Der
Zustand unserer Welt, unseres gesellschaftlichen Systems, unserer
Alltagswirklichkeit erscheint heute so disparat und unüberschaubar wie nie
zuvor. Vielfach scheinen selbst Intellektuelle und Kulturschaffende sich aus
dem gesellschaftspolitischen Getriebe mehr und mehr in ihre private
Arbeitssphäre zurück zu ziehen, wohl auch getrieben von der Einsicht, dass sich
die relevanten politischen Bewegungen nicht mehr auf der ereignisfixierten
Theaterbühne der Tagespolitik abspielen und das Auf und Ab unserer
Parteienlandschaft mehr und mehr einer Daily Soap ähnelt.
Denn
es sind nicht die einzelnen Ereignisse, die unsere Demokratie formen, sondern
vor allem die großen, darunter liegenden Bewegungen. Die wirkliche Bedeutung
und die Mechanismen dieser Bewegungen werden in den herkömmlichen, ebenfalls
ereignisfixierten Medien kaum thematisiert. Dennoch bestimmen sie schon jetzt
unseren Alltag maßgeblich und werden es in zunehmendem Maße tun.
Es
sind vor allem zwei gegenläufige Bewegungen, die derzeit miteinander um die
Gestaltung unserer Zukunft konkurrieren:
Auf
der einen Seite steht die immer dichter werdende mediale Vernetzung der
Individuen, die in einem nie da gewesenen Umfang Informationsfluss und
Selbstorganisation ermöglicht und uns Werkzeuge zu einer unmittelbaren,
basisdemokratischen Intervention an die Hand gibt. Als Symptome dieser
Entwicklung seien NGOs wie Campact, Attac, Foodwatch oder One.org genannt, die
mit einer Flut von Kampagnen und Petitionen sonst kaum wahrgenommene Vorgänge
transparent machen und die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik wieder
an die Interessen der Allgemeinheit gemahnen, oder Aktionsformen wie Flashmobs,
die ohne digitale Netzwerke kaum zu koordinieren wären.
Auch
in der zunehmenden Zahl von Volksbegehren und - entscheiden, kann ein deutlicher Ausdruck des Unmuts über die
schwerfällige und selbstgenügsame Parteiendemokratie gesehen werden. Ein
wichtiger Punkt bei der Entwicklung basisdemokratischer Strukturen besteht
jedoch darin, nicht nur Haltung zeigen zu können, sondern auch eine Haltung zu
haben, die viel differenzierter sein kann und sein sollte, als das, was
die Parteien-Demokratie heute zulässt - denn das ist meist nur die Wahl des
geringsten Übels.
Dem
gegenüber steht die Tendenz einer stetigen Kulminierung von Macht, Kapital und
Kontrolle. Auffällig ist, dass gerade die Kräfte, die in erster Linie die
Begriffe von Demokratie, Freiheit und Liberalisierung im Munde führen, die
ersten sind, die peinlich darauf bedacht sind, ihre eigenen Aktivitäten
verborgen zu halten und den freien Informationsfluß unter ihre Kontrolle zu
bringen.
Andererseits
werden Begriffe wie Freiheit und Liberalismus dazu angewandt, um das
Gemeinnützige gegen das Eigennützige auszuspielen und gesellschaftliche
Vorgänge zu deregulieren, Die Spielregeln, die sich
Gemeinschaften gegeben haben, um ein zuträgliches Zusammenleben zu ermöglichen, werden abgeschafft. Sie sollen den unkontrollierten Mechanismen des Marktes als
einzigem Ordnungsprinzip weichen. Die größte Kapitalmasse soll fortan bestimmen,
in welche Richtung marschiert wird. Dem jeweiligen Gemeinwesen soll das Recht
abgesprochen werden, über sich selbst zu bestimmen; die staatliche Souveränität
soll unterminiert werden und die Gestaltung der Gesetzgebung zukünftig mehr und
mehr in die Hände der Wirtschaftskonzerne gelegt werden. Auf nationaler Ebene
ist hier die Stiftung Neue Soziale Marktwirtschaft federführend, auf
internationaler Ebene zählen vor allem CETA ,TTIP und TISA zu den aktuellen
Schlachtplänen, die diese unkontrollierte Herrschaft des Kapitals ermöglichen
und unumkehrbar machen sollen.
Kehren
wir aber zurück zum Gemeinwesen, der Grundidee des demokratischen Staates und
dem schönen Bild des Rousseau´schen Gesellschaftsvertrages: Eine große, in der
Regel territorial definierte Gruppe von Menschen einigt sich darauf, eine
Gemeinschaft zu bilden und sich Regeln für ihr Zusammenleben zu geben. Doch
worauf basieren diese Regeln? Auf Vorstellungen von dem, was der Mensch sei.
Aus diesem Grunde lautet auch der erste Satz des ersten Artikels des
Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Jedes
Menschenbild ist unabdingbar verbunden mit einem moralischen System, mit einer
Vorstellung von dem, was dem Individuum und dem Gemeinwesen zuträglich oder
schädlich sei. Unter diesem Gesichtspunkt zeichnet sich eine Gemeinschaft vor
allem dadurch aus, dass sie Verantwortung für ihre Mitglieder übernimmt; Gemeinschaften
sind im Wesenskern moralisch und deshalb solidarisch.
Und
das Kapital? Dazu ein kleines Zitat von Joseph Conrad aus dem Roman
Nostromo von
1904: "Es gibt keinen Frieden und keine Ruhe bei
der Entfaltung materieller Interessen. Sie haben ihre eigenen Gesetze und ihre
eigene Gerechtigkeit. Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie
sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur
im moralischen Prinzip zu finden sind."
Sind
die Staaten und Gemeinwesen erst vollständig dereguliert, wird ihre Aufgabe
darauf reduziert sein, eine effiziente Infrastruktur für den Warenfluss zur
Verfügung zu stellen und Armeen zur Verteidigung privater Ressourcen zu
finanzieren, anstatt den Zugang zu Bildung, Kultur sowie geistiger und
körperlicher Gesundheit zu gewährleisten. Denn die spielen für die Entfaltung
materieller Interessen nur insofern eine Rolle, inwieweit mit ihnen Geld zu
verdienen ist.
Wie
steht es nun um die Kunst in diesem Spannungsfeld zwischen individualisierter
Gestaltungsmöglichkeit in basisdemokratischen Kontexten, dem kategorischen
Imperativ des „Think globally, act locally“ und der von Wirtschaft und
Lobbyisten angestrebten Oligarchie, der Herrschaft der Konzerne, der
neoliberalen Scheindemokratie und Entmündigung, auf die wir uns zu bewegen?
Zum
einen ist ein großer Teil der Kulturschaffenden, zumal die Bildenden Künstler,
durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erfolgreich in prekäre
Lebenssituationen gedrängt worden, die ihnen so gut wie keinen
Handlungsspielraum lassen. Sie sind gezwungen, in stupiden „Brotjobs“ zu
arbeiten, man drängt sie in Umschulungsmaßnahmen etc. Die künstlerische Produktion
belegt notgedrungen das Übrige der Zeit, in dem gesellschaftliches Engagement
hätte stattfinden können.
Zum
anderen scheint „politische“ Kunst in Verruf gekommen zu sein. Ihr haftet
offenbar das Makel des Über-Engagements an, der Geruch naiver Weltverbesserei,
die veraltet erscheinenden Konzepte des politischen Aktivismus der 60er und
70er Jahre, und schließlich die Vorstellung künstlerischer Positionen, die sich
durch ihre belehrende Haltung und aufdringlichen Inhalte selbst
disqualifizieren. Inzwischen scheint an manchen Hochschulen eine Haltung
vorzuherrschen, die die inhaltliche Ebene nicht nur zugunsten der
ästhetisch-formalen Aspekte in den Hintergrund drängt, sondern sie sogar
vollkommen negiert, und damit auch ganze gesellschaftlich relevante
Themenkomplexe aus dem Kanon der zeitgenössischen Kunst auszuschließen
versucht; eine Haltung, die L´art
pour l´art ohne
Bezug zum gesellschaftlichen Status Quo propagiert.
Hier
stellte sich die Frage: Was tut ein Künstler denn sonst, wenn nicht dem Status
Quo auf eine Weise entgegen zu treten, die den Status Quo hinterfragt, ihn
konterkariert, ihn aufbricht? Denn selbst wenn ein Werk kein klar artikuliertes
inhaltliches Anliegen zum Ausdruck bringen, sondern lediglich eine Irritation
hervorrufen und die Wahrnehmungsgewohnheiten des Betrachters aufbrechen soll,
ist das mit der Intention des Künstler verbunden, in einem Sinne auf den
Betrachter einzuwirken, die der Künstler als eine Verbesserung des Status Quo
begreift, also ein Stück „Weltverbesserung“. Kunst ist Kommunikation.
Kommunikation setzt die Intention voraus, auf eine Gemeinschaft einzuwirken,
und schafft wiederum Gemeinschaft. Kunst ist eine „Strukturierende Struktur“.
Ich habe in den letzten Jahren mit zahlreichen Künstlern zusammengearbeitet,
die in diesem Sinne politisch hochbrisante Positionen vertraten, selbst wenn
sie nie von sich behauptet hätten, sie wären politische Künstler. Intuitiv aber
handelten sie aus einem tiefen Unbehagen heraus und entwickelten daraus
kraftvolle und formal-ästhetisch überzeugende Positionen, die im Sinne
Marschall McLuhans auf den Status Quo der Rezeption einwirken und so ihre
„Botschaft“ vermitteln und „Bedeutung“ generieren.
Es
gibt in unserer Gesellschaft kaum eine Sphäre, der so große Freiheit eingeräumt
wird, wie der Kunst, denn sie ist essentiell notwendig, um Wahrnehmungsroutinen
zu überprüfen und aufzubrechen - und das auf eine so vielfältige Weise, wie
irgend möglich. Auf diesem Weg ist sie unmittelbar verknüpft mit einer
Grundvoraussetzung der Demokratie, denn sie gewährleistet den individuellen
Blick, die Bildung individueller Haltung und Persönlichkeit, weshalb in jeder
totalitären Gesellschaft die Kunst (und die Literatur) rigoros reglementiert
wird. Und hier liegt die Verantwortung der Künstler gegenüber dem Gemeinwesen,
das ihnen wiederum einen Handlungsspielraum gewährt. Unsere totalitäre
Vergangenheit hat uns diese Lektion zur Genüge gelehrt, und gerade in der
Erkenntnis, welche Bedeutung die kulturelle Vielfalt und Freiheit für die
Demokratie hat, liegt die historische Ursache für die beispiellose Dichte der
Kulturförderung in Deutschland. Unser
Gemeinwesen hat sich für die Kultur entschieden, nicht als Luxus, sondern als
Selbstschutz!
Die
derzeitigen Bemühungen der neoliberalen Kräfte zielen aber gerade darauf hin,
diesen Spielraum, der in den letzten Jahrzehnten schon deutlich kleiner
geworden ist, weitgehend abzuschaffen. Aus diesem Grunde halte ich es für
unabdingbar notwendig, dass sich alle Kulturschaffenden ihrer
gesellschaftlichen und individuellen Verantwortung bewusst werden, und das
nicht im Sinne parteipolitischen Engagements, sondern zum einen im Sinne
radikal individueller Positionen, die sich weder einer Mode, noch dem
Kunstmarkt, geschweige denn fragwürdigen akademischen Direktiven beugen, die
vorgeben wollen, wie politisch oder unpolitisch Kunst zu sein habe. Zum anderen
muss, um der gezielt herbeigeführten Atomisierung der Gesellschaft entgegen zu
wirken, das Bewusstsein und damit die Handlungsgrundlage eines jeden
Individuums erstarken, Teil eines Gemeinwesens zu sein, dessen wichtigste
Aufgabe es ist, das geistige und körperliche Wohlergehen jedes Einzelnen zu
gewährleisten. Denn wenn das nicht die Aufgabe eines Gemeinwesens und
Staatsgebildes ist, wozu sind Staaten dann nötig?
Die
Freiheit und den Schutz, den unser Gemeinwesen uns Kulturschaffenden noch
bietet, dürfen wir uns nicht vollends wegnehmen lassen! Genauso wenig, wie wir
uns unsere essentielle Bedeutung für den Erhalt der Demokratie kleinreden
lassen dürfen! Kunst ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit!
Ⓒ Dr. phil Thomas J. Piesbergen / VG Wort, März 2015