen.
Die Bilder, die in dieser frühen Schaffensphase entstanden sind, zeigen eine eskalierende und oft auch apokalyptisch anmutende Wirklichkeit:
Präsentationen von bis zur Lächerlichkeit gesteigerten modischen Eskapaden, Bodybuilder, die ihre aufgedunsenen Körper in einer grotesken Fleischbeschau zeigen, FKK-Szenen, die in Orgien münden, Frauen, die winzige, blutende Menschlein verspeisen, schweineähnliche Monstren, die nackten Frauen nachstellen, Operationsszenen gekrönt von sarkastischen Inschriften und immer wieder Massenkarambolagen mit bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Automobilen und zerstückelten Leichen.
Bemerkenswert dabei ist, daß die Bilder bis auf einzelne Ausnahmen keine medialen Vorbilder haben, also weder in Comic- noch Fernsehwelten wurzeln, wie es bei Kinderzeichnungen solchen Inhalts zu erwarten wäre.
Ebensowenig handelt es sich um die akute Verarbeitung von Erlebtem. Der Künstler hat weder schwere Unfälle überlebt, noch längere Krankenhausaufenthalte durchstehen müssen, und nach eigener Versicherung auch sonst eine glückliche, normale Kindheit gehabt.
Die Frage stellt sich also: woher kommen diese detailversessenen Szenerien, die in ihrer grausamen Phantasie an die Visionen von Pieter Brueghel oder Hieronymus Bosch erinnern?
An dieser Stelle möchte ich einen kleinen Exkurs zu dem Konzept der kindlichen Intelligenzentwicklung von Jean Piaget einfügen:
Piaget begriff die Ontogenese des Denkens als einen selbstorganisierenden Prozess. In der Biologie sowie in der Physik beobachtete er die Eigenart von Systemen, die, sobald ihr Gleichgewicht gestört wird, sich so zu verändern, daß sie zu einem neuen Zustand des Gleichgewichts finden.
Auch im kindlichen Denken haben wir so einen Zustand des Gleichgewichts, solange es widerspruchsfrei ist und seine beschränkten Voraussagen eintreffen. Allerdings treten sowohl im Inneren des Denkens, als auch in der Sphäre der äußeren Phänomene immer wieder Ungleichgewichte auf: Widersprüche zwischen Urteilen, Entwicklungen, die sich nicht dem erwarteten Ausgang decken, Diskrepanzen zwischen Aussagen und Handlungen. Das Denken versucht immer wieder von neuem, diese Ungleichgewichte zu überwinden:
Es befindet sich in einem steten Prozess der Equilibration.
Die Bilder von Leopold Schröder entstanden nach Piaget entwicklungspsychologisch an der Schwelle von der konkret-operatorischen Intelligenz zu der formalen Intelligenz. Das Kind lernt in dieser Entwicklungsphase nicht mehr nur aus der konkreten Operation abzuleiten, sondern zusehends aus den Reaktionen seiner Umwelt allgemeingültige Regeln abzulesen und diese allgemeingültigen Regeln vice versa anzuwenden, um Vorhersagen zu treffen. Und das geschieht nicht nur auf der dinglichen Ebene, sondern auch auf der ideellen, insbesondere auf der moralischen Ebene.
Denn laut Piaget ist die Entstehung der Moral nicht wie meist angenommen vor allem ein Ergebnis bloßer Internalisierung, d.h. bestimmt durch die konformistische Übernahme von Regeln und Normvorstellungen, die das Kind in dem umgebenden gesellschaftlichen Milieu vorfindet.
Für ihn ist sie das genaue Gegenteil: die entscheidenden Fortschritte dieser Entwicklung vollziehen sich unabhängig vom Zwang der sozialen Umwelt. Sie sind das Ergebnis einer schöpferischen Konstruktion, in denen das Kind versucht, seine Wünsche und Bedürfnisse mit seiner Umwelt in Einklang zu bringen.
Doch wie sieht nun dieses gesellschaftliche Milieu aus, in dem das Kind versucht, sein moralisches Gerüst zu entwickeln?
Unsere Gesellschaft ist zusehends geprägt von dem eingangs bereits genannten Infantilismus, auf dessen kulturhistorische Bedeutung Johan Huizinga unter dem Begriff Puerilismus erstmals hingewiesen hat und mit dem er das infantile Verhalten erwachsener Menschen in der Moderne bezeichnet.
Dazu zählt er unter anderem das Bedürfnis nach banaler Zerstreuung, die Sucht nach Sensationen, die Lust an Massenschaustellungen, die Unterstellung von bösen Absichten oder Motiven bei anderen, die Unduldsamkeit gegen jede andere Meinung sowie maßloses Übertreiben von Lob und Tadel.
Die erwachende Intelligenz eines Kindes wird also mit einer verkehrten Welt konfrontiert, in der Erwachsene, die von dem Kind zunehmend „erwachsenes“ Verhalten fordern, selbst kindisch agieren. An diesem Punkt revoltiert das Kindliche gegen das Kindische: Das Kind findet eine „Verkehrung“ vor, die es selbst wieder ins Gleichgewicht bringen will. Es unternimmt den Versuch einer „Verkehrung der Verkehrung“.
Der naheliegendste Schritt, um dieses schwierige Unterfangen zu bewerkstelligen, besteht in der ebenso schlichten wie effektiven Strategie des Überzeichnens. Der vorgefundene Zustand wird ins Gargantueske gesteigert, um seine Abstrusität vor Augen zu führen:
• Freikörperkultur, Sexualtabus und die verleugnete Geilheit der Erwachsenenwelt kumulieren zu Orgien die dazu noch voyeuristisch dokumentiert werden
• der narzistische Körperkult endet in der Inszenierung grotesk aufgeblasener Muskelgebirge
• der automobile Wahn im Verein mit der Verdrängung von Unfallstatistiken erlebt sein Armageddon im tödlichen Kataklysmus der Massenkarambolage
• und schließlich werfen die Opfer eines im höchsten Maße infantilen Größenwahns dem „Größten Feldherren aller Zeiten“ in einem Akt der Verweigerung ihre Waffen vor die Füße.
Spätestens hier hat die Überzeichnung, die reine Hindeutung auf einen Mißstand zu der Formulierung einer konkreten Tat, einem Akt des Widerstands gegen den Status Quo gefunden.
An diesem Punkt wird die Entscheidung verständlich, authentische Kinderzeichnungen zu zeigen, statt nur aktuelle Arbeiten, die eine entsprechende Haltung beziehen:
Während der erwachsene Künstler bereits lange wieder durch die Mühlen der gesellschaftlichen Anpassung gegangen ist und um den Zynismus des normativen Verhaltens weiß, ist die Perspektive des Kindes ungefiltert und unvermittelt.
Die Bilder, mit der die kindliche Psyche versucht mit der oft kindischen Welt der Erwachsenen umzugehen, sind ohne Rücksicht auf eine Außenwirkung entstanden. Im Gegenzug berühren sie uns unmittelbar, da wir ihre Intention nicht in Frage stellen. Der erwachsene Künstler hingegen, der eine solche Position bezieht, gerät immer in den Verdacht eine pädagogische Absicht zu verfolgen.
Einer anderen Künstlerin, mit der ich zusammenarbeiten durfte, wurde von ihrer Professorin die provozierende Frage gestellt, ob sie denn „Weltverbesserer-Kunst“ machen wolle, was in den Augen der Professorin offenbar ein Makel war.
Diesen Vorwurf umgeht der gezeigte Werkkomplex Leopold Schröders geschickt aufgrund der fehlenden Intention, belehrend zu wirken. Und dennoch erzielt er die gewollte Wirkung.
In seinen zwei aktuellen Arbeiten, die den Kinderzeichnungen zur Seite gestellt werden, finden wir auch gut 30 Jahre später eine unveränderte Haltung des Künstlers gegenüber der Welt wieder. Auch hier wird der Versuch unternommen, etwas wieder in sein Gleichgewicht zu bringen.
Vor allem eine Videoarbeit nutzt dabei ein weiteres mal die entwaffnende kindliche Perspektive, hier natürlich artifiziell wiederhergestellt: Der Künstler in einem „Adamskostüm“ trägt eine frühe, von spätpubertärem Kitsch geprägte Malerei eines Aktes im Gras - seine erträumte Eva - zwischen Autos umher und konfrontiert den automobilen Bürger mit der Frage, ob es Autos im Paradies gebe.
Die Form der Inszenierung sowie die Frage sind bewußt schlicht und kindlich naiv gehalten, wodurch die Widersinnigkeit und schließlich die Lächerlichkeit einer vom erwachsenen Standpunkt aus gegebenen Erwiderung, die die gesellschaftliche Normalität repräsentiert, entlarvt wird.
Denn was ist schließlich kindischer? Die Hoffnung auf die Wiederherstellung eines Gleichgewichts oder das Beharren auf einem Status Quo, von dem man weiß, daß er schließlich „auto“-destruktiv ist?
Um zu seinem Ziel zu gelangen, hat der Leopold Schröder in dieser Ausstellung sein aktuelles Medium, seine erwachsene, komplexe und wenigstens in Teilen unvermeidlich korrumpierte Perspektive „geparkt“ und ist auf eine kindliche Schaffensphase umgestiegen. Er hat eine kindliche Perspektive wieder zugänglich gemacht und in den Dienst einer aktuellen Intention gestellt, ohne die genutzte Bildwelt und ihre Ausdruckskraft dadurch zu kontaminieren.
Dadurch ist es ihm möglich geworden so schlichte wie dringlich notwendige, aber in der Regel unerwünschte Fragen an eine Gesellschaft zu richten, die sich in zunehmendem Tempo ihrem endgültigen Infarkt nähert.
„Wir alle laufen auf einen Abgrund zu, nachdem wir etwas vor uns aufgestellt haben, das uns daran hindert, ihn zu sehen.“
Blaise Pascal, Pensèes
„In all den Erscheinungen eines Geistes, der seine Mündigkeit freiwillig preisgibt, vermögen wir nur die Zeichen drohender Auflösung zu sehen. Die wesentliche Merkmale des echten Spiels fehlen darin, obwohl das puerile Betragen oftmals äußerlich die Form des Spiels annimmt. Um Weihe, Würde und Stil wiederzuerlangen, wird die Kultur andere Wege gehen müssen.“
J. Huizinga, Humo Ludens
Ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen 2015 / VG Wort
Schreibwerkstatt in Hamburg - Literarische Projekte - Privates Lektorat und Coaching - Einführungsreden und Katalogtexte zu zeitgenössischer Kunst
Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de
Dienstag, 28. Oktober 2014
Freitag, 10. Oktober 2014
15.10.2014 Vernissage "Die Verkehrung der Verkehrung" von Leopold Schröder mit einer Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen
Vernissage am 15.10.2014 / 19:00
Dauer der Ausstellung 16. - 31.10. 2014
"Die Verkehrung der Verkehrung"
Zeichnungen, Videos und Objekte von Leopold Schröder
Einführungsrede: Dr. Thomas Piesbergen
Einstellungsraum e.V.
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg
Dauer der Ausstellung 16. - 31.10. 2014
"Die Verkehrung der Verkehrung"
Zeichnungen, Videos und Objekte von Leopold Schröder
Einführungsrede: Dr. Thomas Piesbergen
Einstellungsraum e.V.
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg
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