Die Ausstellung "Großer Roter Fleck - Tanz der Teilchen in den Feldern" von Maria Fisahn im Einstellungsraum e.V. findet statt im Rahmen des Jahresthemas Drehmoment, September 2017
Zu den ältesten künstlich geschaffenen Objekten der Vorgeschichte gehören, neben den „Choppern“, den Vorläufern der Faustkeile, die sogenannten Sphäroide. Dabei handelt es sich um Steine von etwa 3 bis 7 cm Durchmesser, die eine nahezu runde Form aufweisen.
Sie werden heute in der Regel als Schlagsteine interpretiert, die dazu dienten, andere Werkzeuge zuzurichten, doch in manchen Fällen bestehen sie aus Materialien, wie z.B. Löss, die eine Verwendung als Werkzeug sehr unwahrscheinlich machen.
Die Archäologin Marie E.P. König sah in ihnen den ersten Versuch, das Numinose, die dem Menschen gegenüberstehende unsichtbare Kraft, in einem manifest gewordenen Begriff zu objektivieren. Nach ihrer Interpretation stellt die Kugel den ersten Elemantargedanken der menschlichen Kultur dar, die erste konkret gewordene ideelle Äußerung, in der alle Beobachtungen und die daraus abgeleiteten Vorstellungen in einem diffusen Begriff zusammengefasst werden konnten: ein erster Ausdruck der Erfahrung universeller Einheit.
Dieser im Kreis ausgedrückten kosmologischen Einheit aller Erscheinungen begegnen wir auch in den Weltkonzepten und Raumordnungsprinzipien der wenigen noch dokumentierten hierarchielosen Gesellschaften wieder, wie z.B. bei den philippinischen Aeta oder den Buschmännern der Kalahari. Ihre bescheidenen Hütten, ihre Dörfer, ihre Tänze, ihre Vorstellung der Welt und die Zyklen des Lebens haben alle die Form des unsegmetierten Kreises.
In der griechischen, ägyptischen und germanischen Mythologie sowie in der Alchimie erscheint der Kreis als Ouruboros, die Weltenschlange, die sich selbst in den Schanz beißt und mit ihrem Leib nicht nur den ganzen Kosmos umschließt, sondern auch die zyklische Natur der Zeit repräsentiert, also ein Symbol für die Raumzeit und damit für die uns vorstellbare Existenz schlechthin ist.
Eine ähnlich universelle Bedeutung kommt dem Kreis auch in der japanischen Kaligraphie zu, in der das Zeichen Enzo für den Gegenwärtigen Moment steht, für die Erleuchtung, das Universum und die Leere, die großen synonymen Begriffe zen-buddhistischer Welterfahrung.
Man kann also das Kreissymbol durchaus berechtigt als die Urform einer „Theorie of Everything“, verstehen, einen Vorläufer der großen vereinheitlichenden Weltformel, die eines der maßgeblichen Ziele der modernen Physik ist.
Dr. Thomas Piesbergen zu: Maria Fisahn, Großer Roter Fleck, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V. 2017 |
Wenden wir uns der Erscheinungswelt physikalischer Forschungsfelder zu, vor allem denen der Mikro- und der Makrosphäre, begegnen uns auch dort Kreis und Kugel als formale Grundprinzipien:
Die Wahrscheinlichkeitswolken der Elementarteilchen sind kugelförmig, ihre Bewegungen im atomaren Zusammenhang beschreiben Ringbahnen, alle kosmischen Körper, Sterne, Planeten, Schwarze Löcher oder Quasare haben Kugel-, Ring- oder Kreisgestalt. Und auch in der Mesosphäre, in der wir sonst vor allem mit den vielgestaltigen Phänomenen der Emergenz konfrontiert sind, begegnen uns überall Kugel und Kreis als universelle Form- und Bewegungsprinzipien.
Besonders gut wird das Streben zum Kreis deutlich in der Bildung von Ringen auf der Wasseroberfläche: Egal welche Form ein Objekt hat, das man ins Wasser wirft: die von ihm ausgehenden Wellen sind immer ringförmig.
Dennoch leben wir in einer Welt, in der die Symmetrie der uranfänglichen Einheit so viel zahllose Male gebrochen worden ist, daß sie uns in dem Bereich der Mesosphäre als ein fortwährendes, sich nur unzureichend selbst organisierendes Chaos erscheint.
Denn selbst wenn unser Universum, dessen kleinste und größte Erscheinungen Kugelform haben, sich selbst, ausgehend von einem überall zu verortenden Zentrum, in Form einer n-dimensionalen Kugel ausbreitet und sogar unsere Raumzeit nach einem Modell von Stephen Hawking einer Kugel entspricht, bringt es in unserem Wahrnehmungsabschnitt Myriaden unterschiedlichster Formen und Erscheinungen hervor, die wir seit Anbeginn der Kultur mehr oder weniger verzweifelt versuchen in eine uns verständlich Ordnung zu bringen.
Derzeitiger Endpunkt dieser Bemühungen ist die bereits erwähnte Suche nach einer universellen, vereinheitlichenden Weltformel.
Am Anfang dieser Suche werden mit großer Sicherheit Rituale gestanden haben, in denen sich der Mensch seiner Zugehörigkeit zum Kreis des kosmologischen Ganzen, zum All versichert hat, oder, nach den ersten Symmetriebrüchen im Laufe der Entwicklung kosmologischer Konzepte, der Versuch, die verloren gegangene ursprüngliche Einheit wieder herzustellen, den Weltkreis wieder zu schließen.
Ein Instrument, das dazu weltweit Verwendung gefunden hat, ist die Schamanentrommel, eine schlichte runde Rahmentrommel die von sehr unterschiedlicher Größe sein kann. Sie gilt einerseits selbst als Abbild der kosmischen Ordnung, die sich in der Regel kreisförmig um die Sonne oder den Weltenbaum legt, andererseits ist sie, bzw. ihre Schwingung, das Reittier des Schamanen, auf dem er die ehemals mit der menschlichen Sphäre verbundenen, nun aber davon geschiedenen Regionen der Geister und Götter erreichen kann, um entstandenes Ungleichgewicht zwischen den Sphären wieder herzustellen.
Gleichzeitig erlauben die Schwingungen, die von der Trommelmembran ausgehen und mit der sie auf die Körper der Anwesenden einwirkt, die Überwindung der Individuation. Die Gemeinsame Erfahrung von Schwingung und Rhythmus öffnet einen kollektiven Erfahrungsraum. Die Geschichte dieser auf körperlichem Weg erreichten Überwindung der Vereinzelung des Menschen reicht von den gemeinsamen Tänzen hierarchieloser Gesellschaften aus der Frühzeit der Hominiden bis hin zu Phänomenen wie der Loveparade mit ihren entsprechenden massenpsychologischen Dynamiken.
Musik, Rhythmus und Tanz sind imstande, das Gefühl transpersonaler Einheit auszulösen und damit die vereinende Erfahrung einer universellen menschlichen Bedingtheit.
Das vereinende Moment, ob bei rituellen Tänzen der Altsteinzeit, bei militärischer Marschmusik oder in neuzeitlichen Diskotheken, sind die Effekte von Schwingungen.
Diesen Schwingungen begegnen wir ebenfalls wieder auf der Suche nach der großen vereinheitlichenden Theorie der Physik. Die Stringtheorie z.B. postuliert, stark vereinfacht dargestellt, daß der Materie eindimensionale Saiten zugrunde liegen, deren Vibrationen alle Erscheinungen unserer materiellen Welt hervorbringen.
Auch die nichtlokalen Quanteneffekte lassen sich nach der Stringtheorie durch die Eigenschaft von Schwingungen erklären.
Wenn auf einer Geigensaite ein A angestrichen wird, beginnt es nicht am einen Ende der Saite wandert bis zum anderen fort, sondern die Saite schwingt auf ihrer ganzen Länge in der Frequenz des Kammertons. Durch diese Eigenschaft wiederum werden Paradoxien überwunden, die ausgelöst werden durch die Limitierung menschlicher Vernunft auf ein linear raumzeitliches Ursache/Wirkungs-Denken.
Dinge, die auf der beobachtbaren Oberfläche der Welt nach unserem linearen Verständnis eigentlich keine Wechselwirkung miteinander haben dürften, werden beide von ein und demselben Phänomen ausgelöst, einer schwingenden Superstring, und korrelieren deshalb miteinander.
Alle bisher genannten universellen Phänomene finden in den Arbeiten von Maria Fisahn ihre Entsprechungen.
Schon der Titel der Ausstellung: „Großer Roter Fleck - Tanz der Teilchen in den Feldern“ verweist sowohl auf die Dimensionen planetarischen Ausmaßes, speziell auf den Jupiter und seinen gewaltigen roten Fleck, einen Wirbelsturm, der die doppelte Größe der Erde hat, als auch auf die Teilchen der subatomaren Ebene; er verweist auf den Mikro- und den Makrokosmos.
Die Hängung der Membranen ruft ebenfalls die Assoziation mit Planeten wach. Auch die darauf aufgebrachten Farbspuren lassen an kosmische Phänomene denken, wie interstellare Nebel und ähnliche Erscheinungen. Gleichzeitig ähneln sie stark den Spuren, die zerfallende Elemtarteilchen wie Baryonen oder Neutrinos auf Photoplatten hinterlassen.
Bereits auf dieser augenscheinlichen Ebene begegnet uns die grundlegende Opposition von der ursprünglichen Symmetrie des Kreises und dem scheinbar unentwirrbaren Chaos unserer Welt.
Doch wie kommen die bunten Spuren, in denen wir unsere mesosphärische Wirklichkeit gespiegelt sehen können, überhaupt zustande? Mit dieser Frage wird ein Prozess in den Blickwinkel gerückt, der essentieller Bestandteil des Werkkomplexes ist.
Die Materialien, mit denen Maria Fisahn arbeitet sind zunächst die bereits genannten Membrane, die in der Art von Schamanentrommeln auf kreisförmige Rahmen gespannt werden. Darauf werden verschiedene Samen und Kerne ausgebracht. Ihre symbolische Bedeutung liegt auf der Hand: sie verkörpern das noch ruhende Potenzial, die anfänglich noch ungebrochene Symmetrie, aus der etwas Vielgestaltiges, sich Wandelndes, Emergentes hervorgehen wird.
Durch rhythmisches Trommeln wird die Membran in Schwingungen versetzt, wodurch die Kerne wiederum in ihrer Form entsprechende Bewegung versetzt werden. Sie beginnen, über die Membran zu wandern, zu tanzen und sich um sich selbst zu drehen.
Vorher jedoch, um ihre Bewegungsspuren aufzuzeichnen, werden sie mit farbigen Pigmenten eingestäubt.
Durch dieses Vorgehen wird uns auf verschiedenen Ebenen vor Augen geführt, wie aus einem einzigen, allen Entitäten zugrunde liegenden Impuls, in diesem Fall dem monotonen Trommelrhythmus, eine chaotisch anmutende Vielzahl von Erscheinungen hervorgehen kann.
Die Kerne und Samen entwickeln durch ihre Form zwar mitunter ähnliche Bewegungsmuster, doch jeder Einzelne weicht davon ab soweit es nötig ist, um seine Bewegung von denen der anderen zu unterscheiden. So sehen wir sie ungeordnet und eigenwillig durcheinander tanzen, wie auf einem Ameisenhaufen, wohl wissend, daß hinter dem vordergründigen undurchschaubaren Chaos der Ameisen eine strenge, minimalistische Grundordnung steckt, so wie auch das Chaos der tanzenden Teilchen von den gleichförmigen und eintönigen Schwingungen hervorgebracht wird; so wie auch die nach Regeln und Grundkonstanten geordnete Welt der Menschen aus der Ferne wie ein absurdes Durcheinander anmuten muß.
Doch neben dieser abstrakten Ebene erleben wir den Verweis auf ein vereinendes ursächliches Prinzip auch auf einer unmittelbaren sinnlichen Ebene:
Wie in einem schamanistischen Ritual erleben wir die Wirkung des monotonen Trommelns auf unseren Körper und können, dadurch fokussiert, uns der transpersonalen Erfahrung öffnen, die uns der gemeinsam erlebte Rhythmus anbietet.
Gleichzeitig erleben wir bei der Betrachtung der tanzenden Teilchen eine psychologische Übertragung menschlicher Impulse: Unwillkürlich nehmen wir die Dattelkerne, Kichererbsen oder Linsen wahr, als wären es kleine, eigenwillige Tiere, die nach einem unterstellten Willen handeln oder etwas erdulden. Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß sie anthropomorphisiert, und so sehen wir uns selbst in den tanzenden Teilchen gespiegelt und fühlen uns mit ihnen verbunden.
Dieses vorbewußte Gefühl einer Verbindung, verstärkt durch die Wirkung des hypnotischen Trommelrhythmus, kann sogar soweit gehen, daß sich Erfahrungsräume öffnen, in denen unsere linearen Wahrnehmungsroutinen suspendiert werden, und das Gefühl dafür verloren geht, ob man einem Kern mit den Augen folgt oder ihn dadurch nicht vielleicht sogar lenkt. Hier fügt der Logos schnell die Fußnote des beobachterabhängigen Universums ein, das sich seit den Forschungen des Quantenphysikers Erwin Schrödinger als Erklärung für das Zustandekommen der Wirklichkeit als relevante Alternative anbietet.
Maria Fisahn, Großer Roter Fleck, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V. 2017 |
Und tatsächlich gib es diese Interaktion zwischen dem Betrachter und dem Geschehen auf der Membran - allerdings auf ganz anderen Wegen. So haben z.B. Wärme und Luftfeuchtigkeit einen großen Einfluß auf die Eigenschaften der Pigmente und damit auf die Bewegung der Kerne. Diese Aspekte werden ihrerseits beeinflußt durch die Menge des anwesenden Publikums, durch die Nähe der Beobachter oder durch Luftbewegungen, die von ihnen ausgelöst werden.
Wir erleben also im Vollzug des ritualisierten künstlerischen Prozesses eine seltsame Durchdringung von Ursache und Wirkung, von dem Gefühl für eine zugrundeliegende Einheit und einer damit scheinbar unvereinbaren Diversität, von Eigensinn und Gemeinschaft, und werden uns dadurch dem durch alle Zeiten wirkenden Grundimpuls des Menschen bewußt, das empfundene Geworfensein in eine chaotische Wirklichkeit überwinden zu wollen; den geahnten Verlust einer vormaligen universellen Einheit wieder gut zu machen, und die erste, vereinende Ursache aller Erscheinungen zu suchen, sei es in Form einer Unio Mystica, sei es in Form der großen vereinheitlichenden Theorie der modernen Physik.
Das Ziel der Suche und das Bedürfnis nach einem Verständnis der menschlichen Bedingtheit ist seit Anbeginn der Menschheit dasselbe geblieben. Das einzige, was sich fortwährend verändert hat, sind unsere Mittel, danach zu suchen.
ⓒ Thomas Piesbergen / VGWort, September 2017