Dr. Thomas Piesbergen
Eröffnungsrede zur Ausstellung "Stadt von unten" von Andreas Bromba, Einstellungsraum, Hamburg, im Rahmen des Jahresthemas "Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß".
Vor fast 100 Jahren drehte Walther Ruttmann den Dokumentarfilm Berlin - Sinfonie der Großstadt. Er begriff die Stadt als ein organisches Ganzes, als ein Kunstwerk, das sich durch das Zusammenwirken der Menschen manifestiert, ein Kunstwerk vergleichbar mit einer Sinfonie. In diesem Sinne montierte er seine Bilder und Sequenzen wie die Motive einer sinfonischen Komposition. In Fritz Langs Metropolis aus dem selben Jahr wird die Stadt als hochästhetische und perfekt funktionierende futuristische Maschine dargestellt.
Seit dem ist die Bedeutung der Stadt für die menschliche Zivilisation mehr und mehr gewachsen und hat die Bedeutung des Landes zunehmend zu einem bloßen „Hinterland“ schrumpfen lassen, das nur dazu dient, die Ressourcen für die Stadt zu stellen. Auch die demographisch dokumentiert Landflucht und das daraus resultierende stetige Wachstum der Städte macht überdeutlich: die Heimat des Menschen ist mehr denn je die Stadt. Der Stadt gehört die Zukunft.
Aber wie nehmen wir die Großstadt inzwischen wahr? Ist sie noch immer die faszinierende Sinfonie Ruttmanns? Das kunstvolle, organische Zusammenwirken von Mensch und Raum? Die perfekte Maschine?
Glaubt man Institutionen wie der Hamburg Marketing GmbH ist sie das mehr denn je. Doch bereits der Umstand, daß eine Stadt eine eigene Marketing-Abteilung beschäftigt, macht klar: Hier wird die Stadt nicht als ein erhabenes Kunstwerk verstanden, sondern lediglich ein Produkt, das verkauft werden soll, ein Image, eine Ware - die Stadt als Marke. Vielleicht ist dieses Produkt eine kunstfertige Inszenierung, eine gelungene Werbekampagne, eine perfekt retuschierte Postkartenansicht - aber von dem faktisch sinfonischen Zusammenwirken einer urbanen Entität keine Spur!
Mit der futuristischen Hochglanzvision der Städte konkurriert ebenfalls seit den 20er Jahren die Vorstellung der Stadt als Moloch. Seit den Büchern von John Dos Passos, Manhattan Transfer, und Alfred Döblin, Berlin - Alexanderplatz, erscheint die Stadt als Schmelztiegel, als ein unkontrolliert wuchernder Ameisenhaufen, gesättigt mit Gewalt, blind regiert vom Geld, umgeben von trostlosen, kriminellen Vororten, verstopft vom Verkehr, verhangen vom Smog, unterhöhlt von überlasteten U-Bahnsystemen, angefüllt mit einem multikulturellen, lebendigen Gewimmel, nicht nur der Ort, an dem Karrieren entstehen, sondern auch der, wo Karrieren und ganze Leben scheitern und zugrunde gerichtet werden. Diese Vorstellung von Stadt hat vor allem im Zuge der politischen Bewußtwerdung der 60er und 70er Jahre stetig an Bedeutung gewonnen. Die cinematographischen Visionen dazu schufen Ridley Scott im Bladerunner und Terry Gilliam in Brazil.
In jüngster Zeit wird die Stadt auch zunehmend wahrgenommen als Ort des politischen Konflikts, als Testgebiet direkter Demokratie, Schlachtfeld der Gentrifizierung und Bühne neuer und wiederbelebter politischer Ausdrucksformen.
Legt man nun diese verschiedenen Bilder übereinander entsteht ein derartig widersprüchliches, extrem dissonantes Ganzes, das man ohne weiteres als die Kakophonie der Großstadt bezeichnen kann. Das Geräusch der Gassen von Matthias Claudius hat sich zu einem vieldimensionalen, unfassbaren Getöse ausgewachsen, in dem zu dem faktischen Lärm und dem Gewimmel ein dichtes mediales Gewebe getreten ist, gekrönt von dem penetranten, kaum erträglichen Selbstbeweihräucherungsgetöse, mit dem Städte versuchen, ihr Image für Tourismus und Wirtschaft aufzupolieren.
Als Andreas Bromba vor 15 Jahren nach New York kam, um die Stadt zu fotografieren, sah er sich in einem bisher noch nicht gekannten Ausmaß mit dieser Kakophonie konfrontiert. Die herkömmliche Architekturfotografie schien ihm untauglich, dem Sujet auch nur annähernd gerecht zu werden. In der damals begonnen offenen Konzeptserie Stadt von unten, die er bis heute fortgesetzt hat und die hier im Einstellungsraum zum aller ersten mal gezeigt wird, entwickelte er mehrere Strategien, um diesem Getöse zu entgehen, um, wie Matthias Claudius empfahl, „fürbaß zu schreiten“, jedoch ohne zu fliehen - denn wie will man schließlich als Stadtbewohner dem urbanen Kontext entfliehen, wenn man nicht in die eskapistische Falle tappen möchte?
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Andreas Bromba, Modernes Stilleben, New York |
Drei Aspekte spielen in seinem gesamten Werk und vor allem in der ausgestellten Konzeptserie, die sich, wie sein weiteres Schaffen, weitgehend der Stadtphotographie widmet, eine besondere Rolle, auf die ich im Folgenden näher eingehen möchte.
Kehren wir zunächst zurück zu der Metapher der Musik. Eine Kakophonie, ein häßlicher, unangenehmer Klang wird in der Regel erzeugt durch eine Dissonanz, also das Zusammenklingen von Tönen, die nach unserem Empfinden unstimmig sind und einer Auflösung bedürfen. Legt man mehrere Melodien übereinander, entsteht fast immer unmittelbar der Eindruck eines unerträglichen Durcheinanders, der Eindruck des Lärms, selbst wenn jede dieser Melodien für sich genommen als schön empfunden wird.
Im diesem Sinne sucht Bromba nach Details, nach einzelnen Motiven, die, befreit aus dem Zusammenhang der großen Kakophonie und den übermächtigen Vektoren urbaner Bewegungen, ihre eigene, stille Melodie entfalten können. Er sucht nach Details, die ihre eigenen Geschichten in sich zu tragen scheinen. Und wie zu erwarten sind diese Details selten Repräsentanten der offiziell zur Schau gestellten „Oberflächen“ der Städte.
Es sind Einzelheiten, die sich dem ökonomisch verwertbaren Mainstream entgegensetzen, Einzelheiten, die von den Menschen erzählen:
Eine Bananenschale, auf der offenbar jemand ausgerutscht ist.
Eine Figur auf einem Steinrelief, der jemand eine Blume in die Hand gedrückt hat - mit welchem Hintergedanken?
Ein leerer Waschsalon, in dem man die Phantome der Menschen zu spüren vermeint, die dort sonst gemeinsam ihre schmutzige Wäsche waschen.
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Andreas Bromba, Gefahr überall, Polen |
Diese Details werfen Fragen auf und regen unsere Vorstellungskraft an. Wir beginnen zu imaginieren, wie diese Details zustande gekommen sind, welche Menschen die gezeigten Orte aufgesucht haben oder aufsuchen werden,was dort geschehen ist oder geschehen wird. Auf diesem Weg wird das Individuum aus der anonymen Masse der urbanen Statisten gerettet. Sein Leben, seine eigene Wirklichkeit darf sich behaupten und es wird nicht mit allen seinen Leidensgenossen zu einer gesichtslosen form- und kontrollierbaren „Bevölkerung“ degradiert.
Ein weiterer Aspekt, der den Austritt aus den funktionalen Bewegungen des urbanen Getriebes erlaubt, ist der Verfall.
Der Verfall macht Dinge nutzlos, öffnet ihnen aber gleichzeitig einen poetischen Raum, ganz im Sinne der Poetik von Günther Kuhnert, für den sich die Poesie dadurch auszeichnet, das sie gleichzeitig nutzlos und sinnvoll ist.
Dinge werden durch den Verfall ihrer eigentlichen Funktion beraubt, bleiben aber dennoch bestehen und sperren sich durch ihre bloße Anwesenheit gegen die Konzepte der Optimierung. Sie lösen sich aus dem Getöse und der großen Bewegung und stehen uns als Solitäre gegenüber. Die Gedanken stoßen sich an ihnen, verweilen bei ihnen.
Ihre offenkundige Vergänglichkeit erinnert uns an die Vergänglichkeit aller Dinge und relativiert so die Bedeutung von den immer nagelneuen Ikonen des Fortschritts und des modernen urbanen Lebens, die selbst umso ephemerer sind, je enger sie an Mode und Zeitgeist geknüpft sind.
Andererseits kann der Verfall Dinge auch auf eine Art und Weise verwandeln, daß sie eine andere, überraschende Gestalt annehmen und nicht mehr als funktionale Elemente in der großen Stadtmaschine, sondern als eigenwillige, ästhetische Objekte betrachtet werden können. So wird z.B. ein auseinander gefallenes Regenrohr, gehalten von unsichtbaren Drähten oder Kabeln, zu einer luftigen Installation, der man durchaus die Intention eines Künstlers unterstellen könnte.
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Andreas Bromba, Stilles Leid, Kaliningrad |
Ein weiterer, zum Verfall scheinbar gegenläufiger Aspekt in den Bildern von Andreas Bromba sind die Kinder, die immer wieder zu sehen sind.
Sie werden nicht gezeigt in plakativen, zeichenhaften Situationen, wie sie ganz im Sinne einer Stadtmarketing-Agentur wären. Wir sehen keine lachenden Kinder auf nagelneuen Spielplätzen, keine lachende Kinder in Vergnügungsparks, keine lachende Kinder mit Eistüten von gläsernen Fassaden, keine lachende Kinder vor einer postkartentauglichen Skyline.
Wir sehen sie vielmehr in kleinen, beiläufigen Szenen, die zunächst kaum signifikant erscheinen mögen, die aber, sobald man sich in die eigene Kindheit versenkt, zusehends an Tiefe gewinnen.
Bromba zeigt uns Kinder in Situationen, die tatsächlich kennzeichnend für die Kindheit sind. Wir sehen Kinder, die ganz bei sich sind, die in den Augenblick versenkt sind, die sich in einer Welt, so unvollkommen sie auch sein mag, mittels ihrer Vorstellungskraft Inseln geschaffen haben, auf denen eigenständige und eigenwillige Gesetze gelten, auf denen ihre eigene, in sich geschlossene Version der Wirklichkeit herrscht.
Wie die unscheinbaren Details sind sie umgeben von ihren eigenen Geschichten. Wie die vom Verfall heimgesuchten, vergessenen Dinge haben sie sich einen poetischen Raum geschaffen, der sie jeder Funktionalität, Kontrolle und Verwertbarkeit entzieht. Sie folgen ihrer eigenen Melodie, ihrem eigenen inneren Ton und scheinen kaum beeinträchtigt zu sein von dem „Geräusch auf der Gassen“, das die Städte überflutet hat.
Wir sehen ein Mädchen in stummer Zwiesprache mit einem Bären im Zoo von Königsberg, in deren Phantasie sich vielleicht gerade die Vorstellungen einer tiefen, märchenhaften Freundschaft zu dem Tier entspinnt.
Ein anderes Bild zeigt zwei Jungen in dem verarmten Araberviertel von Jerusalem, die sich eine kleine Nische in einer Mauer als Rückzugsort und den ewig wandelbaren Ort ihrer Spiele erobert haben, der mal Küche, mal Palast, mal Räuber- oder Drachenhöhle, mal Polizeirevier sein kann.
Ein drittes Bild zeigt einen kleinen Jungen, der vor einer mit Graffiti besprühten Mauer auf einem Kantstein balanciert. Hinter ihm prangt der Schriftzug „Königsberg“, durch das ebenfalls eine große lokalpatriotische Welle des imagefördernden Stadtmarketings rollt. Doch darum kümmert sich der Junge nicht, er wendet den Parolen und Tags den Rücken zu und es wird klar, die Graffitis und das, wofür die stehen, sind bereits in die Vergangenheit gerückt, sind jetzt schon dem Verfall ausgesetzt.
Die Zukunft hingegen wächst in dem eigenen poetischen Raum, in der eigenwilligen Welt des Kindes heran.
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Andreas Bromba, Königsberg im Rücken, Kaliningrad |
Angesichts dieses Bildes wird spätestens auch der Hintersinn des Namens der Ausstellung und der Konzeptserie offenkundig. Stadt von unten deutet vor allem darauf hin, woher die Städte ihre Kraft beziehen, ihre Lebendigkeit. Denn das, was die Städte am Leben erhält, sind nicht imagefördernde Maßnahmen oder prestigeträchtige Unternehmungen, sondern es sind die vielen Leben, die vielen, eigenwilligen Stimmen und die sich selbst genügenden Melodien im dissonanten Chor, der sich beharrlich weigert, eine harmonische Sinfonie der Großstadt zu werden.
ⓒ Dr. phil. Thomas Piesbergen / VGWort, Juni 2015