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Sonntag, 3. Dezember 2017

Zeit, Illusion und Narration - Eröffnungsrede zu Werner A. Schöffels Ausstellung "Elimar & Mariel“ von Dr. Thomas J. Piesbergen

 Galerie Morgenland, Hamburg, 1.12. - 20.12. 2017

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017


Es gibt eine Grundkonstante der Wirklichkeit, die uns, seit der Mensch begonnen hat über die Welt und seine Bedingtheit in ihr zu reflektieren, mehr Rätsel aufgibt, als alles andere: Die Zeit.

Nichts, das so viele Paradoxa aufwirft, wie die Zeit; nichts, das den Menschen in mehr Verzweiflung stürzen kann, als die Zeitlichkeit aller Dinge; nichts, das mehr Verheißung und Schrecken in sich birgt, als die kommende Zeit; nichts, das mehr Sehnsucht und Grauen auslösen kann, als die vergangene Zeit. Nichts, das außerhalb der Zeit ist.

Selbst in der Physik wird inzwischen diskutiert, ob nicht sogar die uns bekannten Naturgesetze nur zeitlich gebundene Erscheinungen sind, die irgendwann ihre Gültigkeit verlieren werden, und das Universum nicht, wie Newton es beschrieb, absolute Aspekte aufweise, sondern, wie Leibniz es postulierte, nur relationalistisch gesehen und verstanden werden könne.

In nahezu allen Kulturen findet man andererseits die Anschauung, Zeit sei eine reine Illusion. Wir begegnen dieser Vorstellung in den fernöstlichen Lehren, in den antiken Überlieferungen in Form des Glaubens an die schicksalhafte Vorbestimmung oder in den überzeitlichen Urbildern des Aristoteles. Sie begegnet uns wieder im Glauben an die ewige Gültigkeit der Mathematik als das inhärente Gesetz des Kosmos und ebenso in Form von Bewegungsgraphen durch zeitlose Konfigurationsräumen, mit denen die Newton´sche Gesetze bei bekannten Anfangsbedingungen Voraussagen über zukünftige Entwicklungen zulassen. Und schließlich brauchen wir diese Anschauung in den Erklärungsmodellen für die rätselhaften Quanteneffekte, deren Korrelation wir derzeit nur dadurch erklären können, indem wir die Zeit als Illusion auffassen.
Die durch Wiederholung isolierten und als überzeitlich verstandenen Muster gelten als der Urgrund der Erscheinungswelt und dementsprechend als wirklicher, als die Welt selbst, in der sich die Erscheinungen ereignen.

Andererseits kennen wir seit Heraklit das Postulat ewiger Wandlung, „panta rhei“, das schließlich in  der Philosophie Henri Bergsons seinen modernen Widerhall gefunden hat.
In seinem Werk Schöpferische Entwicklung schrieb Henri Bergson 1907:
„Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag. So kehrt sich der Verstand, einzig auf das konzentriert, was sich wiederholt, einzig darin befangen, Gleiches mit Gleichem zu verschweißen, vom Schauen der Zeit ab. Ihn widert das Fließende, und er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Wir denken die reale Zeit nicht. Aber wir leben sie, weil das Leben über den Intellekt hinaus schwillt.“

Hier beschreibt Bergson in seiner phänomenologischen Sprache, was der theoretische Physiker Lee Smolin in seinem Buch Im Universum der Zeit, 2014, postuliert: Daß der rationalistische Mensch isolierte Systeme betrachtet und aus ihnen mathematische Muster ableitet, die er als innewohnende Gesetze begreift, sich aber tatsächlich von der Wirklichkeit abwendet und statt ihrer die erkannten Muster als Wirklichkeit versteht. „Der scheinbar wesentlichste Aspekt unserer Welterfahrung - nämlich dass die Welt sich als eine Abfolge gegenwärtiger Augenblicke darstellt - fehlt in unserem erfolgreichsten Paradigma der Naturbeschreibung.“ - gemeint sind die Newton´schen Bewegungsgesetze.
Er bezeichnet dieses Phänomen als die „Austreibung der Zeit“, deren Symptom es ist, daß wir die Landkarte mit der Landschaft verwechseln. Smolin selbst hingegen postuliert, wie Bergson, daß die Zeit die einzige kosmische Grundkonstante der Existenz schlechthin sei und die von uns erkannten Muster nur Illusion.

So unentschieden der Diskurs über die Zeit über die Jahrtausende geblieben ist, so divergent ist auch unser Erleben in der Zeit und unsere Anschauung des Fließens der Zeit, denn wir selbst sind nur Zeit, gegenwärtig erlebte, verstreichende Zeit.

In Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt Marcel Proust über die Gegenwärtigkeit der Realität: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein Krug, der mit Düften, Lauten, Vorhaben und Atmosphären gefüllt ist. Was wir Realität nennen, ist ein gewisser Zusammenhang zwischen diesen Empfindungen und den Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.“
Doch diese Erinnerungen, von denen er spricht, sind im Sinne von Bergson zugleich das, was uns möglich macht, das Erlebte sinnvoll einzuordnen und zu beurteilen, in dem wir einen Bezug zwischen dem Erinnerten und dem Gegenwärtigen herstellen und daraus eine Narration entwickeln.

So wird das Gegenwärtige erst relevant durch das Nicht-Mehr-Existente. Gleichzeitig aber wird das Erinnerte, Eingeordnete, Gewesene und deshalb als „wahr“ aufgefasste, erst durch das ungeordnete, akute, formlose Jetzt aus dem Nichts der Vergangenheit hervorgeholt.
In unserer Wahrnehmung ereignet sich also eine ständige Überlagerung von erinnerten Mustern und erlebtem, ungefiltertem Jetzt, die wir unablässig in Abgleich miteinander bringen, und es ist uns nicht möglich, endgültig zu entscheiden, welcher der beiden Aspekte „wahr“ und welcher Illusion ist.
Im 8. Jhd. beschrieb der Zen-Meister Yaoshan Weiyan dieses Dilemma des Geistes, der versucht, das Wesen der Zeit zu erfassen, mit den Worten: „Sein-Zeit ist drei Köpfe und acht Ellenbogen.“

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017

Werner Anton Schöffel beschäftigt sich in den Arbeiten seiner Ausstellung „Elimar & Mariel“ mit zwei Aspekten unserer Lebenswelt, in denen sich diese beiden unterschiedlichen Konzepte der Zeitwahrnehmung auf markante Weise überschneiden:
Das Sujet von Schöffels Arbeiten ist die Stadtarchitektur Eimsbüttels. Doch wie hängt urbane Architektur mit der Zeit zusammen? In dem Titel seines Hauptwerks faßt der Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion die zwei entgegengesetzten zeitlichen Eigenschaften der Architektur ausgezeichnet zusammen mit dem Begriff „Die ewige Gegenwart“.

Einerseits repräsentiert die Architektur einen manifest gewordenen gesellschaftlichen Status Quo. Wir geben unseren Vorstellungen von Hierarchie und sozialer Segmentierung, von Kontrolle, Zugehörigkeit und Abgrenzung mit der Architektur konkrete Formen.  In dieser Gestalt können sich unsere Vorstellungen als Elemente non-verbaler Kommunikation reproduzieren und gewinnen dadurch eine überzeitliche Dimension. Es sind steingewordene Muster unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die durch die Zeit unverändert bleiben und sich den folgenden Generationen mitteilen und ihnen ihren Stempel aufdrücken können.

Andererseits wird die Architektur erst wirksam durch unser konkretes gegenwärtiges Erleben und Handeln sowie durch die Erinnerungskomplexe, die von ihr angetriggert werden. Oft werden deshalb uns überlieferte Elemente der non-verbalen Kommunikation wegen eines gewandelten Kontextes oder der subjektiven Einfärbung unserer Wahrnehmung nicht mehr verstanden oder in einem zeitgenössischen oder subjektiven Sinne umgedeutet. So ragen zwar die manifest gewordenen Muster durch die Zeit, haben aber ihre vormals als überzeitlich verstandene Bedeutung durch die Kollision mit der Gegenwart eingebüßt. Sie wirken zwar fort, aber auf eine andere Art, als ursprünglich konzipiert.

Der andere Aspekt von Werner A. Schöffels Arbeit, in dem sich die beiden Zeitkonzepte überschneiden, ist das Medium der Photographie selbst.
In Die helle Kammer von Roland Barthes heißt es: „Wichtig ist, daß das photographische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und das die Zeugenschaft der Photographie sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Widergabe.“
In diesem Zitat begegnen wir dem Gedanken Bergsons wieder, der vom menschlichen Geist sagt, er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Denn das von Barthes genannte Bestätigungsvermögen ist nichts anderes, als Bergsons Verknüpfung von Gleichem mit Gleichem, der Abgleich von Mustern und schließlich die Ableitung einer Narration.

Doch was wird durch die Photographie tatsächlich bezeugt? Die Gegenwart kann nur individuell und subjektiv erlebt werden. Aus dieser Quelle speist sich unser Wirklichkeitssinn. Wer noch nicht mit der konstanten digitalen Dokumentation und Inszenierung des Alltags aufgewachsen ist, kennt sicher den Moment, in dem er erstmals eine Photographie von einem lange zurückliegenden Ereignis sieht. Fast immer fällt es schwer, das dichte, vielschichtig Erinnerte mit dem flachen Bild in Einklang zu bringen. Insbesondere gilt das für Erinnerungen aus der Kindheit, die, wie kaum etwas anderes, so wie Marcel Proust es ausdrückte, mit Düften, Lauten, Vorhaben und Atmosphären gefüllt sind, die sich nicht abbilden lassen.
Es stellt sich die Frage: Ist die angesichts einer fließenden Gegenwart ständig neu belebte und überformte Erinnerung, die unser Erleben und Wahrnehmen, und damit ein Bewußtsein unserer Selbst erst ermöglicht, wirklicher, oder ist es das „objektive“ Abbild, das überzeitliche Muster?

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017

Diese beiden Komplexe treten in den Arbeiten der Ausstellung „Elimar und Mariel“ in einen vielschichtigen Dialog und werden um eine konkret dargestellt zeitliche Dimension ergänzt:
In den Exponaten werden jeweils zwei eingefrorene Zeitfenster, die denselben Ort zeigen, einander gegenübergestellt, miteinander verschmolzen oder übereinander geschoben.

So verschieden die Formen des Erinnerns sind, so unterschiedlich sind auch die Formen der In-Bezug-Setzung, die W.A. Schöffel gewählt hat.

Wir kennen z.B. das abstrakte Erinnern, das die verschiedenen Erinnerungsbilder bereits zu einer Karte der Vergangenheit zusammengeschoben hat, das aktive Erinnern, mit dem wir Ereignisse gezielt wieder hervorholen, das surreale Déjà-vu in dem sich nicht zu verortende Erinnerungen über die Gegenwart legen oder den Flashback, der uns unvermittelt mit einer derartigen Intensität in einen vergangenen Moment zurückreißt, daß es uns scheint, wir würden diesen Moment tatsächlich noch ein zweites mal mit all seinen Facetten erleben.

Um dieser Vielfalt Rechnung zu tragen, hat W.A. Schöffel manche Bilder lediglich in räumliche Opposition gebracht, sodaß wir ihre Zugehörigkeit erst entdecken müssen. Andere Bilder sind mit Galgen und größerem Abstand voreinander gehängt, sodaß wir mit dem Doppelbild spielen können, es zur Deckung bringen oder wieder auseinander gleiten lassen können. Andere Bilder wiederum überlagern sich unmittelbar, sodaß ein flimmerndes, transparent anmutendes Gewebe entsteht. Und schließlich gibt es Bilder, in denen fragmentarisch wie unsere Erinnerungen, einzelne Elemente historischer Bilder in die Zeit- und Bildebene der aktuellen Photographie einbrechen und sie ersetzen.

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017


Was W.A. Schöffel in den Arbeiten dieses Werkkomplexes ganz bewußt vermeidet, ist die Narration. Es wäre natürlich sehr gefällig, zwischen dem Vergangenen und dem Heutigen Verbindungen zu knüpfen und die Bilder so zu inszenieren, daß sie geschlossene Entwicklungen und Erzählstränge nahelegen. Doch wie legitim wären solche Narrationen und auf welcher Wirklichkeitsebene spielten sie sich ab?

Wie unterschiedlich empfinden wir die zeitliche Distanz zwischen den Landmarken unserer eigenen Lebensphasen? Welch massiver Qualitätswechsel im Vergleich mit unseren eigenen Erinnerungen findet statt, wenn wir uns Ereignissen zuwenden, die sich vor unserer Geburt abgespielt haben?
Für mich z.B. sind die 70er Jahre ein solches dichtes, traumhaftes Gespinnst Proust´scher Ausprägung, zum Bersten gefüllt mit Farben, Texturen, Formgefühl, Stimmungen, Gerüchen, Empfindungen, Emotionen und imaginierten Welten, die sich in die faktische Lebenswirklichkeit eingewoben haben. Die 60er Jahre sind im Gegensatz bereits ein Sammelsurium von Schwarzweiß-Photographien, Plattengencovern, Kinofilmen und Zeitungsausschnitten. Daß der zweite Weltkrieg kaum 25 Jahre vor meiner Geburt geendet hat, während mein Abitur bereits 28 Jahre zurückliegt, ist für meinen gegenwärtigen Verstand zwar eine schlichte Tatsache, für meinen subjektiven Wirklichkeitssinn aber noch immer kaum vorstellbar.

Diese Zeitfenster miteinander zu verknüpfen würde also bedeuten, zu imaginieren und aus der subjektiven Erfahrungswelt hinauszugreifen in die Konstruktion einer nicht mehr erfahrbaren Geschichte, so zu tun, als gäbe es nicht den Spalt zwischen fließender Gegenwart und erstarrtem Muster. Doch geht es W.A. Schöffel eben nicht um das vordergründige Geschichten erzählen, sondern darum, diese vielfältigen Prozesse des Abgleichs spürbar zu machen und sich dadurch unserer Orientierung in der Zeit zu nähern. Deshalb bleiben alle Imagination, alle Konstruktion möglicher Erzählstränge und alles Zusammenfügen dem Betrachter überlassen.

In diesem Zusammenhang ist auch der Titel der Ausstellung zu interpretieren: Elimar, dem mutmaßlichen sächsischen Namensgeber Eimsbüttels, ist ein Anagramm zur Seite gestellt, Mariel, eine fiktive Frau, ein imaginiertes Gegenüber, durch das Narration überhaupt erst entstehen kann. Doch die Autoren dieser Narration sind wir selbst.

So heißt es schließlich auch in dem Vierzeiler, der der Einladungskarte zur Ausstellung beigefügt ist:

Wie es war,
wie es ist
und es scheint,
wie jeder meint

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VGWort