Der Mensch im postindustriellen Zeitalter ist daran gewöhnt, sich mit realen und zunehmend auch virtuellen Dingen und Erscheinungen zu umgeben, mit Gebrauchsgegenständen, Diensten und Vorrichtungen zur Zerstreuung, die vor allem anhand der Kategorie ihrer Zweckmäßigkeit wahrgenommen werden, sowohl im rein pragmatischen, als auch im irrationalen Sinn, wenn wir Dinge durch diskursive Repetition mit vermeintlichen Bedeutungsgehalten aufgeladenen haben.
Stets beruht unser Urteil über die Erscheinungen unserer Alltagswelt auf dem teleologischen Zweck, den wir erkennen oder den wir den Erscheinungen auf dem Weg der Reifikation beimessen. Wenn uns die Dinge dienen und wir aus ihnen einen Nutzen ziehen können, scheint dieser Umstand uns meist zu einer Einschätzung und Beurteilung dieser Dinge zu genügen.
Das „Wie“ der Dinge verschwindet für das Gros der postindustrieller Konsumenten hinter der Oberflächenlosigkeit der semi-virtuellen Mensch-Maschine-Interfaces, den Touchscreens, mit denen unser Alltag zunehmend ausgekleidet wird. Wir bewegen uns mehr und mehr in einer Welt digitaler Bilder und Dienstleistungen, die im Jenseits der immateriellen Oberflächen generiert werden. Wer vergegenwärtigt sich schon, was sich jenseits der realen, materiellen Oberfläche eines Touchscreens abspielt?
Übersetzen wir diese depravierte, beschnittene Wahrnehmung in das aristotelische Konzept der Ursachen, scheint den meisten Menschen nur die causa finalis von Bedeutung zu sein. Möchte man sich den Dingen jedoch in ihrer Ganzheit widmen, ist es notwendig, auch die anderen drei von Aristoteles beschriebenen Ursachen zu betrachten: die causa materialis, die causa efficiens und die causa formalis.
Die causa materialis, also die Materialursache, beschreibt, welchen Materialien ein Gegenstand oder eine Erscheinung überhaupt ihre Existenz verdankt, welche chemischen Stoffe also die Gestaltwerdung oder Wirksamkeit des Objekts in der physischen Wirklichkeit verursachen.
Die causa efficiens, die Antriebsursache, bezeichnet den Arbeitsaufwand, die umgesetzte Energie, die notwendig gewesen ist, um aus den Materialien den Gegenstand zu formen oder die Erscheinung hervorzubringen.
Die causa formalis, die Formursache, schließlich stellt den Bauplan, die angestrebte Ordnung oder die gestaltgebenden Bedingungen dar, nach der die Materialien zusammengefügt worden sind, um schließlich die uns entgegentretende Form hervorzubringen.
Kein Haus existiert ohne die Absicht, ein Haus zu bauen (causa finalis), ohne Holz und Steine (causa materialis), ohne Bauplan (causa formalis) und ohne die Arbeit von Handwerkern (causa efficiens).
Natürlich gibt es zahllose Interdependenzen zwischen den vier aristotelischen Ursachen und zunächst erscheinen sie gleichberechtigt, doch tatsächlich gibt es eine markante Polarität zwischen den zuletzt genannten drei Ursachen, die man als Wirkursache zusammenfassen kann, und der causa finalis, der Zweckursache. Denn während die causa materialis, die causa efficiens und die causa formalis in der Vergangenheit eines Gegenstandes zu verorten sind, ist die Zweckursache etwas Zukünftiges, Vorweggenommenes.
Wir betrachten Dinge und uns interessiert fast nur, wie ihre Funktion in unserer eigenen Zukunft zur Wirkung kommen und sich entfalten kann. Wird die Übertragungsrate mit der neuen Breitbandverbindung größer? Funktioniert die Bildbearbeitung mit dem neuen Prozessor wirklich schneller? Wird mich mein neues Navigationsgerät auch sicher um Staus und Baustellen herumführen? Komme ich mit der neuen Parkhilfe zukünftig in noch kleinere Parklücken? Wirke ich durch die Anschaffung eines leistungsstarken Cabrios jugendlicher und sexuell attraktiver?
Kaum jemand setzt sich, wenn er mit einer Hervorbringung der Zivilisation konfrontiert wird, damit auseinander, aus welchem Material ein Gegenstand angefertigt ist, welcher Arbeitsaufwand oder welche Energie notwendig gewesen ist, ihn herzustellen, oder wie er, abgesehen von seiner Bedienbarkeit, eigentlich funktioniert? Man benutzt die Dinge und hat den Blick dafür verloren, was in ihnen vorgeht. Die causa finalis, der Zweck, den sie erfüllen, ihre „Performance“ überlagert alle möglichen Überlegungen über ihr Zustandekommen.
Was geschieht aber, wenn man mit einem Gegenstand konfrontiert ist, dessen causa finalis nicht zu benennen ist, der ganz offenbar eine Funktion aufweist, diese Funktion aber keinen offensichtlichen Zweck verfolgt? Wie nehmen wir einen Gegenstand wahr, der zwar Energie umsetzt, aber dennoch schlicht und ergreifend nutzlos ist?
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Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016 |
Solchen Objekten werden wir in der aktuellen Ausstellung „Krafttakt“ von Yukari Kosakai ausgesetzt. Und nach einer ersten, leichten Irritation beginnt unser Verstand das zu tun, was er gewohnt ist zu tun: er versucht den Zweck der verschiedenen Apparaturen, Versuchsanordnungen und Objekte zu entschlüsseln, versucht, die möglichen Ergebnisse der in ihnen angelegten Prozesse zu extrapolieren und in die Zukunft zu übertragen.
Doch um diesen gedanklichen Schritt überhaupt vollziehen zu können, ist der Betrachter notgedrungen auf die drei Wirkursachen, die er im Alltag selten beachtet, zurückgeworfen:
Was für Materialien habe ich vor mir? Was wirkt auf sie ein und mit welcher Stärke? Was für eine Transformation wird dadurch in Gang gesetzt oder was für ein Mechanismus ausgelöst?
In kleinen Kästen aus Holz und Glas sehen wir Zylinder und Stifte aus Wachs, eingespannt in verschiedene Mechanismen, die auf die Wachskörper einwirken. Ihre kinetische Energie erhalten die Mechanismen von starken Spiralfedern. Rote Markierungen auf den Sichtgläsern machen die schleichende Verformung sichtbar, eine Stauchung, eine Torsion oder eine Durchdringung, bis die in der Spiralfeder gespeicherte kinetische Kraft aufgebraucht und die Feder in einen Ruhezustand gekommen ist, die causa efficiens also ihre Wirkung gezeitigt hat.
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Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016 |
Eine andere Apparatur besteht aus einem aufrecht stehenden Holzgestell, in das zehn dicke Wachsplatten eingespannt sind, die ihm die Anmutung eines Starkstrom-Isolators oder Tesla-Transformators geben. Auf der obersten Platte, beschwert von einem Gewicht aus Gips, ruht ein Halterung mit Rotlichlampe. Von dieser Halterung läuft ein Seil zu einem kleinen hölzernen Rad, das wiederum ein großes Rad in Bewegung setzt, an dem ein weiteres Gipsgewicht hängt. Die Last der Halterung und das Rotlicht werden solange auf die Wachsplatten einwirken, bis sie, eine nach der anderen, nachgeben, das Rad in Gang setzen und schließlich das zweite Gewicht in die Höhe heben werden.
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Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016 |
Eine weitere Versuchsanordnung besteht aus einem Turm übereinander gestapelter Kegelstümpfen aus Wachs. Auf dem obersten Kegelstumpf ruht eine Metallschale die mit einem langen Kantholz an einem Gelenk an der Wand angebracht ist. Über die Schale ist eine Rotlichtlampe montiert, die auf die Schale gerichtet ist, während eine Spiralfeder im Inneren des wächsernen Turmes gleichzeitig die so erwärmte Metallschale nach unten zieht. Der ganze Turm schließlich steht auf einem kleinen, hölzernen Schienenwagen. Erhitzt sich die Schale und schmilzt das Wachs ist anzunehmen, daß der hölzerne Arm sich seinem Radius folgend nach unten bewegt und den kleinen Wagen samt Turm langsam näher an die Wand zieht. Diese erwartete Bewegung kann anhand einer auf dem Boden befindlichen Skala abgelesen werden; doch der hier suggerierte Zweck, also das Messergebnis, ist wiederum völlig nutzlos, denn es erfüllt keinen Zweck, darf also nicht als causa finalis mißverstanden werden.
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Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016 |
In allen Fällen wird die causa materialis von der causa efficiens solange transformiert, bis das Material der Energie keinen Widerstand mehr leistet und die im Objekt gespeicherte Energie aufgebraucht ist, bzw. die sich bewegenden Teile zu einem Ruhepunkt gekommen sind, der eine weitere Transformation ausschließt. Man könnte die Installationen also vergleichen mit Batterien, die sich langsam selbst entladen.
Auf drei verschiedene Arten und Weisen kommt hier die Zeitlichkeit der Objekte und der ihnen inhärenten Prozesse ins Spiel:
Zunächst sind, wie eben gezeigt, die Anordnungen zeitlich terminiert. Denn schließlich wird die Wirksamkeit von causa efficiens, causa materialis und causa formalis zu einem Ende kommen. Die Energie ist aufgebraucht, die materielle Transformation zu Ende gebracht und damit die dem Bauplan entsprechende Gestalt aufgelöst. Die Kunst-Batterie hat sich selbst entladen.
Zum zweiten fehlt ihnen die in der Zukunft liegende Zweckursache. Die Anordnungen sollen nichts hervorbringen, werden kein angestrebten Endzustand erreichen. Man könnte sagen, ihr Zweck ist reiner Selbstzweck, nämlich der Vollzug des gegenwärtigen, in ihnen angelegten Prozesses. Wir sind also darauf zurückgeworfen, uns mit dem Nachvollzug der Funktion und den ihr zugrunde liegenden, gegenwärtigen Wirkursachen auseinanderzusetzen, während unser Verstand versucht, diese sich öffnende, ungewohnt intensive Gegenwärtigkeit der Anschauung mit Projektionen möglicher aber unvorhersagbarer End-Szenarien der angestoßenen Transformationsprozesse zu füllen.
Das Kunstwerk zeigt sich nicht als überzeitliches Objekt, sondern als zeitlich begrenzter Prozess, dessen Komponenten nur durch ihr Zusammenwirken Relevanz erhalten. Die materielle Seite der Arbeiten ist also nur ein Vehikel, ein Repräsentant für die gegenwärtige Transformation, in die wir durch Anschauung eingebunden werden.
Schließlich werden wir mit der Dimension wahrgenommener Zeit konfrontiert: Wir wissen, es findet eine Transformation statt, doch können wir sie nicht akut beobachten, so wie man auch nicht die Bewegung des Stundenzeigers, ja nicht einmal die des Minutenzeigers einer Uhr tatsächlich beobachten kann, auch wenn wir wissen, das, was reglos erscheint, in unablässiger Wandlung begriffen ist. Trotz des scheinbar statischen Erscheinungsbildes der Installationen finden wir in ihnen eine Metapher des vorsokratischen „panta rhei“ - alles fließt.
Es erinnert uns daran, daß auch auf die scheinbar statische Welt um uns herum ununterbrochen deformierende und transformierende Kräfte einwirken, daß wir umgeben sind von Mechanismen und Wirkpotenzialen, die nicht dem vordergründigen, teleologischen Zweckdenken des Menschen untergeordnet sind, die aber dennoch unsere Welt umbemerkt und unentwegt bewegen und verändern, die wir erst wahrnehmen können, wenn wir uns auf eine geduldige Beobachtung der Wirkursachen einlassen, anstatt stets nur die Zweckmäßigkeit der Dinge zu projizieren.
In diesem Sinne kann man nicht nur das Material „Wachs“ als Inbegriff der nahezu unbegrenzten Formbarkeit bei gleichzeitig fester Erscheinung begreifen; auch ein Schlauch, der sich aus dem Kriechkeller des Einstellungsraums windet um gleich wieder darin zu verschwinden, kann als metaphorischer Verweis auf das durch ausgreifende Zeiträume verdeckte Wirken kinetischer Bewegung gelesen werden. Die signalrote Flüssigkeit, die unsere Aufmerksamkeit fordert, scheint vor unserem Auge solange zu ruhen, bis plötzlich eine Luftblase durch sie hindurch gleitet und uns ihr sonst unsichtbares Fließen enthüllt.
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Yukari Kosakai "Krafttakt", Einstellkungsraum, 2016 |
Ein vordergründig nutz- und zweckloses Fließen zwar, das aber durch den gedanklichen und rezeptiven Zusammenhang, in dem es sich zeigt, und durch die Sensibilisierung, die es uns abfordert, zwar nutz- und zwecklos, jedoch nicht sinnlos ist.
ⓒ by Thomas J. Piesbergen / VGWort, Oktober 2016