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Donnerstag, 30. Juni 2016

Die Auferstehung der inneren Bilder - Einführungsrede zu "Sho Hasegawa: Winter Landscapes" von Dr. Thomas J. Piesbergen

Die Ausstellung „Cappa - Winter Landscapes“ von Sho Hasegawa im Einstellungsraum e.V.  Hamburg findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Speichern. Akkumulieren." und ist noch bis zum 22. Juli 2016 zu sehen.

Bereits in einer anderen Rede zum Jahresthema Speichern.Akkumulieren. habe ich ein Zitat des Siddhartha Gautama Buddha herangezogen. Es lautet: „Alles was wir sind, ist das Resultat dessen, was wir gedacht haben.“

Diese Einsicht, vor fast 2500 Jahren formuliert, deckt sich weitgehend mit den Erkenntnissen der aktuellen Hirnforschung und wird unter dem Begriff der Neuroplastizität zusammengefasst, im speziellen unter dem Begriff der synaptischen Plastizität.
Diese synaptische Plastizität ist grundlegend an Lernprozessen und der Gedächtnisbildung beteiligt. Sie wird bedingt durch wiederholte Aktivität der Nervenzellen. Denn die Stärke der synaptischen Sensitivierung ist abhängig von der vorangegangenen Aktivität der präsynaptischen Zellen. Jeder Stimulus hinterläßt eine unterschwellige Aktivitätsspur in Form eines erhöhten Aktions- oder Membranpotenzials der synaptischen Endknöpfchen. Dadurch wird die Wirkung eines jeden nachfolgenden Stimulus enorm verstärkt.

Das bedeutet, je öfter wir eine Stimulierung, eine Erfahrung, eine Empfindung, einen Gedanken wiederholen, desto stärker wird die Übertragung, desto stabiler wird die entsprechende gedankliche Verknüpfung, dieser Effekt ist mitunter ein Leben lang wirksam. Synaptische Verbindung hingegen, die nicht genutzt werden, werden wieder zurück gebildet.

Verstärkt wird dieser Prozess der Routinierung durch die sog. Myelinisierung des Gehirns. Gliazellen umgeben nach und nach häufig genutzte Nervenbahnen und führen dazu, daß die Impulse deutlich schneller übermittelt werden. Dieser Prozess ist erst mit etwa 22 Jahren abgeschlossen. Der Neurologe Manfred Spitzer vergleicht die Myelinisierung mit der Entstehung von Trampelpfaden, von denen zunächst etliche miteinander konkurrieren, doch bald die meist genutzten so bequem ausgetreten und schnell zu begehen sind, daß die anderen nicht mehr genutzt werden, überwuchern und schließlich in Vergessenheit geraten.

Synaptische Verbindung zweier Nervenzellen mit myelinisiertem Axon
 

So wird unser Gehirn, und damit unsere Erinnerung, durch das geformt, was wir wahrnehmen und durch die Art, wie wir damit umgehen. Das, was wir als unser Ich begreifen, ist also die Summe der gespeicherten Routinen unserer Wahrnehmung und Handlung, ein aktiver Speicher unserer Erfahrung. Und natürlich auch ein Speicher von Bildern.

In der Erinnerung nehmen Bilder eine ganz besondere Rolle ein. Ein wichtiger Aspekt ist, daß sie sich nicht verändern. Sie können immer wieder wahrgenommen und auf diese Weise besonders gut verinnerlicht werden.

Zudem bieten sie für uns Menschen, die wir inzwischen zu einer vorwiegend visuell rezipierenden Spezies geworden sind, einmalige Bezugspunkte für die assoziativen Gewebe, mittels derer wir uns in unserer Wirklichkeit orientieren und verorten, mit denen wir uns in Beziehung zu unserer Umwelt setzen und sie bewerten.
Fast immer gehen die Bilder den Erfahrungen voraus. Bevor wir eine Reise nach Paris, nach London, nach New York, nach Zermatt unternehmen, kennen wir die Bilder vom Eiffelturm, vom Tower, vom Empire State Building oder dem Matterhorn in- und auswendig, denn wir haben sie bereits unzählige male gesehen. Bevor ein Kleinkind eine Kuh, einen Frosch oder einen Traktor gesehen hat, kennt es diese Dinge aus Bilderbüchern.
Bevor der moderne Mensch die Welt kennenlernt, lernt er Bilder von ihr kennen. Und in dem er die Bilder sortiert, gedanklich miteinander in Beziehung setzt und assoziativ belegt, bereitet er sich darauf vor, die Welt wahrzunehmen und mit den Bilder in Abgleich zu bringen. Mitunter werden die Bilder, an denen er seine Wahrnehmung geschult hat, sogar bestimmen, was er wahrnehmen wird.

Da Bilder vervielfältigt werden können und deshalb für jedermann verfügbar sind, bilden manche von ihnen auf diese Weise die Bausteine einer kollektiven Wirklichkeit und eines kollektiven Gedächtnisses und werden so zu global verstandenen, massiv mit Bedeutung aufgeladenen Symbolen.

Gleichzeitig können diese Geflechte von Bedeutung, deren Knotenpunkte bestimmte Bilder sind, als alternative, weil vorstellbare Wirklichkeiten empfunden werden, die so dicht sind, daß sie in uns ein Gefühl von Hyperrealität auslösen können. Dies gilt vor allem für Bilder, die uns in der Kindheit als getreues und vollständiges Abbild der Wirklichkeit gegolten haben. Während wir älter werden, drängen wir diese Bilder für gewöhnlich zurück und verbannen die sie umgebenden Bedeutungsgeflechte in die Regionen des Traums, des Märchens und der naiven utopischen Visionen.

Die Speicher, in denen diese Bilder und ihre Bedeutung aufbewahrt werden, sind unsere Gehirne, unsere Erinnerungen, unsere Identitäten, denn wir sind das Resultat all dessen, was wir gedacht haben. Doch ist es möglich, wie aus einem Kornspeicher das Korn, aus einer Batterie den Strom, oder aus einem Archiv ein physisches Bild, auch ein derart mit Bedeutung aufgeladenes inneres Bild wieder hervor zu holen? Ist also eine faktische Freisetzung und Aneignung der ins uns gespeicherten Erinnerung möglich?

An diesem Punkt möchte ich zur Arbeit „Winter Landscape“ von Sho Hasegawa kommen.

Als er seinen ersten Winter in Deutschland erlebte, war er mehr als erstaunt, daß die Kinder, selbst in der Stadt, mit größter Selbstverständlichkeit zum Schlittenfahrern gingen. Noch mehr wunderte es ihn, als ein Mädchen ihm erzählte, es werde am Wochenende auf einem nahegelegenen See Schlittschuh laufen.

Für Sho Hasegawa war das Schlittschuhlaufen bisher eine ausschließlich Hallensportart auf Kunsteis gewesen. Das Eislaufen in der Natur gehörte für ihn in den Bereich der traumgleichen und märchenhaften Bilder, in den Bereich der Utopie, und war maßgeblich verknüpft mit einem Bild aus dem kollektiven Gedächtnis: dem Gemälde „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Brueghel d.Ä., gemalt 1565, auf dessen rechter Bildhälfte eine detaillierte Eislauf-Szene dargestellt ist.


Die Jäger im Schnee, Pieter Brueghel d.Ä., 1565

Tatsächlich ist dieses Bild auch für mich ein zentrales Bild meiner Kindheit gewesen. Es hing, seit ich mich erinnern kann, über meinem Bett neben Brueghels Kornernte. In beiden bin ich zahllose male in Gedanken spazieren gegangen und oft schienen sie mir vertrauter, konsistenter, umfassender und realer als die wirkliche Welt.

Daß diese verloren gegangene Welt von Pieter Brueghel plötzlich etwas sein sollte, das tatsächlich erfahrbar war, war für Sho Hasegawa fast unvorstellbar. Er faßte den Entschluß, diese unerreichbar geglaubte Wirklichkeit freizusetzen und sich anzueignen.

Und in diesem Moment sind wir wieder bei dem bereits erwähnten Problem angelangt, wie es möglich sein könnte, diese zwar gespeicherten, aber dennoch flüchtigen und immateriellen Bilder und die damit verbundenen Empfindungen aus einer nur imaginierten Wirklichkeit in die erlebte Gegenwart zu transferieren und ihrer habhaft zu werden. Der Prozess, der durch diese Frage ausgelöst wurde ist so erstaunlich und komplex und ist zudem selbst integraler Bestandteil des Kunstwerks „Winter Landscapes“, daß es notwendig ist, ihn im Detail wieder zu geben.

Die erste Aufgabe, die sich Sho Hasegawa gestellt hat, bestand darin, sich Schlittschuhe zu entwerfen und anzufertigen, denn der schlichte Kauf von Schlittschuhen wäre viel zu profan und ästhetisch unangemessen für das Unterfangen, in den sensiblen und im hohen Maße persönlichen Unwirklichkeitsraum vorzudringen.
Es entstanden über hundert Entwurfszeichnungen, bei deren Entwicklung sich Hasegawa - diesmal unbewußt - von seinem inneren Bildspeicher leiten ließ. Das später realisierte Paar Kufen ähnelt deutlich den zur Zeit Brueghels üblichen Schnabelschuhen mit hölzernen Sohlen, die man unter die Füßlinge schnallen konnte, die verschlungenen Ornamente darauf hingegen erinnern stark an den sog. entwickelten Tierstil der Wikinger und die frühe keltische Kunst.


Schnabelschuhe aus dem Spätmittelalter und der frühen Renaissance

Die fertigen Kufen, eine aus Aluminium, einer aus Bronze, wurden verbunden mit Kabeln. Legt man sie in ein saures Medium, z.B. Zitronensaft, bilden sie durch ihre unterschiedliche Ionisierung eine Batterie mit einer Spannung von etwa 0,1 Volt. Das Motiv des Speichers, der Batterie tritt hier zum zweiten mal im künstlerischen Prozess auf.
Nach der so vorgenommenen Materialisierung war der nächste notwendige Schritt die Freisetzung und Belebung der inneren Bilder. Zu diesem Zweck fuhr Hasegawa im Winter nach Finnland, um dort mit seinen selbstgefertigten Kufen auf natürlichen Seen tatsächlich Schlittschuh zu laufen.


Sho Hasegawa, Winter Landscapes, Schlittschuhe und Blackbox, 2015

Die Aneignung des so erzeugten Moments der Freisetzung findet nun durch eine Umkehr des Prozesses statt: Die Erfahrung soll wiederum gespeichert werden und in die Bildwelt zurückkehren.

Dazu fertigte Sho Hasegawa eine Blackbox aus geräucherter Eiche an, in der ein Ebenholzstift mit einem dünnen Kanal befestigt ist. Oberhalb des Kanals ist eine Leuchtdiode angebracht. Sie wird ausschließlich durch den Strom gespeist, der in den Kufen entsteht. Mit diesem Lichtstift, dessen Bewegungen in einem mit etwas Ölfarbe gefüllten Schälchen von einer magnetischen Kugel nachgezeichnet werden, skizzierte der Künstler auf einen Mittelformat-Negativstreifen Impressionen der Seelandschaft, durch die er sich zuvor auf den stromspendenden Schlittschuhen bewegt hat. Der aus einem Vorstellungsraum und Erinnerungsspeicher tatsächlich hervorgegangene künstlerische Akt wird also wiederum zu etwas immateriellem transformiert, zu Elektrizität und Licht, die eine Rückkehr in die Bildwelt ermöglichen.

Sho Hasegawa, Winter Landscapes, 2015

Die manifeste Rückkehr in die Welt der Bilder und der Gemälde wurde schließlich erreicht, in dem die auf dem See entstandenen Zeichnungen auf Barytpapier ausbelichtet wurden. Dabei spielte es eine große Rolle, das die einzelnen Abzüge durch das ausgesprochen sensible Material und die Unwägbarkeiten des Entwicklungsprozesses, zu Unikaten wurden.
Als Verweis auf ihre Einmaligkeit und die gedachte Nähe zum Gemälde fertigte Hasegawa abschließend für jedes Bild einen individuellen Rahmen aus gezielt ausgewählten Holzsorten an, so z.B. aus finnischer Moorbirke. Und so sehen wir diese Spuren der Freisetzung der inneren Bilder nun vor uns.

In diesem in sich geschlossenen Prozess und seiner Gestaltwerdung werden wir Zeuge, wie ein inneres Bild reaktiviert wurde, wie es in seiner Freisetzung eine Art Auferstehung ins Leben vollzog und dort selbst wiederum Energie freisetzte, die es ermöglichte, daß der erzeugte Akt selbst eine Spur hinterlassen konnte. Durch die Fixierung dieser Spur fand schließlich der letzte Akt der Aneignung statt und eine Rückführung des Prozesses in das Archiv, den Speicher der Bilder.

ⓒ by Dr. Thomas J Piesbergen / VG Wort, 2016

Montag, 27. Juni 2016

Vernissage der Ausstellung Cappa - Winterlandscape" von Sho Hasegawa mit einer Eröffnungsrede von Dr. Thomas Piesbergen: 29.Juni im Einstellungsraum2016

Der japanische Künstler Sho Hasegawa setzt sich auf virtuose Weise mit der Freisetzung und Aneignung innerer Bilder auseinander.

Die Ausstellung wird eröffnet mit der Rede "Die Auferstehung der Bilder" von Dr. Thomas Piesbergen.


Vernissage 29.6.2016 / 19:00
Einstellungsraum e.V. 
Wandbeker Chaussee 11
Hamburg


Mittwoch, 1. Juni 2016

Neue Veröffentlichung: POSITION. 2015

Der Katalog zur Jahresausstellung des BBK Hamburg 2015 ist endlich erschienen, darin der komplette Text der Eröffnungsrede "Das Politische und die Kunst" von Dr. Thomas Piesbergen sowie ein Text zum Werk des Künstlers Errkaa.

Weitere Beiträge von Alfred Stephan Mattes (BBK), Hanno Rauterberg (Die Zeit, Freie Akademie der Künste), Bettina Steinbrügge (Kunstverein Hamburg), Belinda Grace Gardner (HfBK), Ralf Krüger (Galerie Feinkunst Krüger), Monika Schröder (BBK), Andre Leipold (Zentrum für politische Schönheit) u.a.


POSITION. Forum / Ausstellung 2015
Berufsverband bildender Künstlerinnen und Künstlern Hamburg
Verlag für permanente Kunst
ISBN 978-3-944173-93-1

Zu beziehen über den BBK Hamburg (Klick)