Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Montag, 14. November 2016

2. - 4. Dezember: KLEINE FORMATE 2016 Ausstellung - Lesung - Konzert

Das Atelierhaus Breite Straße lädt herzlich ein zu einer Ausstellung mit Gästen: Malerei, Objekte, Zeichnung, Fotografie, fotographische Installation, Mixed Media, Musik, Text

Kleine Formate 2016

Birgit Bornemann_____mioq
Rainer Garbe________Claudia Blank
Fabian Hammerl_____Jiaying Zhang
Thomas Piesbergen___Katharina Unteutsch
Stilla Seis___________Edith Sticker
Adriane Steckhan_____Claudia Hinsch

Künstlerhaus Breite Str.70
22767 Hamburg Altona Altstadt
www.breitestrasse.com

2. Dez.
19:00 Vernissage mit Konzert von Ride Lonesome

3. Dez.
12:00 - 18:00 Ausstellung

4. Dez.
12:00 - 18:00 Ausstellung
17:00 Lesung der Schreibwerkstatt Das Textprojekt
mit Katharina Unteutsch und Thomas Piesbergen


Donnerstag, 3. November 2016

Die Hand im Archiv - Einführungsrede zu "Waltraut Kiessner - manus loquens" von Dr. Thomas Piesbergen

Waltraut Kiessner - manus loquens / Eine Ausstellung im Einstellungsraum zum Jahresthema Speichern.Akkumulieren
November 2016


Zu den wichtigsten physischen Aspekten der Menschwerdung, die sich weitgehend im Pliozän abgespielt hat, gehört neben dem aufrechten Gang, der Entwicklung von Zahnbogen, Zungenbein und Kehlkopf sowie dem zunehmendem Volumen des Gehirns die Herausbildung der menschlichen Hand.

Im Vergleich zu der Hand des Menschenaffen ist sie gekennzeichnet durch verkürzte Finger und die Fähigkeit des Daumens zu einer opponierenden Haltung. Dadurch waren die Urmenschen wie die Australopithecinen und der Homo Erectus in der Lage, Gegenstände viel fester zu greifen und vielfältiger zu handhaben als die Menschenaffen imstande sind. Zugleich war es ihnen möglich, die Hand zur Faust zu ballen; so wurde die Hand nicht nur zu einem hocheffektiven Greifwerkzeug, sondern auch zum Schlagwerkzeug und zur Waffe.

Als wichtigstes nicht-physiologisches Kennzeichen der Hominisation gilt das intentionelle Zurichten und der Gebrauch von Werkzeugen. Mit ihnen beginnt das, was wir als die Kulturgeschichte des Menschen bezeichnen.
Vorraussetzung dafür aber ist die vorangegangene Entwicklung der menschlichen Hand. Denn selbst wenn andere Spezies über eine Intelligenz verfügen, die mit der des Homo Sapiens annähernd vergleichbar wäre, wie z.B. bestimmte Papageienarten oder Delfine, sind sie nicht in der Lage, ihre Welterfahrung in materielle Kultur zu übersetzen und sich langfristig ein Lebensumfeld zu schaffen, das klar von der natürlichen Umwelt zu trennen ist.

Zu diesem Akt der Neuerschaffung der Welt ist nur der Mensch fähig; und dazu befähigt ihn die Physiognomie der Hand. Sie stellt die operative Schnittstelle zur Welt dar, unsere Möglichkeit, sie zu begreifen, sie uns anzueignen, auf sie einzuwirken und schließlich zu transformieren.

Die Einsicht der Bedeutung der Hand und ihres Hinausgreifens in die Welt brachte die ältesten dem Menschen bislang bekannten Kunstwerke hervor:
Negativabdrücke von Händen. 40.000 Jahre alte Höhlenmalereien auf der indonesischen Insel Sulawesi zeigen ganze Gruppe von weit gespreizten, schlanken und langgliedrigen Händen, die auf die Felswände gelegt und mit Farbe übersprüht wurden.

Höhlenmalerei, Sulawesi/Indonesien, ca. 40.000 v.Chr.

Ganz sicher sind sie in einem kulturellen Kontext zu begreifen, der durch ein sog. fließendes Bewußtsein gekennzeichnet ist, in dem der einzelne Mensch sich noch nicht getrennt von den anderen Individuen seiner Gruppe und der Umwelt versteht, sondern alle Erscheinungen der Welt als Teile eines einzigen magischen Fluidums begreift, das mit der Logik des Analogiedenkens zu verstehen ist.

Wenn eine materielle Hand in die materielle Welt greifen kann, um Veränderungen in ihr hervorzubringen, so kann eine immaterielle Hand Veränderungen der immateriellen Seite der Welt bewirken, die wiederum ihre Entsprechung in der materiellen Welt zeitigen wird. Die Abbildung der Hand ist hier also zu verstehen als Kontaktaufnahme mit den immateriellen Aspekten der Welt sowie eine beabsichtigte Einwirkung auf die Welt mit immateriellen Mittel.

Aus diesem ursprünglichen Analogiedenken hat sich die zentrale Bedeutung der Hand im Rahmen rituell-magischer Handlungen erhalten. Keine magische Handlung, kein Segen, der ohne Handzeichen oder akutes Agieren der Hände auskommt. Heiler legen die Hände auf, Pastoren schlagen mit den Fingern das Kreuz über der Gemeinde, im Gebet werden die Hände anrufend zum Himmel erhoben oder gefaltet.

Noch im gegenwärtigen Informationszeitalter ist diese symbolische Bedeutung der Hand präsent und die digitalen Entsprechungen der prähistorischen Hand-Abdrücke begegnen uns ununterbrochen: Während sich die materiellen Hände über Tastaturen, Touchscreens und Mousepads bewegen, öffnen uns immaterielle Hände als kleine Icons per Klick immaterielle Fenster und greifen zu auf immaterielle Inhalte.

In den frühesten Bildwerken wie in ihren digitalen Entsprechungen, findet sich einer der wohl zentralsten Elementargedanken des Menschen:
Die Hand als Repräsentation des Handelns schlechthin, als das primäre Werkzeug, das unsere Vorstellungen und unseren Willen in der materiellen und immateriellen Welt in Erscheinung treten läßt und gleichzeitig das Hinüberziehen und Aneignen der Dinge ermöglicht.

Diese elementare Bedeutung der Hand ist bis heute in zahllosen Begriffen und Redewendungen unserer Sprache präsent:

- An erster Stelle steht der Begriff der Handlung, der jedwede Tätigkeit mit der Hand
  im Zusammenhang bringt
- Wir sprechen davon, unser Schicksal liege in Gottes Hand
- wir sind jemandes rechte Hand, wenn wir dessen Willen umsetzen
- uns sind die Hände gebunden, wenn wir nicht handeln können
- wir begreifen oder erfassen Dinge und können mit ihnen gedanklich umgehen,
   wenn wir sie zuvor mit Begriffen belegt haben
- wenn wir über etwas nachdenken, so befassen wir uns damit
- wenn Dinge offenkundig sind, so liegen sie auf der Hand
- wenn wir uneingeschränkt handeln können, so haben wir freie Hand
- wenn wir uns der Aufgaben und Handlungen eines anderen bemächtigen nehmen
   wir sie ihm aus der Hand
- wenn man mit einem Vorgang nichts zu tun haben möchte, so läßt man die Hände
   oder die Finger davon
- wenn man Macht über jemanden hat, so kann man ihn um den Finger wickeln und
   hat ihn es in der Hand
- genauso geht der Begriff Manipulation auf das lateinische manus (Hand) zurück.

Die Hand als Repräsentation des Handelns an sich steht also auch für die bereits erwähnte Macht, auf die Welt einzuwirken und sie umzugestalten.

Durch diese Fähigkeit zur Umformung ermöglicht sie uns, unsere Erfahrungen überzeitlich zu fixieren. Indem wir die Dinge der Welt ordnen und eine künstliche Dingwelt schaffen, fixieren wir unsere Konzepte der Wirklichkeit, denn sowohl die Ordnung des Raums als auch die Gestalt der vom Menschen erschaffenen Dinge sind Ausdrücke einer non-verbalen Kommunikation.

Unsere kulturelle, von Menschenhand erschaffene Umwelt ist somit ein Archiv unserer Vorstellungen von der Ordnung der Welt, die mit unserem Erfahrungskontinuum Feedbacks erzeugt und auf diese Weise Strukturen für die weitere geistig-kulturelle Entwicklung des Menschen liefert. Die vom Menschen erschaffene Lebens- und Dingwelt fungiert also als ein externes kulturelles Archiv, das auf unsere Wahrnehmungs- und Handlungsweisen affirmativ oder inspirierend einwirkt.

Erst die Hand ermöglicht es dem Menschen also, die zeitübergreifende kollektive Kommunikationsstruktur zu erschaffen, die wir als Kultur bezeichnen.

Tatsächlich tritt uns dieser Elementargedanke der Hand als operativer Schnittstelle zur Welt und den von uns geschaffenen Archiven vor allem in der Kunst mit exemplarischer Klarheit entgegen. Wie zu Beginn der menschlichen Kultur erschaffen die Hände der Künstler immer wieder aufs neue Konstellationen, die neben einer materiellen Seite vor allem eine immaterielle Bedeutungsebene bieten, eine neue gedankliche Umwelt im dinglichen Archiv der menschlichen Lebenswelt, die zuvor durch ein metaphorisches, immaterielles hinausgreifen in die Wirklichkeit inspiriert worden ist.

Eine kleinere, fast schwarze Arbeit Waltraut Kiessners läßt eine dunkle Folge von drei oder vier Händen erahnen, die eine Reihe von bedeutsamen Gesten zu vollführen scheinen, eine Folge unverständlicher Zeichen mit einem uns verborgenen Zweck, fast als vollführten sie eine Choreographie okkulter Manipulationen, die in Verbindung gesetzt werden kann mit dem rituell-magischen Ausgreifen in die immateriellen Aspekte des Seins, um im Sinne des Analogiedenkens auf die Dingwelt einzuwirken - der Archetypus magischer Handlung.

Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016

Die Hand als Werkzeug zur Erkundung der Welt ist in Waltraut Kiessners Video-Installation „Punktum“ im Keller des Einstellungsraum zu sehen.
Eine Hand schlägt wieder und wieder nach fliegende Tennisbälle, will sich ihrer bemächtigen, sie kontrollieren. Um den Monitor liegen ungeordnet aufgebrochene und zerschnittene Tennisbälle. Sie erinnern an das Vorgehen von Kleinkinder, Spielzeug, Alltagsgegenstände, Käfer oder Blumen in ihre Einzelteile zu zerlegen, um ihnen auf den Grund zu gehen, sie begreifen und sich aneignen zu wollen.
 
All die Dinge, mit denen wir uns befassen und mit denen wir geistig umgehen, konstituieren unsere Wirklichkeit - und rückwirkend unser Selbst. Das Buddha-Zitat, das unser Selbst als die Summe all dessen bezeichnet, was wir gedacht haben, läßt sich dahingehend übersetzen, daß wir das interne Archiv all dessen sind, was wir begriffen und erfasst haben - nicht in dem Sinne, daß wir es verstanden hätten, sondern daß wir damit physisch und in Gedanken umgegangen sind und es mit Begriffen belegt haben.

Unser Geist ist also wie unsere künstlich geordnete oder neu geschaffene Umwelt ein Archiv. Doch es ist kein statisches Archiv und es zeigt seinen Inhalt nur, wenn wir aktiv darauf zurückgreifen.

Mit diesem Gedanken beschäftigt sich eine andere Arbeit von Waltraut Kiessner: Ein Raster von Glasscheiben, die meisten davon blind, milchig. Auf manchen aber zeigen sich tastende und zeigende Hände auf Papierfragmenten, deren Form bestimmt wurde von vorher darauf ausgebrachtem Fett, Metapher für aktive, lebendige Energie. Über die Fragmente sind wiederum erste Schichten in verschieden Medien aufgebracht, Fotokopien, Öl, Kreide, Textilien oder Kohle, die sich auf den Händen in weiteren Schichten verdichten.

Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016

Die Hände stehen für die Arbeit in unserem geistigen Archiv, für den Umgang und die stetige Revision unserer Erinnerungen, mit der wir gespeicherte Dinge für kurze Zeit sichtbar machen, indem wir uns mit ihnen befassen, sie im Diskurs mit der Wirklichkeit abgleichen, abändern oder wieder verwerfen und schließlich auf unbestimmte Zeit wieder verschwinden lassen hinter dem blinden Milchglas schlummernder Erinnerungen.

Doch nicht nur die stetig umgeformten Inhalte des Archivs sind Ergebnis eines Prozesses, auch die metaphorischen Hände selbst, unsere geistigen Werkzeuge der Erkenntnis, sind erst durch diesen Prozess zu dem geworden, was uns als vielschichtiges Phänomen entgegentritt. Denn die Hände bestehen aus dem, in das sie hinausgreifen, aus dem, was sie sich aneignen, in dem sie damit umgehen. Wir sehen den Übergang der Außenwelt über das Begreifen in die Innenwelt des Archivs. Das Außen wird zum Innen; das innere und das äußere Archiv spiegeln sich ineinander als strukturierende Strukturen.

Ebenfalls als Arbeit im inneren Archiv kann ein Video gelesen werden, daß eine Hand zeigt, die versucht, einen roten Faden zu entwirren, zu straffen und Knoten in ihn zu schlagen. Der rote Faden entpuppt sich aber als widerspenstig. Kaum ist er gestrafft, schnurrt er wieder zu einem chaotischen Gewirr zusammen, und die Knoten, die Fixpunkte, die wir versuchen in unsere Erinnerung und unsere Biographie zu schlagen, lösen sich wieder von selbst oder werden von der agierenden Hand wieder gelöst.
Und langsam, zuerst unbeabsichtigt, dann in dem Versuch der Substanz des roten Fadens auf den Grund zu gehen, löst er sich auf, bis schließlich nur noch kaum sichtbare rote Flusen auf dem weißen Untergrund zu sehen sind und die Hand reinen Tisch macht, tabula rasa, und die Bühne freimacht für den nächsten Versuch, die Welterfahrung zu ordnen.

Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016

In einer anderen Serie von Bildern wird durch eine quasi-narrative Reihung, die einmal mehr das Prozesshafte, das stets Handelnde, das „Duré“ der Handlungstheorie angedeutet.
Die Bilder zeigen Hände, die, nachdem sie die Welt in sich aufgenommen und vielschichtig in sich gespeichert haben, sich im buchstäblichen Sinne mit sich selbst befassen. In einer Reflektion versuchen sie zu begreifen, was die Welt begreift.

Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016

Hier begegnet uns einmal mehr das fließende Bewußtsein und das Analogiedenken aus der Urzeit der Kunst wieder, die Entsprechung von Innen- und Außenwelt.

Und wir können darin das uralte, immer wiederkehrende Diktum aller mystischen Lehren entdecken: Willst du die Welt erkennen, erkenne dich selbst! 

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2016

Freitag, 21. Oktober 2016

2. November 2016: Vernissage "Waltraut Kiessner - Manus Loquens" mit einer Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen

Im Rahmen des Jahresthemas "Speichern.Akkumulieren" zeigt Waltraut Kiessner Zeichnungen, Installationen und Videos. Dr. Thomas Piesbergen spricht zur Einführung über die Transformation von Äußerem in Inneres und die stete Metamorphose erinnerter, innerer Archive.


Wandsbeker Chaussee 11
Vernissage am 2. November 2016 / 19:00



Donnerstag, 6. Oktober 2016

Der Sinn nutzloser Wirkpotenziale - Einführungsrede zur Ausstellung "Yukari Kosakai - Krafttakt" von Dr. Thomas Piesbergen

Eine Ausstellung im Rahmen des Jahresthemas "Speichern. Akkumulieren." im Einstellungsraum, Hamburg, Oktober 2016

Der Mensch im postindustriellen Zeitalter ist daran gewöhnt, sich mit realen und zunehmend auch virtuellen Dingen und Erscheinungen zu umgeben, mit Gebrauchsgegenständen, Diensten und Vorrichtungen zur Zerstreuung, die vor allem anhand der Kategorie ihrer Zweckmäßigkeit wahrgenommen werden, sowohl im rein pragmatischen, als auch im irrationalen Sinn, wenn wir Dinge durch diskursive Repetition mit vermeintlichen Bedeutungsgehalten aufgeladenen haben.

Stets beruht unser Urteil über die Erscheinungen unserer Alltagswelt auf dem teleologischen Zweck, den wir erkennen oder den wir den Erscheinungen auf dem Weg der Reifikation beimessen. Wenn uns die Dinge dienen und wir aus ihnen einen Nutzen ziehen können, scheint dieser Umstand uns meist zu einer Einschätzung und Beurteilung dieser Dinge zu genügen.

Das „Wie“ der Dinge verschwindet für das Gros der postindustrieller Konsumenten hinter der Oberflächenlosigkeit der semi-virtuellen Mensch-Maschine-Interfaces, den Touchscreens, mit denen unser Alltag zunehmend ausgekleidet wird. Wir bewegen uns mehr und mehr in einer Welt digitaler Bilder und Dienstleistungen, die im Jenseits der immateriellen Oberflächen generiert werden. Wer vergegenwärtigt sich schon, was sich jenseits der realen, materiellen Oberfläche eines Touchscreens abspielt?

Übersetzen wir diese depravierte, beschnittene Wahrnehmung in das aristotelische Konzept der Ursachen, scheint den meisten Menschen nur die causa finalis von Bedeutung zu sein. Möchte man sich den Dingen jedoch in ihrer Ganzheit widmen, ist es notwendig, auch die anderen drei von Aristoteles beschriebenen Ursachen zu betrachten: die causa materialis, die causa efficiens und die causa formalis.

Die causa materialis, also die Materialursache, beschreibt, welchen Materialien ein Gegenstand oder eine Erscheinung überhaupt ihre Existenz verdankt, welche chemischen Stoffe also die Gestaltwerdung oder Wirksamkeit des Objekts in der physischen Wirklichkeit verursachen.
Die causa efficiens, die Antriebsursache, bezeichnet den Arbeitsaufwand, die umgesetzte Energie, die notwendig gewesen ist, um aus den Materialien den Gegenstand zu formen oder die Erscheinung hervorzubringen.
Die causa formalis, die Formursache, schließlich stellt den Bauplan, die angestrebte Ordnung oder die gestaltgebenden Bedingungen dar, nach der die Materialien zusammengefügt worden sind, um schließlich die uns entgegentretende Form hervorzubringen.
Kein Haus existiert ohne die Absicht, ein Haus zu bauen (causa finalis), ohne Holz und Steine (causa materialis), ohne Bauplan (causa formalis) und ohne die Arbeit von Handwerkern (causa efficiens).

Natürlich gibt es zahllose Interdependenzen zwischen den vier aristotelischen Ursachen und zunächst erscheinen sie gleichberechtigt, doch tatsächlich gibt es eine markante Polarität zwischen den zuletzt genannten drei Ursachen, die man als Wirkursache zusammenfassen kann, und der causa finalis, der Zweckursache. Denn während die causa materialis, die causa efficiens und die causa formalis in der Vergangenheit eines Gegenstandes zu verorten sind, ist die Zweckursache etwas Zukünftiges, Vorweggenommenes.

Wir betrachten Dinge und uns interessiert fast nur, wie ihre Funktion in unserer eigenen Zukunft zur Wirkung kommen und sich entfalten kann. Wird die Übertragungsrate mit der neuen Breitbandverbindung größer? Funktioniert die Bildbearbeitung mit dem neuen Prozessor wirklich schneller? Wird mich mein neues Navigationsgerät auch sicher um Staus und Baustellen herumführen? Komme ich mit der neuen Parkhilfe zukünftig in noch kleinere Parklücken? Wirke ich durch die Anschaffung eines leistungsstarken Cabrios jugendlicher und sexuell attraktiver?

Kaum jemand setzt sich, wenn er mit einer Hervorbringung der Zivilisation konfrontiert wird, damit auseinander, aus welchem Material ein Gegenstand angefertigt ist, welcher Arbeitsaufwand oder welche Energie notwendig gewesen ist, ihn herzustellen, oder wie er, abgesehen von seiner Bedienbarkeit, eigentlich funktioniert? Man benutzt die Dinge und hat den Blick dafür verloren, was in ihnen vorgeht. Die causa finalis, der Zweck, den sie erfüllen, ihre „Performance“ überlagert alle möglichen Überlegungen über ihr Zustandekommen.

Was geschieht aber, wenn man mit einem Gegenstand konfrontiert ist, dessen causa finalis nicht zu benennen ist, der ganz offenbar eine Funktion aufweist, diese Funktion aber keinen offensichtlichen Zweck verfolgt? Wie nehmen wir einen Gegenstand wahr, der zwar Energie umsetzt, aber dennoch schlicht und ergreifend nutzlos ist?

Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016

Solchen Objekten werden wir in der aktuellen Ausstellung „Krafttakt“ von Yukari Kosakai ausgesetzt. Und nach einer ersten, leichten Irritation beginnt unser Verstand das zu tun, was er gewohnt ist zu tun: er versucht den Zweck der verschiedenen Apparaturen, Versuchsanordnungen und Objekte zu entschlüsseln, versucht, die möglichen Ergebnisse der in ihnen angelegten Prozesse zu extrapolieren und in die Zukunft zu übertragen.
Doch um diesen gedanklichen Schritt überhaupt vollziehen zu können, ist der Betrachter notgedrungen auf die drei Wirkursachen, die er im Alltag selten beachtet, zurückgeworfen:
Was für Materialien habe ich vor mir? Was wirkt auf sie ein und mit welcher Stärke? Was für eine Transformation wird dadurch in Gang gesetzt oder was für ein Mechanismus ausgelöst?

In kleinen Kästen aus Holz und Glas sehen wir Zylinder und Stifte aus Wachs, eingespannt in verschiedene Mechanismen, die auf die Wachskörper einwirken. Ihre kinetische Energie erhalten die Mechanismen von starken Spiralfedern. Rote Markierungen auf den Sichtgläsern machen die schleichende Verformung sichtbar, eine Stauchung, eine Torsion oder eine Durchdringung, bis die in der Spiralfeder gespeicherte kinetische Kraft aufgebraucht und die Feder in einen Ruhezustand gekommen ist, die causa efficiens also ihre Wirkung gezeitigt hat.

Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016
Eine andere Apparatur besteht aus einem aufrecht stehenden Holzgestell, in das zehn dicke Wachsplatten eingespannt sind, die ihm die Anmutung eines Starkstrom-Isolators oder Tesla-Transformators geben. Auf der obersten Platte, beschwert von einem Gewicht aus Gips, ruht ein Halterung mit Rotlichlampe. Von dieser Halterung läuft ein Seil zu einem kleinen hölzernen Rad, das wiederum ein großes Rad in Bewegung setzt, an dem ein weiteres Gipsgewicht hängt. Die Last der Halterung und das Rotlicht werden solange auf die Wachsplatten einwirken, bis sie, eine nach der anderen, nachgeben, das Rad in Gang setzen und schließlich das zweite Gewicht in die Höhe heben werden.

Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016

Eine weitere Versuchsanordnung besteht aus einem Turm übereinander gestapelter Kegelstümpfen aus Wachs. Auf dem obersten Kegelstumpf ruht eine Metallschale  die mit einem langen Kantholz an einem Gelenk an der Wand angebracht ist. Über die Schale ist eine Rotlichtlampe montiert, die auf die Schale gerichtet ist, während eine Spiralfeder im Inneren des wächsernen Turmes gleichzeitig die so erwärmte Metallschale nach unten zieht. Der ganze Turm schließlich steht auf einem kleinen, hölzernen Schienenwagen. Erhitzt sich die Schale und schmilzt das Wachs ist anzunehmen, daß der hölzerne Arm sich seinem Radius folgend nach unten bewegt und den kleinen Wagen samt Turm langsam näher an die Wand zieht. Diese erwartete Bewegung kann anhand einer auf dem Boden befindlichen Skala abgelesen werden; doch der hier suggerierte Zweck, also das Messergebnis, ist wiederum völlig nutzlos, denn es erfüllt keinen Zweck, darf also nicht als causa finalis mißverstanden werden.

Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016

In allen Fällen wird die causa materialis von der causa efficiens solange transformiert, bis das Material der Energie keinen Widerstand mehr leistet und die im Objekt gespeicherte Energie aufgebraucht ist, bzw. die sich bewegenden Teile zu einem Ruhepunkt gekommen sind, der eine weitere Transformation ausschließt. Man könnte die Installationen also vergleichen mit Batterien, die sich langsam selbst entladen.

Auf drei verschiedene Arten und Weisen kommt hier die Zeitlichkeit der Objekte und der ihnen inhärenten Prozesse ins Spiel:

Zunächst sind, wie eben gezeigt, die Anordnungen zeitlich terminiert. Denn schließlich wird die Wirksamkeit von causa efficiens, causa materialis und causa formalis zu einem Ende kommen. Die Energie ist aufgebraucht, die materielle Transformation zu Ende gebracht und damit die dem Bauplan entsprechende Gestalt aufgelöst. Die Kunst-Batterie hat sich selbst entladen.

Zum zweiten fehlt ihnen die in der Zukunft liegende Zweckursache. Die Anordnungen sollen nichts hervorbringen, werden kein angestrebten Endzustand erreichen. Man könnte sagen, ihr Zweck ist reiner Selbstzweck, nämlich der Vollzug des gegenwärtigen, in ihnen angelegten Prozesses. Wir sind also darauf zurückgeworfen, uns mit dem Nachvollzug der Funktion und den ihr zugrunde liegenden, gegenwärtigen Wirkursachen auseinanderzusetzen, während unser Verstand versucht, diese sich öffnende, ungewohnt intensive Gegenwärtigkeit der Anschauung mit Projektionen möglicher aber unvorhersagbarer End-Szenarien der angestoßenen Transformationsprozesse zu füllen.
Das Kunstwerk zeigt sich nicht als überzeitliches Objekt, sondern als zeitlich begrenzter Prozess, dessen Komponenten nur durch ihr Zusammenwirken Relevanz erhalten. Die materielle Seite der Arbeiten ist also nur ein Vehikel, ein Repräsentant für die gegenwärtige Transformation, in die wir durch Anschauung eingebunden werden.

Schließlich werden wir mit der Dimension wahrgenommener Zeit konfrontiert: Wir wissen, es findet eine Transformation statt, doch können wir sie nicht akut beobachten, so wie man auch nicht die Bewegung des Stundenzeigers, ja nicht einmal die des Minutenzeigers einer Uhr tatsächlich beobachten kann, auch wenn wir wissen, das, was reglos erscheint, in unablässiger Wandlung begriffen ist. Trotz des scheinbar statischen Erscheinungsbildes der Installationen finden wir in ihnen eine Metapher des vorsokratischen „panta rhei“ -  alles fließt.

Es erinnert uns daran, daß auch auf die scheinbar statische Welt um uns herum ununterbrochen deformierende und transformierende Kräfte einwirken, daß wir umgeben sind von Mechanismen und Wirkpotenzialen, die nicht dem vordergründigen, teleologischen Zweckdenken des Menschen untergeordnet sind, die aber dennoch unsere Welt umbemerkt und unentwegt bewegen und verändern, die wir erst wahrnehmen können, wenn wir uns auf eine geduldige Beobachtung der Wirkursachen einlassen, anstatt stets nur die Zweckmäßigkeit der Dinge zu projizieren.

In diesem Sinne kann man nicht nur das Material „Wachs“ als Inbegriff der nahezu unbegrenzten Formbarkeit bei gleichzeitig fester Erscheinung begreifen; auch ein Schlauch, der sich aus dem Kriechkeller des Einstellungsraums windet um gleich wieder darin zu verschwinden, kann als metaphorischer Verweis auf das durch ausgreifende Zeiträume verdeckte Wirken kinetischer Bewegung gelesen werden. Die signalrote Flüssigkeit, die unsere Aufmerksamkeit fordert, scheint vor unserem Auge solange zu ruhen, bis plötzlich eine Luftblase durch sie hindurch gleitet und uns ihr sonst unsichtbares Fließen enthüllt.

Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016

Ein vordergründig nutz- und zweckloses Fließen zwar, das aber durch den gedanklichen und rezeptiven Zusammenhang, in dem es sich zeigt, und durch die Sensibilisierung, die es uns abfordert, zwar nutz- und zwecklos, jedoch nicht sinnlos ist.


ⓒ by Thomas J. Piesbergen / VGWort, Oktober 2016



Montag, 3. Oktober 2016

5.10.2016 Vernissage "Yukari Kosakai - Krafttakt" mit einer Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen

Die japanische Künstlerin Yukari Kosakai beschäftigt sich in ihren Installationen mit minimalistischen Funktionen und Transformationsprozessen, die unser auf Zweck-Ursachen ausgerichtetes Denken mit ihrer sinnvollen Nutzlosigkeit aushebeln.

Vernissage 5. 10. 2016 / 19:00
Einführungsrede: "Die sinnvolle Nutzlosigkeit" 
von Dr. Thomas Piesbergen

Wandsbeker Chaussee 11 
22089 Hamburg




Donnerstag, 8. September 2016

Reality Check: Die erinnerte Wirklichkeit - Einführungsrede von Dr. Th. Piesbergen zu der Ausstellung „Heilwig Jacob: -p-e-r-m-e-a-b-e-l-“

In unserem Alltagsbewußtsein sind wir gewohnt mit sogenannten Fakten umzugehen. Man hat sich darauf geeinigt, was wirklich ist und was nicht. Wir schreiben Menschen einen guten Realitätssinn zu oder bezeichnen ihr Weltbild als wirklichkeitsfremd, ihre Vorstellungen als sachlich und vernünftig oder unrealistisch. Das alles impliziert, wir wüßten ganz genau, was es mit dieser Wirklichkeit auf sich hat, was sie ist, wie sie zustande kommt, und zudem, daß wir in der Lage wären, sie vollständig zu erkennen.
Direkt gefragt würden reflektierte Menschen sicher zugeben, vieles könne man selbstverständlich nicht wissen, doch je weiter man diese Fragestellung vertieft, desto klarer wird, daß die meisten nur bereit sind, ihr bis zu einer gewissen Grenze zu folgen. Jenseits davon klammern sie sich wieder an mutmaßliche Gewissheiten. Denn ohne diese mutmaßlichen Gewissheiten würde sich dem Menschen ein furchteinflößender Abgrund auftun, der all unsere Sinnkonstruktionen und damit unsere Handlungsgrundlagen in Frage stellt.

Doch wie kommt das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, nun zustande? Warum glauben wir, unwandelbare Tatsachen erkennen zu können?

Thomas Piesbergen @ -p-e-r-m-e-a-b-e-l-, Einstellungsraum


Wenn Kinder beginnen, sich in der Welt zu orientieren, beschäftigen sie sich meist mit einzelnen Wahrnehmungskomplexen, die durch Beobachtung und Fragen wieder und wieder durchdrungen werden. Das was Eltern gerne in den Wahnsinn treibt, daß sie innerhalb einer Woche ein und dieselbe Frage dutzende, vielleicht hunderte male beantworten müssen, ist für die Ausbildung des Realitätssinns des Kindes eine unabdingbare Rückversicherung. Denn es gilt festzustellen, ob die Muster, die es zu erkennen glaubt, auch wirklich einer Überprüfung standhalten, und ob das, was sie als unwandelbare Tatsache vorgesetzt bekommen, auch wirklich unwandelbar ist!

Das Anerkennen einer Erscheinung als Wirklichkeit besteht also in der Wiederholung einer Beobachtung und einem entsprechenden Abgleich mit dem vorher Wahrgenommenen. Das Ergebnis ist ein Set von Mustern, die herangezogen werden, um jede neue Beobachtung einzuordnen, und die sich bestenfalls kontinuierlich weiterentwickeln, komplexer werden und sich auf höheren Ebenen zu Meta-Mustern zusammenfügen.
All das, was wir mit dem Prädikat „wirklich“ auszeichnen, ist also lediglich etwas, das den in unseren Erinnerungen abgespeicherten Mustern entspricht; und Beobachtungen, die diesen Mustern zuwiderlaufen, bezeichnen wir in der Regel als Täuschungen, sofern sie überhaupt bis in unser Bewußtsein vordringen und nicht schon vorher herausgefiltert werden.

Diese Akkumulation von Mustern ist ein zeitgebundener, entropischer Prozess, der uns dazu verdammt, die Welt dem thermodynamischen Zeitpfeil folgend wahrzunehmen.
Das zweite Gesetz der Thermodynamik besagt grob, daß die Unordnung in unserem Universum mit der Zeit zunimmt. Auch unser Erinnern, das Zusammenfügen und Speichern von Mustern trägt dazu bei, diese Unordnung zu vergrößern, denn der Vorgang des Ordnens setzt immer mehr ungeordnete Energie frei, als er tatsächlich ordnet.
Aus diesem Grund können wir uns nur an die Vergangenheit erinnern, nicht an die Zukunft, und deshalb ordnen wir unsere Wirklichkeit auch nach dem Prinzip der Kausalität, das die Erscheinungen streng in ein Vorher und Nachher aufteilt.

Doch folgen wir den Erkenntnissen der Teilchenphysik in die Welt der Quanten müssen wir zu unserem Schrecken einsehen, daß der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist, offenbar jenseits von Raumzeit und Kausalität existiert. Dieses wissenschaftlich bisher erfolgreichste Modell einer  ganzheitlichen Wirklichkeit ist für uns nur abstrakt nachvollziehbar, denn wie schon Niels Bohr sagte, wer sich mit der Quantenphysik beschäftigte und dabei nicht verrückt würde, hätte sie nicht verstanden.
Hier wird deutlich, daß bereits die physikalische Bedingtheit unserer Gehirne verhindert, ein vollständiges Bild der Wirklichkeit zu sehen, das unsere Fixierung in der Raumzeit transzendiert.

Diese Fixierung unseres Bewußtseins auf einen definierten Punkt in der Raumzeit, den wir Gegenwart nennen, stellt uns vor ein neues Problem: denn das, was wir Wirklichkeit nennen, beruht auf dem Fundament des Vergangenen, des Erinnerten, und gerade das Vergangene entzieht sich uns in einem Nebel aus Mutmaßungen, da wir uns nur auf den beobachtbaren Ist-Zustand der Gegenwart beziehen können, also auf die gespeicherten Muster.
Es gibt keine zwei Menschen, die identische Sets von Muster gespeichert haben und entsprechend Ereignisse identisch erinnern könnten. Denn indem wir Erscheinungen stets nur mit Hilfe der bereits in uns vorhandenen Muster wahrnehmen und speichern können, und die so modifizierten Muster durch folgende Wahrnehmungen weiter überformen, entsteht in jedem von uns ein subjektives, individuelles und völlig autarkes Bild der Vergangenheit.

Schließlich sind nur die wenigsten dazu bereit, beim Vergleich gemeinsamer, aber voneinander abweichender Erinnerungen, die Unzuverlässigkeit der eigenen Erinnerungen anzuerkennen. Hier entpuppt sich also das Fundament unserer aus vorgeblichen Tatsachen konstruierten Welt einmal mehr als Treibsand.

Eine weitere Einschränkung ergibt sich durch die Ausbildung unserer Sinnesorgane und den daraus sich ableitenden Strategien der Wahrnehmung und Realitätskonstruktion, denn nach den erkenntnisbiologischen und systemtheoretischen Überlegungen von Konrad Lorenz, Karl Popper, Rupert Riedl und anderen, sind wir nur imstande, das wahrzunehmen, was für unsere evolutionäre Bedingtheit von Bedeutung ist. Alles andere jenseits dieses kleinen Ausschnitts entzieht sich uns, so können wir, wie z.B. kein Ultraviolettes Licht sehen wie die Bienen, kein Infrarot wie die Mücken,  keinen Ultraschall hören wie Fledermäuse, keinen Infraschall wie Elefanten, sind entsetzlich kurzsichtig im Vergleich zu Greifvögeln und olfaktorische Krüppel im Vergleich zu fast allen anderen Tieren.

Wir sind also zurückgeworfen auf eine durch unsere Sinne vorselektierte Gegenwart, die nur wahrgenommen werden kann, wenn sie beim Durchgang auf die inneren Strukturen unserer Erinnerung, also auf das Speicher-Medium selbst einwirkt.

Von innen betrachtet erscheint uns jeder Moment das ganze Universum zu umschließen, von außen betrachtet erscheint das Universum aus unendlich vielen, jeweils stark eingeschränkten Momenten zusammengesetzt.
Und trotzdem sind wir imstande, etwas jenseits dieser Begrenztheit und jenseits des Fragmentarischen zu erahnen - eine anders geartete, transzendente Ganzheit.

Dieses Begrenzte und Fragmentarische begegnet uns bereits auf dem großen Fenster des Einstellungsraums wieder. Mit Kreidefilzstiften, leicht abwischbar und entsprechend vergänglich wie Erinnerungspartikel, hat Heilwig Jacob kleine und kleinste Wahrnehmungen festgehalten.

Heilwig Jacob, -p-e-r-m-e-a-b-e-l-, Einstellungsraum, 2016

Dabei sind nicht nur visuell wahrnehmbare Dinge und Ereignisse skizziert und Bewegung nachvollzogen worden, sondern auch Akustisches wurde auf synästhetische Weise umgesetzt.

Analog dem fragenden Kind hat Heilwig Jacob einzelne Wahrnehmungsereignisse aus unterschiedlichen Blickwinkeln wiederholt. So begegnet uns z.B. die Form eines roten Mülleimers an verschiedenen Orten des Fensters wieder, sodaß wir den Ortswechsel rekonstruieren können, den die Künstlerin vorgenommen hat.

Heilwig Jacob, -p-e-r-m-e-a-b-e-l-, Einstellungsraum, 2016
Der Betrachter beginnt von selbst den Abgleich zwischen Abbild und Motiv vorzunehmen, die Entsprechung der Erinnerungsspur auf dem Speichermedium mit der noch vorhandenen äußeren Welt zu suchen - und er beginnt gleichzeitig Wahrnehmungsereignisse zu imaginieren, z.B. angesichts der mit dem Stift nachvollzogenen Bewegungen eines Fahrrads.

Hier beginnt sich bereits die rezipierte Gegenwart mit einer Erinnerung zu überlagern. Denn selbst wenn wieder ein Fahrrad einen nahezu identischen Weg fahren sollte, der der Erinnerungsspur zu entsprechen scheint, beginnt hier eine Übertragung, die nur unter Vorbehalt zulässig ist. Es wird etwas wiedererkannt, doch es ist nicht dasselbe - ja nicht einmal das Gleiche. Es findet lediglich ein Abgleich mit einem bereits vorhandenen Muster statt.

Heilwig Jacob, -p-e-r-m-e-a-b-e-l-, Einstellungsraum, 2016
Auch zu einem abstrakteren, reflexiven Abgleich von Erinnerung und Wirklichkeit finden wir eine Analogie in einzelnen dünnen Lagen Plexiglas, die vor der Scheibe hängen und u.a. einen Rapport des roten Mülleimers zeigen. Dem Betrachter bleibt es überlassen zu deuten, ob das beobachtete Objekt selbst wiederholt wird, oder bereits dessen Abbild einen zweiten Prozess der Repräsentation durchläuft.

Wie dieser Musterabgleich auch in die Irre führen kann, zeigt eine Installation im Keller: auf eine Leinwand ist ein flüchtiges Raster gemalt, das mit Diaprojektionen von den Hausfassaden gegenüber des Einstellungsraums überdeckt wird. Sofort beginnt der Blick einen Abgleich des gemalten Musters mit dem Raster der Fenster zu suchen, und immer wieder glaubt man, in kleinen Momenten eine Kongruenz aufblitzen zu sehen, die uns glauben macht, ein identisches Beobachtungsereignis würde sich lediglich in anderem Gewand wiederholen.

Doch das vermeintliche Fassadengitter auf der Leinwand ist keinesfalls eine Skizze der Häuserfronten, sondern der Gehwegplatten vor der Galerie.

Hier werden also aufgrund visueller Entsprechungen Zusammenhänge konstruiert, die außerhalb der idiosynkratischen Situation der Wahrnehmung nicht vorhanden sind. Wir können exemplarisch nachvollziehen, wie der Mechanismus der Mustererkennung in diesem Fall nicht dazu beiträgt, durch Wiederholung eine Beobachtung zu verifizieren, sondern durch scheinbare Zusammenhänge zu verhüllen und zu verwirren, und uns dazu verleitet, falsche Schlüsse zu ziehen, eine wahnhafte Wirklichkeit zu konstruieren.

In einem anderen Bereich ihrer Arbeit beschäftigt Heilwig Jacob sich mit dem Ineinandergreifen und Verdichten verschiedener Sinneseindrücke zu Erinnerungsräumen.

Mal sind es Versuche, kleinste Erinnerungskomplexe aus akustischen und visuellen Eindrücken mit einem Zeichenprogramm auf dem Smartphone festzuhalten, die anschließend mit fast wissenschaftlicher Anmutung mit Erläuterungen versehen werden, um sie wieder dechiffrierbar zu machen und damit auch für andere nachvollziehbar.

Dann wiederum arbeitet sie mit Streifencollagen. Grundlage dieser Collagen sind erinnerte Tonwerträume von für sie bedeutsamen Orten, die zuerst als Malerei Gestalt annehmen. Doch sobald die Farbe getrocknet ist, müssen sich die Bilder den Bedingungen der ans enge Gegenwartsfenster gebundenen Wahrnehmung unterwerfen.

Heilwig Jacob, -p-e-r-m-e-a-b-e-l-, Einstellungsraum, 2016
So wie unsere aufrechten Körper sich durch den Raum bewegen und wir versuchen, im Nachhinein einzelne fragmentarische Beobachtungen zu einem Ganzen zusammenfügen, so zerschneidet Heilwig Jacob die malerisch strukturierten Farbflächen in schmale, vertikale Streifen und fügt sie zu den gezeigten Collagen zusammen, in denen sich die Erinnerung nicht mehr als vermeintliche Totalität zeigt, sondern als Konstrukt, das einen zeitlich segmentierten Vollzug nachbildet.

In einer Arbeit kombiniert sie diese Vorgehensweise noch zusätzlich mit den rezeptiven Überlagerungen, die uns bereits bei der Fensterarbeit und der Videoinstallation begegnet sind.

Heilwig Jacob, -p-e-r-m-e-a-b-e-l-, Einstellungsraum, 2016
Die Gliederung der Streifencollagen führt uns schließlich über das Motiv der Vertikalität zu der letzten Arbeit der Ausstellung, die ebenfalls im Keller zu sehen ist: dem Wahrnehmungsbaum.

Wie bereits erwähnt, scheint es dem Menschen trotz aller Beschränkungen seiner Wahrnehmungsfähigkeit doch möglich zu sein, eine Ganzheit jenseits der Bruchstücke seiner Welt zu erahnen, die sich der Logik der Alltagswelt entzieht.

Diese Polarität drückt sich in dem universellen Gegensatz zwischen einer horizontalen, profanen Ordnung der Welt und einer transzendenten, vertikalen Ordnung aus. Die vertikal konzipierte  Wirklichkeit, die Axis Mundi, wird mal repräsentiert durch den Weltenberg, mal als Pfeiler des Himmelsgewölbes, meist jedoch als Weltenbaum, den wir in der germanischen Mythologie als Ygdrasil, die Weltenesche kennen. Dieser Weltenbaum befindet sich im allgegenwärtigen Zentrum der Wirklichkeit und ermöglicht im schamanischen Denken den Auf- oder Abstieg in andere göttliche oder dämonische Regionen, in den Himmel oder die Unterwelt. Mit seinen Wurzeln und dem Geäst nimmt er nicht nur eine durch das Koordinatensystem geordnete, zweidimensionale Fläche ein, die dem Menschen zugewiesene Ebene der Wirklichkeit sondern wächst ausgreifend durch alle Ebenen in den Raum.

In einzeln stehenden, von einer umlaufenden Aluminiumrohrbank eingefaßten Stadtbäumen, wie man sie heute in fast jeder Fußgängerzone vorfindet, hat Heilwig Jacob eine ideale Repräsentation dieses Gedankenmodels gefunden:
Wie eine Kompassrose sind die runden Bänke in vier Segmente unterteilt. Unsere Blicke werden dem horizontalen Kreis folgend geführt und ermöglichen uns jeweils nur einzelne Segmente des Ortes wahrzunehmen, die wir bestenfalls in unserer Gedankenwelt wieder zu einer Totalität zusammenzufügen versuchen.

In einem Drahtmodel des Wahrnehmungsbaumes nimmt eine CD, ein Speichermedium, den Platz der umlaufenden Bank und des menschlichen Beobachtungspunkts ein. Die schlaglichtartigen Blicke, mit der wir unsere Umwelt zu erfassen versuchen, finden ihre Entsprechung in kleinen, runden, auf Folien kopierten Fotografien, die wie Schmetterlinge mit Nadeln an die umgebenden Wände gepinnt sind.
Ergänzt wird die Installation durch Skizzen, die tatsächlich auf einer solchen Bank entstanden sind, doch der Versuch, die Fragmente zu einem Ganzen zusammenzufügen, ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt und beschränkt sich letztlich in der Zusammenführung von Skizzen in Form eines Buches, dessen Seiten wir ebenso wenig auf einen Blick erfassen können, wie die 360° des ganzen Umlaufs.

Das vertikale Zentrum, das umfassende, wahrnehmende Ausgreifen in alle Bereiche der Wirklichkeit, bleibt, wohin wir uns auch wenden, in unserem Rücken verborgen, so wie wir dazu verdammt sind, auf der horizontalen Ebene der Wahrnehmung zu verharren. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit unsern beschränkten Mitteln und Sinnen darum zu bemühen, die Ganzheit zu erahnen.


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, September 2016

Freitag, 26. August 2016

7.9.2016 Vernissage "Heilwig Jacob: p-e-r-m-e-a-b-e-l" mit einer Einführungsrede von Dr. Thomas Piesbergen

Heilwig Jacob zeigt im Einstellungsraum (klick) Glas- und Smartphone-Zeichnungen, Bildcollagen, Objekte und Video-Installationen zum Jahresthema "Speichern.Akkumulieren.". 

 In seiner Eröffnungsrede beschäftigt sich Dr. Thomas Piesbergen mit dem Abgleich erinnerter und akuter Bilder und der Konstruktion von Wirklichkeit.

Einstellungsraum e.V.
Wandsbeker Chaussee 11
22089 Hamburg

Vernissage 7.9.2016
19:00

Heilwig Jacob, p-e-r-m-e-a-b-e-l, 2016




Donnerstag, 30. Juni 2016

Die Auferstehung der inneren Bilder - Einführungsrede zu "Sho Hasegawa: Winter Landscapes" von Dr. Thomas J. Piesbergen

Die Ausstellung „Cappa - Winter Landscapes“ von Sho Hasegawa im Einstellungsraum e.V.  Hamburg findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Speichern. Akkumulieren." und ist noch bis zum 22. Juli 2016 zu sehen.

Bereits in einer anderen Rede zum Jahresthema Speichern.Akkumulieren. habe ich ein Zitat des Siddhartha Gautama Buddha herangezogen. Es lautet: „Alles was wir sind, ist das Resultat dessen, was wir gedacht haben.“

Diese Einsicht, vor fast 2500 Jahren formuliert, deckt sich weitgehend mit den Erkenntnissen der aktuellen Hirnforschung und wird unter dem Begriff der Neuroplastizität zusammengefasst, im speziellen unter dem Begriff der synaptischen Plastizität.
Diese synaptische Plastizität ist grundlegend an Lernprozessen und der Gedächtnisbildung beteiligt. Sie wird bedingt durch wiederholte Aktivität der Nervenzellen. Denn die Stärke der synaptischen Sensitivierung ist abhängig von der vorangegangenen Aktivität der präsynaptischen Zellen. Jeder Stimulus hinterläßt eine unterschwellige Aktivitätsspur in Form eines erhöhten Aktions- oder Membranpotenzials der synaptischen Endknöpfchen. Dadurch wird die Wirkung eines jeden nachfolgenden Stimulus enorm verstärkt.

Das bedeutet, je öfter wir eine Stimulierung, eine Erfahrung, eine Empfindung, einen Gedanken wiederholen, desto stärker wird die Übertragung, desto stabiler wird die entsprechende gedankliche Verknüpfung, dieser Effekt ist mitunter ein Leben lang wirksam. Synaptische Verbindung hingegen, die nicht genutzt werden, werden wieder zurück gebildet.

Verstärkt wird dieser Prozess der Routinierung durch die sog. Myelinisierung des Gehirns. Gliazellen umgeben nach und nach häufig genutzte Nervenbahnen und führen dazu, daß die Impulse deutlich schneller übermittelt werden. Dieser Prozess ist erst mit etwa 22 Jahren abgeschlossen. Der Neurologe Manfred Spitzer vergleicht die Myelinisierung mit der Entstehung von Trampelpfaden, von denen zunächst etliche miteinander konkurrieren, doch bald die meist genutzten so bequem ausgetreten und schnell zu begehen sind, daß die anderen nicht mehr genutzt werden, überwuchern und schließlich in Vergessenheit geraten.

Synaptische Verbindung zweier Nervenzellen mit myelinisiertem Axon
 

So wird unser Gehirn, und damit unsere Erinnerung, durch das geformt, was wir wahrnehmen und durch die Art, wie wir damit umgehen. Das, was wir als unser Ich begreifen, ist also die Summe der gespeicherten Routinen unserer Wahrnehmung und Handlung, ein aktiver Speicher unserer Erfahrung. Und natürlich auch ein Speicher von Bildern.

In der Erinnerung nehmen Bilder eine ganz besondere Rolle ein. Ein wichtiger Aspekt ist, daß sie sich nicht verändern. Sie können immer wieder wahrgenommen und auf diese Weise besonders gut verinnerlicht werden.

Zudem bieten sie für uns Menschen, die wir inzwischen zu einer vorwiegend visuell rezipierenden Spezies geworden sind, einmalige Bezugspunkte für die assoziativen Gewebe, mittels derer wir uns in unserer Wirklichkeit orientieren und verorten, mit denen wir uns in Beziehung zu unserer Umwelt setzen und sie bewerten.
Fast immer gehen die Bilder den Erfahrungen voraus. Bevor wir eine Reise nach Paris, nach London, nach New York, nach Zermatt unternehmen, kennen wir die Bilder vom Eiffelturm, vom Tower, vom Empire State Building oder dem Matterhorn in- und auswendig, denn wir haben sie bereits unzählige male gesehen. Bevor ein Kleinkind eine Kuh, einen Frosch oder einen Traktor gesehen hat, kennt es diese Dinge aus Bilderbüchern.
Bevor der moderne Mensch die Welt kennenlernt, lernt er Bilder von ihr kennen. Und in dem er die Bilder sortiert, gedanklich miteinander in Beziehung setzt und assoziativ belegt, bereitet er sich darauf vor, die Welt wahrzunehmen und mit den Bilder in Abgleich zu bringen. Mitunter werden die Bilder, an denen er seine Wahrnehmung geschult hat, sogar bestimmen, was er wahrnehmen wird.

Da Bilder vervielfältigt werden können und deshalb für jedermann verfügbar sind, bilden manche von ihnen auf diese Weise die Bausteine einer kollektiven Wirklichkeit und eines kollektiven Gedächtnisses und werden so zu global verstandenen, massiv mit Bedeutung aufgeladenen Symbolen.

Gleichzeitig können diese Geflechte von Bedeutung, deren Knotenpunkte bestimmte Bilder sind, als alternative, weil vorstellbare Wirklichkeiten empfunden werden, die so dicht sind, daß sie in uns ein Gefühl von Hyperrealität auslösen können. Dies gilt vor allem für Bilder, die uns in der Kindheit als getreues und vollständiges Abbild der Wirklichkeit gegolten haben. Während wir älter werden, drängen wir diese Bilder für gewöhnlich zurück und verbannen die sie umgebenden Bedeutungsgeflechte in die Regionen des Traums, des Märchens und der naiven utopischen Visionen.

Die Speicher, in denen diese Bilder und ihre Bedeutung aufbewahrt werden, sind unsere Gehirne, unsere Erinnerungen, unsere Identitäten, denn wir sind das Resultat all dessen, was wir gedacht haben. Doch ist es möglich, wie aus einem Kornspeicher das Korn, aus einer Batterie den Strom, oder aus einem Archiv ein physisches Bild, auch ein derart mit Bedeutung aufgeladenes inneres Bild wieder hervor zu holen? Ist also eine faktische Freisetzung und Aneignung der ins uns gespeicherten Erinnerung möglich?

An diesem Punkt möchte ich zur Arbeit „Winter Landscape“ von Sho Hasegawa kommen.

Als er seinen ersten Winter in Deutschland erlebte, war er mehr als erstaunt, daß die Kinder, selbst in der Stadt, mit größter Selbstverständlichkeit zum Schlittenfahrern gingen. Noch mehr wunderte es ihn, als ein Mädchen ihm erzählte, es werde am Wochenende auf einem nahegelegenen See Schlittschuh laufen.

Für Sho Hasegawa war das Schlittschuhlaufen bisher eine ausschließlich Hallensportart auf Kunsteis gewesen. Das Eislaufen in der Natur gehörte für ihn in den Bereich der traumgleichen und märchenhaften Bilder, in den Bereich der Utopie, und war maßgeblich verknüpft mit einem Bild aus dem kollektiven Gedächtnis: dem Gemälde „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Brueghel d.Ä., gemalt 1565, auf dessen rechter Bildhälfte eine detaillierte Eislauf-Szene dargestellt ist.


Die Jäger im Schnee, Pieter Brueghel d.Ä., 1565

Tatsächlich ist dieses Bild auch für mich ein zentrales Bild meiner Kindheit gewesen. Es hing, seit ich mich erinnern kann, über meinem Bett neben Brueghels Kornernte. In beiden bin ich zahllose male in Gedanken spazieren gegangen und oft schienen sie mir vertrauter, konsistenter, umfassender und realer als die wirkliche Welt.

Daß diese verloren gegangene Welt von Pieter Brueghel plötzlich etwas sein sollte, das tatsächlich erfahrbar war, war für Sho Hasegawa fast unvorstellbar. Er faßte den Entschluß, diese unerreichbar geglaubte Wirklichkeit freizusetzen und sich anzueignen.

Und in diesem Moment sind wir wieder bei dem bereits erwähnten Problem angelangt, wie es möglich sein könnte, diese zwar gespeicherten, aber dennoch flüchtigen und immateriellen Bilder und die damit verbundenen Empfindungen aus einer nur imaginierten Wirklichkeit in die erlebte Gegenwart zu transferieren und ihrer habhaft zu werden. Der Prozess, der durch diese Frage ausgelöst wurde ist so erstaunlich und komplex und ist zudem selbst integraler Bestandteil des Kunstwerks „Winter Landscapes“, daß es notwendig ist, ihn im Detail wieder zu geben.

Die erste Aufgabe, die sich Sho Hasegawa gestellt hat, bestand darin, sich Schlittschuhe zu entwerfen und anzufertigen, denn der schlichte Kauf von Schlittschuhen wäre viel zu profan und ästhetisch unangemessen für das Unterfangen, in den sensiblen und im hohen Maße persönlichen Unwirklichkeitsraum vorzudringen.
Es entstanden über hundert Entwurfszeichnungen, bei deren Entwicklung sich Hasegawa - diesmal unbewußt - von seinem inneren Bildspeicher leiten ließ. Das später realisierte Paar Kufen ähnelt deutlich den zur Zeit Brueghels üblichen Schnabelschuhen mit hölzernen Sohlen, die man unter die Füßlinge schnallen konnte, die verschlungenen Ornamente darauf hingegen erinnern stark an den sog. entwickelten Tierstil der Wikinger und die frühe keltische Kunst.


Schnabelschuhe aus dem Spätmittelalter und der frühen Renaissance

Die fertigen Kufen, eine aus Aluminium, einer aus Bronze, wurden verbunden mit Kabeln. Legt man sie in ein saures Medium, z.B. Zitronensaft, bilden sie durch ihre unterschiedliche Ionisierung eine Batterie mit einer Spannung von etwa 0,1 Volt. Das Motiv des Speichers, der Batterie tritt hier zum zweiten mal im künstlerischen Prozess auf.
Nach der so vorgenommenen Materialisierung war der nächste notwendige Schritt die Freisetzung und Belebung der inneren Bilder. Zu diesem Zweck fuhr Hasegawa im Winter nach Finnland, um dort mit seinen selbstgefertigten Kufen auf natürlichen Seen tatsächlich Schlittschuh zu laufen.


Sho Hasegawa, Winter Landscapes, Schlittschuhe und Blackbox, 2015

Die Aneignung des so erzeugten Moments der Freisetzung findet nun durch eine Umkehr des Prozesses statt: Die Erfahrung soll wiederum gespeichert werden und in die Bildwelt zurückkehren.

Dazu fertigte Sho Hasegawa eine Blackbox aus geräucherter Eiche an, in der ein Ebenholzstift mit einem dünnen Kanal befestigt ist. Oberhalb des Kanals ist eine Leuchtdiode angebracht. Sie wird ausschließlich durch den Strom gespeist, der in den Kufen entsteht. Mit diesem Lichtstift, dessen Bewegungen in einem mit etwas Ölfarbe gefüllten Schälchen von einer magnetischen Kugel nachgezeichnet werden, skizzierte der Künstler auf einen Mittelformat-Negativstreifen Impressionen der Seelandschaft, durch die er sich zuvor auf den stromspendenden Schlittschuhen bewegt hat. Der aus einem Vorstellungsraum und Erinnerungsspeicher tatsächlich hervorgegangene künstlerische Akt wird also wiederum zu etwas immateriellem transformiert, zu Elektrizität und Licht, die eine Rückkehr in die Bildwelt ermöglichen.

Sho Hasegawa, Winter Landscapes, 2015

Die manifeste Rückkehr in die Welt der Bilder und der Gemälde wurde schließlich erreicht, in dem die auf dem See entstandenen Zeichnungen auf Barytpapier ausbelichtet wurden. Dabei spielte es eine große Rolle, das die einzelnen Abzüge durch das ausgesprochen sensible Material und die Unwägbarkeiten des Entwicklungsprozesses, zu Unikaten wurden.
Als Verweis auf ihre Einmaligkeit und die gedachte Nähe zum Gemälde fertigte Hasegawa abschließend für jedes Bild einen individuellen Rahmen aus gezielt ausgewählten Holzsorten an, so z.B. aus finnischer Moorbirke. Und so sehen wir diese Spuren der Freisetzung der inneren Bilder nun vor uns.

In diesem in sich geschlossenen Prozess und seiner Gestaltwerdung werden wir Zeuge, wie ein inneres Bild reaktiviert wurde, wie es in seiner Freisetzung eine Art Auferstehung ins Leben vollzog und dort selbst wiederum Energie freisetzte, die es ermöglichte, daß der erzeugte Akt selbst eine Spur hinterlassen konnte. Durch die Fixierung dieser Spur fand schließlich der letzte Akt der Aneignung statt und eine Rückführung des Prozesses in das Archiv, den Speicher der Bilder.

ⓒ by Dr. Thomas J Piesbergen / VG Wort, 2016

Montag, 27. Juni 2016

Vernissage der Ausstellung Cappa - Winterlandscape" von Sho Hasegawa mit einer Eröffnungsrede von Dr. Thomas Piesbergen: 29.Juni im Einstellungsraum2016

Der japanische Künstler Sho Hasegawa setzt sich auf virtuose Weise mit der Freisetzung und Aneignung innerer Bilder auseinander.

Die Ausstellung wird eröffnet mit der Rede "Die Auferstehung der Bilder" von Dr. Thomas Piesbergen.


Vernissage 29.6.2016 / 19:00
Einstellungsraum e.V. 
Wandbeker Chaussee 11
Hamburg


Mittwoch, 1. Juni 2016

Neue Veröffentlichung: POSITION. 2015

Der Katalog zur Jahresausstellung des BBK Hamburg 2015 ist endlich erschienen, darin der komplette Text der Eröffnungsrede "Das Politische und die Kunst" von Dr. Thomas Piesbergen sowie ein Text zum Werk des Künstlers Errkaa.

Weitere Beiträge von Alfred Stephan Mattes (BBK), Hanno Rauterberg (Die Zeit, Freie Akademie der Künste), Bettina Steinbrügge (Kunstverein Hamburg), Belinda Grace Gardner (HfBK), Ralf Krüger (Galerie Feinkunst Krüger), Monika Schröder (BBK), Andre Leipold (Zentrum für politische Schönheit) u.a.


POSITION. Forum / Ausstellung 2015
Berufsverband bildender Künstlerinnen und Künstlern Hamburg
Verlag für permanente Kunst
ISBN 978-3-944173-93-1

Zu beziehen über den BBK Hamburg (Klick)


Dienstag, 17. Mai 2016

Zwischen den Welten - Eröffnungsrede zu der Ausstellung "Rahel Bruns: Wagentourette" im Einstellungsraum, Mai 2016, von Dr. Thomas Piesbergen

Eine Ausstellung zum Jahresthema "Speichern. Akkumulieren"

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

In der Geschichte der Wissenschaft, Philosophie und Religion wurde der Mensch immer wieder dargestellt als gefangen in einer Zwischenwelt, einem Bereich der Transition oder selbst in einem Übergang befindlich.

So entwarf z.B. Thomas von Aquin in der Mitte des 13. Jhd. in seinem Werk Über die Einheit des Geistes ein Menschenbild, das ihn als ein Wesen begreift, das sich abmüht, von einem tierischen Zustand in einen engelsgleichen überzugehen, sich aber erst auf halben Wege dahin befindet - ein Paradigma, das sich bis in die Neuzeit hartnäckig behauptet hat, und z.B. bei Friedrich Nietzsche in nahezu unveränderter Form wieder auftaucht: "Der Mensch ist ein Seil - geknüpft zwischen Tier und Übermensch..."1

In den meisten Wissenschaften wird der Mensch zwischen den Extremen der Mikro- und der Makrosphäre verortet:

In der Physik bezeichnet die Mikrosphäre den Bereich der Moleküle, Atome und Teilchen, die Makrosphäre hingegen das kosmische Geschehen. Da sich beide Bereiche dem menschlichen Zugriff und Begreifen weitgehend entziehen, war es notwendig, eine Mesosphäre als menschliches Zwischenreich zu postulieren. Zugleich bezeichnet die Mesosphäre einen Ausschnitt der Wirklichkeit, in dem ein definiertes Ensemble von Naturgesetzen gilt, die in Mikro- und Makrosphäre mitunter ihre Geltung verlieren.2

In der Geschichtsschreibung wird die Mikrosphäre des inneren, individuellen Erlebens den großen historischen und politischen Bewegungen der Makrosphäre gegenübergestellt. Der Mensch, der aber tatsächlich an beiden teilhat, agiert in der Mesosphäre der Erfahrung.3

Im Bereich der Psychologie und der Philosophie stehen sich immer wieder die Innen- und die Außenwelt des Menschen gegenüber, eine Polarität die Niederschlag in den konkurrierenden Denksystemen des Objektivismus und des Subjektivismus findet.

Nach der Handlungstheorie, die diese Dichotomie zu überwinden versucht, versorgt die Außenwelt den Menschen mit externen Impulsen, auf die er im Erfahrungsraum der Handlung reagiert und sie in der Innenwelt der Erinnerungen und Emotionen umformt und speichert. Hier erscheint der sozial agierende Mensch als eine Schnittstelle, als ein Prozessor, ein Handlungsagent, der zwischen die materielle und die geistige Welt geschaltet ist. 4

Das Phänomen der Erinnerung wiederum verweist auf das Problem der Zeit: in den Reden des Buddha wird der Mensch als die Summe all dessen bezeichnet, was er in seinem Leben gedacht hat, also als etwas, das aus einer schwer zu fassenden und abzugrenzenden Vergangenheit in die Gegenwart tritt. Vor ihm allerdings liegt eine ungewisse, ebenso grenzenlos und unfassbar erscheinende Zukunft. Der Mensch selbst ist also gefangen in der Sphäre einer unendlich kleinen Gegenwart, in der die Zukunft und die Vergangenheit als reine Fiktionen erscheinen, und die sich auszeichnet durch unablässigen Wandel, als Inbegriff ewiger Transformation.

In der Kulturtheorie sehen wir den Menschen schließlich als kaum fasslichen Mittler zwischen Natur und Kultur, und seit sich der Mensch die Frage nach dem Ursprung seiner Kultur stellt gibt es den Widerstreit derer, die die Kultur als reines Symptom der Anpassung an natürliche Erfordernisse sehen, und ihren Gegnern, nach denen der Mensch die Natur anhand seiner kulturellen Strukturen ordnet. Doch gleichgültig ob man sich nun dem Lager der kulturellen Vernunft zugehörig fühlt, oder das Lager der Kulturmaterialisten vertritt - immer steht der Mensch als handelndes Tertium Quid zwischen zwei einander gegenüberstehenden Sphären: in diesem Fall der natürlichen Umwelt und der künstlichen, vom Menschen geschaffen Umwelt.5

Zu dieser künstlichen, vom Menschen geschaffenen Umwelt gehören beide Aspekte, die hier im Einstellungsraum und in den Arbeiten von Rahel Bruns zusammengeführt werden: die Kunst und das Automobil.
Doch wie entsteht diese vom Menschen geschaffene Sphäre der Kultur?
Wenn etwas erschaffen wird, so möchte man meinen, ist es dem Gestaltungswillen seines Schöpfers untergeordnet, entspricht ganz und gar seinen Zwecken und steht unter seiner Kontrolle.
Betrachtet man sich aber das individuelle Hineingeworfensein in unsere zivilisatorischen Zusammenhänge, steht der Mensch seiner Schöpfung genauso hilflos gegenüber wie der übermächtigen Natur. Wie der alte Besen aus Goethes Zauberlehrling hat die Kultur begonnen, ein eigenes Leben zu führen und setzt sich über die Wünsche ihres Schöpfers hinweg.

Als die Entdeckung des Blutkreislaufs von William Harvey als Gedankenmodell auf die Städte, also die Brennpunkte der menschlichen Kultur übertragen wurde, begriff man sie mit einem mal als einen eigenständigen Organismus, sie wurden anthropomorphisiert. Straßen und die Mittel der Fortbewegung wurden nicht mehr begriffen als Einrichtungen, die dem Individuum dienen, sondern als essentielle Aspekte dieses übergeordneten Organismus. Straßen wurden nicht mehr angelegt, um dem Einzelnen von Nutzen zu sein, sondern dem großen Organismus „Stadt“.

Nach der Handlungstheorie von Anthony Giddens kann zwar nur der individuelle Mensch etwas begehren und dementsprechend handeln, die Konsequenzen der Summe dieser individuellen Handlungen verdichten sich aber zu Strukturen, die mit den primären Handlungsabsichten und -gründen nichts gemein haben müssen.
Durch unsere akkumulierten Bedürfnisse und Begierden haben wir also etwas erschaffen, das sichin einer Form manifestiert hat, die weit über unsere ursprünglichen Absichten hinausgeht oder sich ihnen sogar entgegenstellt.
Wir haben ein System hervorgebracht, das durch seine Komplexität als nicht-linear anzusprechen ist, und entsprechend eine fraktale Dynamik und dadurch eine unvorhersagbare Entwicklung angenommen hat 6. Der Mensch selbst ist darin degradiert zu einem ephemeren, verletzlichen und austauschbaren Element, wie es z.B. beschrieben wird von Joseph Conrad in dem Roman „Nostromo“ oder in dem epochalen Werk „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos.

Ein hervorstechender Aspekt dieses Systems, der uns wie kein anderer die unglaubliche Gewalttätigkeit unserer verselbständigten Schöpfung vor Augen führt, ist die Automobilität, das Versorgungssystem, der Blutkreislauf, die Logistik unserer Zivilisation. Sie ist omnipräsent, sie zerschneidet die Landschaft, sie gestaltet unseren unmittelbaren Wohn- und Lebensraum, sie tötet jedes Jahr abertausende von Menschen, die ihr in die Quere kommen, sie vergiftet uns und unseren natürlichen Lebensraum. Schon längst ist es nicht mehr der freien Entscheidung des Einzelnen überlassen, ob er sich ihrer reissenden Strömung anvertraut oder nicht: die Gestalt der modernen Städte, die nach dem Primat der Mobilität angelegt worden sind, läßt dem Individuum kaum eine andere Wahl.

Ebenso ist die äußere Gestalt der Automobile schon lange nicht mehr Gegenstand rein ästhetischer Entscheidungen. Hier gilt das Primat der Ökonomie in Form der Aerodynamik, weshalb es heutzutage immer schwerer fällt die verschiedenen Automodelle auseinander zu halten. Der Mensch ist dazu verdammt, ein Leben an der Oberfläche dieses nach eigenen Gesetzen sich entwickelnden Organismus zu führen, den er zwar selbst erschaffen, über den er aber schon lange die Kontrolle verloren hat.

An diesem Punkt möchte ich den Blick auf die Arbeiten von Rahel Bruns lenken. Sie setzt sich schon seit längerer Zeit mit verschiedenen Aspekten der Automobilität und verschiedenen Erscheinungen in ihrem Randbereich auseinander.

In der Ausstellung „Wagentourette“ werden vor allem Fotografien gezeigt, auf denen wir die durch Abgase und Straßenstaub verdreckten Oberflächen von Last- und Lieferwagen sehen, also Oberflächen von Elementen der Selbstversorgungsmaschinerie unseres post-industriellen, kapitalistischen Systems, denen eine offenkundige Verwahrlosung anzusehen. Doch es geht nicht um die Automobile selbst, sondern um die Einschreibung in den Schmutzschichten, um die Spuren menschlichen Handelns.



Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Die meisten dieser Zeichnungen sind nicht intentionell. Es sind zufällige Ergebnisse von Handgriffen, Spuren von Arbeitsvorgängen, häufig auch akkumulierte Spuren von Handlungsroutinen, die durch stete Wiederholung saubere Flächen in der Schmutzschichten haben entstehen lassen.
Hier entdecken wir bereits eine Analogie zu dem „duré“, der Handlungstheorien von Bourdieu und Giddens, dem andauernden, fortgesetzten Agieren,  das, nach Giddens, der Motivation des Individuums entstammt, in seiner Akkumulation aber etwas anderes, unbeabsichtigtes hervorbringt: die Struktur unserer Kultur. So bringen auch die Spuren des Handelns Formen und Einschreibungen hervor, die jenseits jeder Gestaltungsabsicht.
Besonders deutlich zeigt sich diese Diskrepanz an dem Bild der Seitenwand eines Schweinetransporters: Kaum jemand, den nicht ein leises Grauen überkommt, wenn er einen solchen Tiertransport sieht, dessen gerasterte Verschläge an die unmenschliche und mechanisierte Welt der Fleischindustrie gemahnt, die in dieser Form sicher niemand gewollt hat.

Doch an den Verschlüssen der rechtwinkligen Klappen an der Außenseite sieht man die Spuren von Händen. Denn es sind immer Individuen, die eine solche Maschinerie, so grausam und unmenschlich sie auch erscheinen mag, in Gang halten und bedienen, selbst wenn das Ziel des Einzelnen überhaupt nicht darin besteht, sondern nur darin, das tägliche Brot zu verdienen. Trotzdem: nur das akkumulierte Handeln einer menschlichen Gemeinschaft hat diese Maschinerie schließlich entstehen lassen.


Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Neben den unbeabsichtigten Einschreibungen sehen wir aber auch Spuren, die deutlich zeigen, daß Menschen sich des Zeichenmediums der verdreckten Wagen spontan bewußt geworden sind und gezielt kleine Botschaften oder Notizen hinterlassen haben. Sie verweisen auf die kurzen, wachen Moment der Gegenwärtigkeit, auf eine Bewußtwerdung in den sonst andauernden, blinden Handlungsroutinen.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Doch nicht nur die post-industrielle Kultur hat in der Ausstellung ihren Platz, auch die ihr gegenübergestellte Natur wird thematisiert. Sie begegnet uns auf den Fotos in Form von Bäumen, die Rahel Bruns im Vorbeifahren aus dem Autofenster abgelichtet hat, oder als Baumschatten auf den LKW-Hecks in der Diashow, die im Keller zu sehen ist.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

 Doch so wenig wie der Mensch seine eigene Schöpfung beherrschen kann, so wenig kann er im automobilen Strom mit der Natur in Kontakt treten. Sie ist nur noch ein ephemerer Schatten, ein flüchtiges, vorbei huschendes Bild, eine Erinnerung, und dennoch ist ihre innere Logik allgegenwärtig: in der fraktalen Verästelung der Bäume, in der Art und Weise, wie sich die Schöpfung des Menschen verselbständigt hat und sich in ihrer Komplexität jeder Kontrolle entzieht, und in der zufälligen, akkumulierenden Flusigkeit der Spuren menschlichen Handelns.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016
 Schließlich bleibt die Frage nach dem Menschen selbst. Mit einer fast schon rührenden Ausnahme, auf der man eine Hand sieht, die eine kleine Fläche einer Heckklappe reinigt, tritt der Mensch überhaupt nicht in Erscheinung. Er wird vertreten durch seine Spuren, durch die Perspektive, also den Blick aus dem Auto heraus, und schließlich durch die Bleistiftzeichnungen.

Diese Zeichnungen des Werkkomplexes „Wagentourette“ sind tatsächlich während des Autofahrens und ohne einen Blick auf das Papier entstanden. In ihnen erleben wir den Versuch, die Ereignisse in der Äußeren Welt mit denen der Inneren Welt abzugleichen, bzw. eine Brücke von der einen in die andere Sphäre zu schlagen, und wir werden Zeugen des Scheiterns an dem Versuch, der Reizüberflutung in der automobilen Wirklichkeit Herr zu werden. Wir erleben das Zusammenfallen von Gesehenem und Gedachtem, den Kontrollverlust.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016

Gleichzeitig aber tritt in den Zeichnungen das organische Element der Natur zutage, eine  Unordnung, die Selbstorganisation flüchtiger Einzelereignisse, die sich zu etwas zusammenballen, in dem wir schließlich ein Zeichen, eine komplexe Einschreibung, die Spur eines Handlungszusammenhangs erkennen können, in den es wiederum möglich ist, eine Narration auf menschlichem Maßstab zu projizieren.

Und hier sehen wir schließlich die Stärke des hinfälligen Menschen, der kaum mehr als ein Phantom zwischen den Welten zu sein scheint: entfremdet von der Natur, und von dem selbstgeschaffenen System degradiert zur störungsanfälligen Arbeitsameise.
Seine Stärke tritt uns in der Fähigkeit entgegen, die ungesteuerte, natürliche und allgegenwärtige Selbstorganisation zu erkennen und schließlich mit ihr zu spielen. Denn selbst wenn die strengen graphischen Elemente der technisch-kulturellen Sphäre Linearität und Kontrolle suggerieren sollen: die Verwahrlosung, der Dreck, die nicht-intentionellen Einschreibungen und am signifikantesten das Spiel mit den Einschreibungen entlarvt diese Kontrolle schließlich als Illusion.

Rahel Bruns, Wagentourette, 2016


1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Insel Verlag, 1976, S. 16
2 Rupert Riedl, Über die Biologie des Ursachen- Denkens - Ein evolutionistischer, systemtheoretischer Versuch,
   Mannheimer Forum 78/79, Mannheim, 1979, S. 18 ff.

3 Paul Münch (Hg.): "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, Historische Zeitschrift Heft 31, 
   München, 2001
4 Ernst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1961 S.109
   und: Pierre Bourdieu:   Zur Soziologie der Symbolischen Form, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1970, S. 126 ff.

5 Marshall Sahlins: Kultur und Praktische Vernunft, Suhrkamp Verlag, Reihe: Theorie, Frankfurt a.M., 1981
6 Gerd Eilenberger: Komplexität - Ein neues Paradigma der Naturwissenschaften, in: Mannheimer Forum 89/90,
   München 1990, S. 71 ff.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Mai 2016