Waltraut Kiessner - manus loquens / Eine Ausstellung im Einstellungsraum zum Jahresthema Speichern.Akkumulieren
November 2016
Zu den wichtigsten physischen Aspekten der Menschwerdung, die sich weitgehend im Pliozän abgespielt hat, gehört neben dem aufrechten Gang, der Entwicklung von Zahnbogen, Zungenbein und Kehlkopf sowie dem zunehmendem Volumen des Gehirns die Herausbildung der menschlichen Hand.
Im Vergleich zu der Hand des Menschenaffen ist sie gekennzeichnet durch verkürzte Finger und die Fähigkeit des Daumens zu einer opponierenden Haltung. Dadurch waren die Urmenschen wie die Australopithecinen und der Homo Erectus in der Lage, Gegenstände viel fester zu greifen und vielfältiger zu handhaben als die Menschenaffen imstande sind. Zugleich war es ihnen möglich, die Hand zur Faust zu ballen; so wurde die Hand nicht nur zu einem hocheffektiven Greifwerkzeug, sondern auch zum Schlagwerkzeug und zur Waffe.
Als wichtigstes nicht-physiologisches Kennzeichen der Hominisation gilt das intentionelle Zurichten und der Gebrauch von Werkzeugen. Mit ihnen beginnt das, was wir als die Kulturgeschichte des Menschen bezeichnen.
Vorraussetzung dafür aber ist die vorangegangene Entwicklung der menschlichen Hand. Denn selbst wenn andere Spezies über eine Intelligenz verfügen, die mit der des Homo Sapiens annähernd vergleichbar wäre, wie z.B. bestimmte Papageienarten oder Delfine, sind sie nicht in der Lage, ihre Welterfahrung in materielle Kultur zu übersetzen und sich langfristig ein Lebensumfeld zu schaffen, das klar von der natürlichen Umwelt zu trennen ist.
Zu diesem Akt der Neuerschaffung der Welt ist nur der Mensch fähig; und dazu befähigt ihn die Physiognomie der Hand. Sie stellt die operative Schnittstelle zur Welt dar, unsere Möglichkeit, sie zu begreifen, sie uns anzueignen, auf sie einzuwirken und schließlich zu transformieren.
Die Einsicht der Bedeutung der Hand und ihres Hinausgreifens in die Welt brachte die ältesten dem Menschen bislang bekannten Kunstwerke hervor:
Negativabdrücke von Händen. 40.000 Jahre alte Höhlenmalereien auf der indonesischen Insel Sulawesi zeigen ganze Gruppe von weit gespreizten, schlanken und langgliedrigen Händen, die auf die Felswände gelegt und mit Farbe übersprüht wurden.
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Höhlenmalerei, Sulawesi/Indonesien, ca. 40.000 v.Chr. |
Ganz sicher sind sie in einem kulturellen Kontext zu begreifen, der durch ein sog. fließendes Bewußtsein gekennzeichnet ist, in dem der einzelne Mensch sich noch nicht getrennt von den anderen Individuen seiner Gruppe und der Umwelt versteht, sondern alle Erscheinungen der Welt als Teile eines einzigen magischen Fluidums begreift, das mit der Logik des Analogiedenkens zu verstehen ist.
Wenn eine materielle Hand in die materielle Welt greifen kann, um Veränderungen in ihr hervorzubringen, so kann eine immaterielle Hand Veränderungen der immateriellen Seite der Welt bewirken, die wiederum ihre Entsprechung in der materiellen Welt zeitigen wird. Die Abbildung der Hand ist hier also zu verstehen als Kontaktaufnahme mit den immateriellen Aspekten der Welt sowie eine beabsichtigte Einwirkung auf die Welt mit immateriellen Mittel.
Aus diesem ursprünglichen Analogiedenken hat sich die zentrale Bedeutung der Hand im Rahmen rituell-magischer Handlungen erhalten. Keine magische Handlung, kein Segen, der ohne Handzeichen oder akutes Agieren der Hände auskommt. Heiler legen die Hände auf, Pastoren schlagen mit den Fingern das Kreuz über der Gemeinde, im Gebet werden die Hände anrufend zum Himmel erhoben oder gefaltet.
Noch im gegenwärtigen Informationszeitalter ist diese symbolische Bedeutung der Hand präsent und die digitalen Entsprechungen der prähistorischen Hand-Abdrücke begegnen uns ununterbrochen: Während sich die materiellen Hände über Tastaturen, Touchscreens und Mousepads bewegen, öffnen uns immaterielle Hände als kleine Icons per Klick immaterielle Fenster und greifen zu auf immaterielle Inhalte.
In den frühesten Bildwerken wie in ihren digitalen Entsprechungen, findet sich einer der wohl zentralsten Elementargedanken des Menschen:
Die Hand als Repräsentation des Handelns schlechthin, als das primäre Werkzeug, das unsere Vorstellungen und unseren Willen in der materiellen und immateriellen Welt in Erscheinung treten läßt und gleichzeitig das Hinüberziehen und Aneignen der Dinge ermöglicht.
Diese elementare Bedeutung der Hand ist bis heute in zahllosen Begriffen und Redewendungen unserer Sprache präsent:
- An erster Stelle steht der Begriff der Handlung, der jedwede Tätigkeit mit der Hand
im Zusammenhang bringt
- Wir sprechen davon, unser Schicksal liege in Gottes Hand
- wir sind jemandes rechte Hand, wenn wir dessen Willen umsetzen
- uns sind die Hände gebunden, wenn wir nicht handeln können
- wir begreifen oder erfassen Dinge und können mit ihnen gedanklich umgehen,
wenn wir sie zuvor mit Begriffen belegt haben
- wenn wir über etwas nachdenken, so befassen wir uns damit
- wenn Dinge offenkundig sind, so liegen sie auf der Hand
- wenn wir uneingeschränkt handeln können, so haben wir freie Hand
- wenn wir uns der Aufgaben und Handlungen eines anderen bemächtigen nehmen
wir sie ihm aus der Hand
- wenn man mit einem Vorgang nichts zu tun haben möchte, so läßt man die Hände
oder die Finger davon
- wenn man Macht über jemanden hat, so kann man ihn um den Finger wickeln und
hat ihn es in der Hand
- genauso geht der Begriff Manipulation auf das lateinische manus (Hand) zurück.
Die Hand als Repräsentation des Handelns an sich steht also auch für die bereits erwähnte Macht, auf die Welt einzuwirken und sie umzugestalten.
Durch diese Fähigkeit zur Umformung ermöglicht sie uns, unsere Erfahrungen überzeitlich zu fixieren. Indem wir die Dinge der Welt ordnen und eine künstliche Dingwelt schaffen, fixieren wir unsere Konzepte der Wirklichkeit, denn sowohl die Ordnung des Raums als auch die Gestalt der vom Menschen erschaffenen Dinge sind Ausdrücke einer non-verbalen Kommunikation.
Unsere kulturelle, von Menschenhand erschaffene Umwelt ist somit ein Archiv unserer Vorstellungen von der Ordnung der Welt, die mit unserem Erfahrungskontinuum Feedbacks erzeugt und auf diese Weise Strukturen für die weitere geistig-kulturelle Entwicklung des Menschen liefert. Die vom Menschen erschaffene Lebens- und Dingwelt fungiert also als ein externes kulturelles Archiv, das auf unsere Wahrnehmungs- und Handlungsweisen affirmativ oder inspirierend einwirkt.
Erst die Hand ermöglicht es dem Menschen also, die zeitübergreifende kollektive Kommunikationsstruktur zu erschaffen, die wir als Kultur bezeichnen.
Tatsächlich tritt uns dieser Elementargedanke der Hand als operativer Schnittstelle zur Welt und den von uns geschaffenen Archiven vor allem in der Kunst mit exemplarischer Klarheit entgegen. Wie zu Beginn der menschlichen Kultur erschaffen die Hände der Künstler immer wieder aufs neue Konstellationen, die neben einer materiellen Seite vor allem eine immaterielle Bedeutungsebene bieten, eine neue gedankliche Umwelt im dinglichen Archiv der menschlichen Lebenswelt, die zuvor durch ein metaphorisches, immaterielles hinausgreifen in die Wirklichkeit inspiriert worden ist.
Eine kleinere, fast schwarze Arbeit Waltraut Kiessners läßt eine dunkle Folge von drei oder vier Händen erahnen, die eine Reihe von bedeutsamen Gesten zu vollführen scheinen, eine Folge unverständlicher Zeichen mit einem uns verborgenen Zweck, fast als vollführten sie eine Choreographie okkulter Manipulationen, die in Verbindung gesetzt werden kann mit dem rituell-magischen Ausgreifen in die immateriellen Aspekte des Seins, um im Sinne des Analogiedenkens auf die Dingwelt einzuwirken - der Archetypus magischer Handlung.
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Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016 |
Die Hand als Werkzeug zur Erkundung der Welt ist in Waltraut Kiessners Video-Installation „Punktum“ im Keller des Einstellungsraum zu sehen.
Eine Hand schlägt wieder und wieder nach fliegende Tennisbälle, will sich ihrer bemächtigen, sie kontrollieren. Um den Monitor liegen ungeordnet aufgebrochene und zerschnittene Tennisbälle. Sie erinnern an das Vorgehen von Kleinkinder, Spielzeug, Alltagsgegenstände, Käfer oder Blumen in ihre Einzelteile zu zerlegen, um ihnen auf den Grund zu gehen, sie begreifen und sich aneignen zu wollen.
All die Dinge, mit denen wir uns befassen und mit denen wir geistig umgehen, konstituieren unsere Wirklichkeit - und rückwirkend unser Selbst. Das Buddha-Zitat, das unser Selbst als die Summe all dessen bezeichnet, was wir gedacht haben, läßt sich dahingehend übersetzen, daß wir das interne Archiv all dessen sind, was wir begriffen und erfasst haben - nicht in dem Sinne, daß wir es verstanden hätten, sondern daß wir damit physisch und in Gedanken umgegangen sind und es mit Begriffen belegt haben.
Unser Geist ist also wie unsere künstlich geordnete oder neu geschaffene Umwelt ein Archiv. Doch es ist kein statisches Archiv und es zeigt seinen Inhalt nur, wenn wir aktiv darauf zurückgreifen.
Mit diesem Gedanken beschäftigt sich eine andere Arbeit von Waltraut Kiessner: Ein Raster von Glasscheiben, die meisten davon blind, milchig. Auf manchen aber zeigen sich tastende und zeigende Hände auf Papierfragmenten, deren Form bestimmt wurde von vorher darauf ausgebrachtem Fett, Metapher für aktive, lebendige Energie. Über die Fragmente sind wiederum erste Schichten in verschieden Medien aufgebracht, Fotokopien, Öl, Kreide, Textilien oder Kohle, die sich auf den Händen in weiteren Schichten verdichten.
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Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016 |
Die Hände stehen für die Arbeit in unserem geistigen Archiv, für den Umgang und die stetige Revision unserer Erinnerungen, mit der wir gespeicherte Dinge für kurze Zeit sichtbar machen, indem wir uns mit ihnen befassen, sie im Diskurs mit der Wirklichkeit abgleichen, abändern oder wieder verwerfen und schließlich auf unbestimmte Zeit wieder verschwinden lassen hinter dem blinden Milchglas schlummernder Erinnerungen.
Doch nicht nur die stetig umgeformten Inhalte des Archivs sind Ergebnis eines Prozesses, auch die metaphorischen Hände selbst, unsere geistigen Werkzeuge der Erkenntnis, sind erst durch diesen Prozess zu dem geworden, was uns als vielschichtiges Phänomen entgegentritt. Denn die Hände bestehen aus dem, in das sie hinausgreifen, aus dem, was sie sich aneignen, in dem sie damit umgehen. Wir sehen den Übergang der Außenwelt über das Begreifen in die Innenwelt des Archivs. Das Außen wird zum Innen; das innere und das äußere Archiv spiegeln sich ineinander als strukturierende Strukturen.
Ebenfalls als Arbeit im inneren Archiv kann ein Video gelesen werden, daß eine Hand zeigt, die versucht, einen roten Faden zu entwirren, zu straffen und Knoten in ihn zu schlagen. Der rote Faden entpuppt sich aber als widerspenstig. Kaum ist er gestrafft, schnurrt er wieder zu einem chaotischen Gewirr zusammen, und die Knoten, die Fixpunkte, die wir versuchen in unsere Erinnerung und unsere Biographie zu schlagen, lösen sich wieder von selbst oder werden von der agierenden Hand wieder gelöst.
Und langsam, zuerst unbeabsichtigt, dann in dem Versuch der Substanz des roten Fadens auf den Grund zu gehen, löst er sich auf, bis schließlich nur noch kaum sichtbare rote Flusen auf dem weißen Untergrund zu sehen sind und die Hand reinen Tisch macht, tabula rasa, und die Bühne freimacht für den nächsten Versuch, die Welterfahrung zu ordnen.
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Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016 |
In einer anderen Serie von Bildern wird durch eine quasi-narrative Reihung, die einmal mehr das Prozesshafte, das stets Handelnde, das „Duré“ der Handlungstheorie angedeutet.
Die Bilder zeigen Hände, die, nachdem sie die Welt in sich aufgenommen und vielschichtig in sich gespeichert haben, sich im buchstäblichen Sinne mit sich selbst befassen. In einer Reflektion versuchen sie zu begreifen, was die Welt begreift.
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Waltraut Kiessner, "manus loquens", Einstellungsraum, 2016 |
Hier begegnet uns einmal mehr das fließende Bewußtsein und das
Analogiedenken aus der Urzeit der Kunst wieder, die Entsprechung von
Innen- und Außenwelt.
Und wir können darin das uralte, immer wiederkehrende Diktum aller mystischen Lehren entdecken: Willst du die Welt erkennen, erkenne dich selbst!
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2016