Eva Ammermann, 121) Eier in Schnee, 2017 |
Die englische Fachzeitschrift Anthropocene Review veröffentlichte im Dezember 2016 einen Aufsatz in dem Wissenschaftler der Universität von Leicester die Masse aller von Menschen gemachten Dinge auf etwa 30 Billionen Tonnen schätzten. Dieser im Gegensatz zur Biosphäre als „Technosphäre“ bezeichnete Teil unserer Umwelt würde demzufolge mit einem Gewicht von nicht weniger als 50 kg pro Quadratmeter Erdoberfläche zu Buche schlagen.
Diese Zahlen machen deutlich, in welchem kaum vorstellbaren Maße der Mensch bereits Dinge aus der natürlichen Umwelt entnommen hat, um sie zu dem zu transformieren, was einen großen Teil unserer Lebenswelt ausmacht. Doch die Technosphäre deckt noch lange nicht alles ab, was dieser kulturellen, vom Menschen gestalteten Umwelt angehört: Denn auch das, was vielfach der Biosphäre zugeschlagen wird, ist bereits ein Produkt, wenn auch ein rohes, der menschlichen Intervention, wie z.B. Nutzwald, landwirtschaftliche Flächen, Weidegründe, „naturnahe Erholungsgebiete“, Parkanlagen oder Gärten.
Schon in den künstlerischen Äußerungen des Menschen der Jungsteinzeit, wie z.B. in Catal Hüyük, können wir die Dichotomie zwischen der ungezähmten, bedrohlichen Natur und ihrer domestizierten und kultivierten Variante beobachten. Die erstere wird in der Frühzeit der Kultur mit Symbolen assoziiert, die für den menschlichen Tod stehen, die domestizierte Natur hingegen wird dem menschlichen Leben zugeschlagen.
Dieselbe Dichotomie tritt uns noch Jahrtausende später in den Schriften des Freiherrn Friedrich von Hardenberg (Novalis) entgegen, der zwar in der Natur den idealen Spiegel zur Selbsterkenntnis sah, aber nur, wenn sie sich in einem gezähmten, zugänglich gemachten Zustand befand, da die wilde, ungezähmte Natur zu dunkel und fremd und dem Menschen gegenüber zu feindlich gesonnen sei.
Der Graben zwischen natürlicher und kultureller Umwelt ist im Laufe der industriellen und postindustriellen Gesellschaft mit atemberaubender Geschwindigkeit immer tiefer und breiter geworden. Die freie Natur ist zu etwas geworden, das dem urbanen Menschen fremdartig, bedrohlich und unwirklich erscheint und mit dem er meist keinerlei unmittelbare Berührungspunkte hat.
Viele Kinder glauben, die natürliche Farbe von Kühen sei lila. Auf städtischen Spielplätzen kann man immer häufiger Kinder sehen, die zum Spielen im Sand die Schuhe, nicht aber die Strümpfe ausziehen, um bloß nicht unmittelbar mit dem Sand in Berührung zu kommen; und auch die meisten abenteuerlustigen Erwachsenen wagen sich nur noch gewappnet mit einem Arsenal von Schutz- und Abwehrutensilien aus dem Outdoor-Spezialgeschäft und einer klar umgrenzten „Challenge“ in eine Natur hinaus, die bereits von „Natur“ zu „Schmutz“ umgewertet wird, sobald sie von den Trecking-Boots auf den Boden des geodätischen Zelts rieselt.
Unter umweltbewußtem Handeln, das nach wie vor nur von einer Minderheit praktiziert wird, versteht man ebenfalls vor allem ein abstraktes Agieren in Kontexten, die zwar als Alternativen zu dem postindustriellen Mainstream angesprochen werden können, die aber nichtsdestotrotz ebenso von der Natur entfremdet sind:
So zahlt man z.B. bei Logistik-Unternehmen oder online-Druckereien Aufschläge für den „klimaneutralen“ Druck und Versand. Hinter dieser Attributierung verbergen sich aber keine Druck- und Versandverfahren, die konkret umweltneutral sind, sondern lediglich ein nicht mehr nachvollziehbarer Handel mit Emissions-Zertifikaten.
Man bezieht zwar umweltfreundlich erzeugten Strom, der kommt aber unverändert aus der Steckdose und bleibt in all seinen Anwendungen die gefühlte Antithese zur Natur schlechthin.
Man verpackt die Schulbrote nicht mehr in Tupperware aus PET, sondern in kompostierbare Dosen aus Bio-Plastik auf Milchproteinbasis. Oder man kauft Bioprodukte, die aus Peru, Südafrika oder China eingeflogen werden. Eine unmittelbare Interaktion zwischen Mensch und Natur findet nicht statt.
Für die Mehrheit der Menschen in unserer postindustriellen Gesellschaft ist die Trennung von Natur und Kultur inzwischen so fest in den Köpfen verankert, daß oft vergessen wird, daß das eine aus dem anderen hervorgegangen ist. Wie aber die vorhandene Schnittstelle beschaffen ist oder wie sich der Übergang von der einen zur anderen Sphäre abspielt, ist nur noch selten nachvollziehbar oder dem Alltagsbewußtsein unerwünscht. Genauso fehlt meist das akute Bewußtsein für das direkte Abhängigkeits-verhältnis beider Sphären.
Ursache dafür ist einerseits die Bequemlichkeit des Menschen, die ihn dazu veranlasst, Verantwortung so gut es geht von sich fern zu halten, andererseits ist es die routinierte Entfremdung von den verantwortlichen Transformationsprozessen, mittels derer Rohstoffe in die Sphäre der Kultur überführt werden, und die durch arbeitsteilige Verfahren so weit von den Individuen abgerückt sind, daß sie kaum noch wahrgenommen werden können.
Ein Bindeglied, ein Prozesskomplex in dem sich diese nahezu alchimistische Umwandlung von Natur in Kultur abspielt, befindet sich jedoch noch immer im Zentrum des menschlichen Operationsradius: Die Zubereitung unserer Nahrung.
Dem Rechnung tragend benannte Claude Levi-Strauss, der Begründer des Strukturalismus, den ersten Teil seines Hauptwerks „Mythologica“ entsprechend „Das Rohe und das Gekochte“. Denn so wie das „Innen“ und das „Außen“ die maßgeblichen räumlichen Markierungen der Kultur sind, so markieren die Zustände „roh“ und „gekocht“ die wohl bedeutendste qualitative Grenze zwischen Natur und Kultur.
Eva Ammermann, 121) Eier in Schnee, Ausstellungsansicht, 2017 |
„Man kann daher am Grad der Verwandlung vom Rohen zum Gekochten den Zustand der Zivilisation ablesen. Zwischen Kultur und Küche gibt es einen Zusammenhang. Gewissermaßen wächst mit der Höhe der Temperatur in der Küche die Höhe der Kultur. Kultur hat etwas zu tun mit der Temperatur der Nahrungsmittel.“ (Levi-Strauss, Mythologica Bd. 1)
Es ist im Prinzip also jedem Individuum möglich, die Transformation von Natur zu Kultur selbst zu bewirken, in dem man aus natürlichen Grundzutaten etwas kocht und dadurch ein kulturell signifikantes Produkt herstellt.
Doch selbst dieser schlichte Vorgang wird von immer weniger Menschen vollzogen. Laut dem Ernährungsreport 2017 des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wird nur noch in 39% aller Haushalte regelmäßig gekocht. Bereits in 11% der Haushalte bleibt die Küche vollständig kalt und man ernährt sich nur noch außer Haus in Kantinen oder Imbissen.
Selbst wenn gekocht wird, kommen meist keine natürlichen Grundnahrungsmittel zum Einsatz, sondern in rasant zunehmendem Maß Convenience-Produkte, also teilfertige Gerichte, die nur noch durch Gemüse, Fleisch oder Sättigungsbeilagen ergänzt werden müssen, oder komplette Fertiggerichte, die man lediglich erhitzen muß.
Statt des Wissens, wie man aus einer Handvoll Grundnahrungsmittel eine nahezu unerschöpfliche Fülle verschiedenster Gerichte zubereiten kann, wird von der Nahrungsmittelindustrie vermittelt, man brauche für jedes Gericht, für jede Soße, jedes Dessert die ganz spezielle, vorgefertigte Mischung aus der unüberschaubaren Legion der Tüten und Dosen aus dem Supermarkt, deren Rezepturen und Herstellung so kompliziert sind, daß man sie unbedingt den Spezialisten eben dieser Nahrungsmittelindustrie überlassen müsse.
Eva Ammermann beschäftigt sich in ihren Arbeiten schon seit längerer Zeit mit dem Thema Essen und versucht, den tiefen Graben, der sich zwischen dem Menschen und der ihn ernährenden Natur aufgetan hat, zu überbrücken. Die Arbeiten, die in der Ausstellung Eier im Schnee zu sehen sind, sind in der Schnittmenge ihres persönlichen Jahresthemas „Enthaltsamkeit“ mit dem Jahresthema des Einstellungsraums „Drehmoment“ entstanden.
Ausgangspunkt ist entsprechend nicht das Kochen selbst, sondern der transformierende Prozess des Verquirlens und Aufschlagens.
Eva Ammermann, Schneeschale, 2017 |
Die Herstellung von Eischnee oder Schlagsahne scheint uns heute ein gewöhnlicher Prozess zu sein und kaum mit dem Begriff der Entfremdung in irgendeiner Beziehung zu stehen.
Doch durch die modernen Errungenschaften der Technosphäre in Gestalt eines elektrischen Handmixers mit seinem hohen Drehmoment ist die für uns gewohnte Zubereitung von Eischnee etwa so natürlich wie eine zweistündige Fahrt über die Autobahn. Ziehen wir diesen Beitrag aus der Technosphäre ab, haben wir statt dessen, um bei diesem im Vergleich zu bleiben, eine mehrtägige Wanderung zu Fuß vor uns. Eine Erhöhung des Drehmoments bedeutet in diesem Fall also eine Distanzierung von dem akuten Transformationsprozess von Natur in Kultur.
Um sich diesem akuten Transformierungsprozess anzunähern, arbeitet Eva Ammermann auf der Basis historischer Rezepte und bedient sich, vergleichbar dem historisch informierten Musizieren, auch der historischen Arbeitsweisen. So gibt das Rezept für Quittenschnee aus dem Kochbuch von Marcus Looft aus dem Jahr 1756 an, die Masse aus Quitte und Eiklar müsse eine Stunde lang geschlagen werden.
Erst das akute und tätige umsetzen des notwendigen Transformationsprozesses, das einstündige Rühren des Schnees, ermöglicht uns zu erleben, wieviel Energie in Rotation umgesetzt werden muß und wieviel Anstrengung es tatsächlich kostet, das Naturprodukt „Ei“ in das Kulturprodukt „Eischnee“ umzuwandeln.
Astquirle, open source |
Das Küchengerät, das zur Zeit von Marcus Looft statt eines Handmixers oder Schneebesens üblich war, ist ein sog. Astquirl. In der Botanik bezeichnet man als Quirl oder Wirtel einen Knoten, an dem mehrere Blätter oder Äste ansetzen, wie z.B. bei Tannen. Es ist also lediglich nötig, ein entsprechendes Stück aus dem Stamm einer Tanne zu sägen, es zu entrinden und die Zweige, die am Quirl ansetzen, auf die gewünschte Länge zu kürzen. Das Rohmaterial dazu fand Eva Ammermnann zu Beginn des Jahres im Überfluss an den Straßenrändern - moderne Wegwerf-Artikel: ausgediente und entsorgte Weihnachtsbäume.
Eva Ammermann, Tannenbaum, 2017 |
Mit wenig Arbeitsaufwand und korrespondierend mit Ammermanns selbstgewähltem Jahresthema „Enthaltsamkeit“ ist es möglich, ein lang erprobtes, funktionstüchtiges Küchengerät herzustellen, das nur einen Arbeitsschritt von der Grenze zwischen Techno- und Biosphäre entfernt ist. Zudem bietet es, im Gegensatz zu elektrischen Handmixern, einen persönlichen und sinnlichen Wert, mit dem ein Gerät aus der Massenfertigung nicht konkurrieren kann. Hier begegnen uns zum zweiten mal Überluß und Bereicherung in der Enthaltsamkeit.
Mit dem schlichten und ursprünglichen Rührgerät korrespondiert auch eine Videoarbeit: Eine Kamera ist senkrecht in die Schattenrisse der Baumkronen eines der hiesigen Nadelnutzwälder gerichtet und rotiert um die eigene Achse. So wird das noch lebendige, unbearbeitete Rohmaterial zahlloser Astquirle im Video selbst verquirlt.
Dabei entsteht ein interessanter Effekt: der Betrachter glaubt nach einiger Zeit in der Mitte des Bildes eine rotierende Spirale zu erkennen, während die schwarzen, zackigen Silhouetten der Fichtenäste das Aussehen von Fraktalen am Rande einer Mandelbrot- oder Julia-Menge annehmen.
Eva Ammermann, Video-Still, 121) Eier in Schnee, 2017 |
Eine dieser Möglichkeiten ist in einer Fotoreihe dokumentiert, in der die einzelnen Arbeitsschritte der Herstellung von „Eiern im Schnee“ aus einem Fasten-Kochbuch von 1782 nachvollzogen werden können. Hier wird lediglich aus Eiern, Butter, Zucker und Salz ein Gericht bereitet, daß trotz der minimalen Zutaten auf uns überraschend und raffiniert wirkt.
Eva Ammermann, 121) Eier in Schnee, 2017 |
Schließlich möchte ich noch auf zwei weitere Interventionen an der Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Kulturellen hinweisen, die in Eva Ammermanns Arbeiten über das Kochen so plastisch herausgearbeitet ist:
Mit dem Ausbringen von Theaterschnee in den Galerieräumen wird, selbst wenn das Requisit ein künstliches ist, unser Gefühl für das Innen und Außen irritiert. Etwas Wildes aus der nicht kontrollierbaren, natürlichen Außenwelt hat die Grenze zum kulturellen Raum übertreten und läßt den menschlichen Lebensraum scheinbar wieder an die Natur zurückfallen. Wir erleben ganz akut das Gefühl einer Durchdringung beider Sphären, die wir gewohnt sind, sauber voneinander zu trennen.
Eva Ammermann, 121) Eier in Schnee, Ausstellungsansicht, 2017 |
Zum anderen werden wir eingeladen, die Grenze der intellektuellen Anschauung, die ganz und gar der Sphäre des Kulturellen zuzuschlagen ist, mittels Einverleibung zu übertreten: Eva Ammermann serviert, nach dem Quitten-Schnee-Rezept von 1756, angepaßt an das saisonale Angebot, heute im Einstellungsraum Apfel-Schnee.
Eva Ammermann, 121) Eier in Schnee, Ausstellungsansicht, 2017 |
Das Naturprodukt, das bewußt und unter weitgehendem Verzicht auf Hilfsmittel der Technosphäre zu einem Kulturprodukt der Kochkunst transformiert worden ist, verläßt die Regionen der meist nur intellektuell erlebten Kunst und wird ein weiteres mal transformiert und zurück in etwas Natürliches verwandelt:
Denn im innersten Inneren der menschlich kontrollierten Welt der Kultur begegnen wir einer weiteren, ebenfalls gerne verdrängten Grenze zwischen Kultur und Natur: die Grenze zwischen der Außen- und Innenwelt unserer Körper. Denn jenseits dieser Grenze öffnet sich die für uns ebenso wenig zugängliche, fremdartige, geheimnisvolle und wilde Welt natürlicher organischer Funktionen und der Verdauung.
Und damit wünsche ich guten Appetit.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort
Eva Ammermann, Apfelschnee, 2017 |