Anik Lazar, Kollektive Deviationen 1, 2018 |
Fragt man nach der Bedingtheit des Menschen, eröffnet sich von selbst das Spannungsfeld zwischen dem Individuum und seiner gesellschaftlichen Einbindung. Einerseits sehen wir den Menschen als Horden- oder Herdentier, eng eingewoben in sein Kollektiv, von dem er psychisch sowie physisch abhängig ist. Uns ist auch die Vorstellung der Realität als soziale Konstruktion vertraut, als Produkt der normativen Ordnungsmacht des Kollektivs.
Andererseits sehen wir seit Aristoteles das Glück des Menschen in der freien Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten, den Menschen also als Individuum, an dessen Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sich eine Gesellschaft zu messen hat.
In der philosophischen Debatte um das Glück, die in den letzten Jahrzehnten verstärkt geführt wird, werden immer wieder die Konzepte vom Glück als erfolgreicher Befriedigung individueller Bedürfnisse denen gegenübergestellt, die das selbstlose altruistische Handeln in den Mittelpunkt stellen. Diese beiden Perspektiven scheinen einander auszuschließen.
Im ethnologischen und soziologischen Material können wir ein breites Spektrum verschiedener sozio-politischer Organisationsprinzipien finden, die zwischen diesen beiden Polen changieren.
Auf der einen Seite stehen Extreme wie radikal libertäre Gruppierungen in Nordamerika, die jeglichen sozialen Überbau kategorisch ablehnen, und die Autonomie des Einzelnen über alles stellen. Am anderen Ende der Skala stehen verschiedene indigene Völker in Asien, Amerika oder Afrika, in denen alles individuelle Streben aufgeht im Dienst am Kollektiv, manchmal soweit gehend, daß der individuelle Vorteil auf Kosten des Kollektivs gleichbedeutend ist mit dem sozialen Tod, dem der physische meist notgedrungen folgt.
Wie sehr die jeweiligen Prinzipien auf individuelles Handeln wirken, zeigt eine vergleichende Studie der Ankave und Baruya in Neu-Guinea. Die Ankave kennen kaum soziale Kontrollen. Jedem Stammesmitglied wird ein hohes Maß an Freiheit und Eigensinn zugebilligt.
Bei den Baruya hingegen wird das Individuum durch zahlreiche Institutionen und Riten ununterbrochen an die Gemeinschaft gebunden. Beide Extreme erzeugen eine spezifische Form von Gewalt. Während bei den Ankave die Verbrechensrate ungewöhnlich hoch ist, sich also die Gewalt aufgrund mangelnder Kontrolle nach außen richtet, so gibt es bei den Baruya nahezu keinerlei Verbrechen, dafür aber eine ungewöhnlich hohe Suizidrate. Bei den Ankave wiederum geht diese gegen null.
Diese Gegenüberstellung macht deutlich: Der Mensch ist, um ein geschütztes, sinnvolles und erfülltes Leben zu führen, auf beide Aspekte angewiesen: auf seine individuelle Freiheit genauso wie auf ein Kollektiv, daß ihn schützt und seinem Handeln einen Sinn gibt, der über den reinen Eigennutz hinaus geht.
Glaubt man der medialen Oberfläche unserer Gegenwartskultur, so könnte man die Überzeugung gewinnen, der Mensch in den heutigen post-industriellen Kontexten gestalte sein Leben selbstbestimmt nach den Idealen der Freiheit, der Unabhängigkeit und der Individualität.
Vor allem in der Werbung, die einen bedeutenden Spiegel zeitgeistigen Selbstverständnisses und ein Abbild von Sehnsüchten darstellt, begegnen uns als Individualisten ausgewiesene Figuren, die gegen den Strom schwimmen, ihre Freiheit und ihren Eigensinn feiern, stolz auf ihre Ecken und Kanten sind; die sich rauchend vor der Tür begegnen, um dort das wahre Leben zu genießen, während die anderen drinnen wie die Schafe dem Mainstream folgen; die mit dem Schlachtruf „Liberté Toujours!“ ganz bewußt im Hier und Jetzt Grenzen überschreiten und Momente der Freiheit auskosten; die sich, perfekt ausgestattet, in der Bergwelt elementaren Herausforderungen stellen, um sich selbst zu begegnen; oder die ihre Individualität und Unabhängigkeit mit einem neuen Vierradantrieb vor einer unberührten Naturkulisse ausleben. Wo man auch hinschaut, es gilt das Gebot: Spüre deine Einzigartigkeit!
Gleichzeitig wird auch der Gemeinschaft von Individualisten gehuldigt, die sich mit der Gitarre am Strand, mit dem Bier am Hafen, mit dem Grill auf dem Hochhausdach, oder auf dem Sperrmüllsofa am Straßenrand zusammenfinden, um ihrem freigeistigen Lebensgefühl einen angemessenen Erfahrungsraum zu bieten.
Doch unternimmt man einen Realitätsabgleich, wird rasch eine massive Diskrepanz deutlich. Schon die äußerlichen Kennzeichen des in der Regel männlichen modernen „Individualisten“ sind stereotyp: Um seine unbeugsame Männlichkeit zu demonstrieren, trägt er derzeit einen prächtigen Patriarchen-Vollbart, oder bereits den wieder am Modehimmel aufziehenden Schnurrbart. Er trägt Tätowierungen und Jack Wolfskin-Jacken, Messengerbags aus LKW-Plane und auf dem Kopf im Sommer einen Trilby, im Winter eine Wollmütze. An seiner Seite hat er zudem gerne als lebendiges Accessoire einen Hund. Ist der Individualist sportlich, dann fährt er Rennrad, Skateboard oder geht Kite-Surfen.
Tatsächlich ist also das, was uns von den medialen Oberflächen als „individuell“ präsentiert wird, und was uns im Straßenbild im Überfluß und mit nur geringfügigen Variationen begegnet, ausgesprochen stark normiert. Dennoch scheint die Anpassung an diese stark normierte und falsch etikettierte Norm sehr effektiv gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen.
Wie ist es nun faktisch um das heraufbeschworene unmittelbare Erleben der Gegenwart bestellt, um das "Hier und Jetzt", in dem uns das Role Modell des zeitgenössischen Individualisten präsentiert wird?
Hier genügt ein Blick auf den täglichen Umgang mit Mobiltelefon, Facebook und Instagram, und es wird deutlich: die Dokumentation des Erlebnisses und seine anschließende Aufbereitung und Präsentation legen sich heute schon so deutlich über das Erlebnis selbst, daß die akute Gegenwart dahinter weitgehend verschwindet. Ein Umstand, der inzwischen schon so sehr Allgemeinplatz geworden ist, daß man bereits als aus der Zeit gefallen erscheint, wenn man ihn anmerkt.
Wie steht es aber mit der Einbindung in die Gemeinschaft, mit dem Zugehörigkeitsgefühl? Denn wenn das, was sich als Individualismus maskiert, nichts anderes ist als Konformität, fühlt sich der Einzelne dann nicht wenigstens geborgen im Kollektiv?
Die psychotherapeutische Praxis offenbart leider ein entgegengesetztes Bild. Die Psychologin Bettina Alberti stellt in ihrem Buch „Seelische Trümmer“ fest, daß in den 60er und 70er Jahren für Jugendliche die Peergroup noch der wichtigste Ort der Gemeinschaftserfahrung war; der Ort, an den man vor den Ausgrenzungserfahrungen in Familie und Schule flüchten konnte.
Heute hingegen stellt gerade die Peergroup den Ort dar, an dem sozialer Druck und Ausgrenzung erfahren wird. Durch die zahllosen Filter herkömmlicher und digitaler Medien ist das Bild des Menschen so idealisiert und verzerrt, daß es nahezu unmöglich ist, das Selbstbild damit in Deckung zu bringen, wodurch das Gefühl der Scham entsteht. Gleichzeitig wird eine völlig überzogene Erwartungshaltung gegenüber den Mitmenschen erzeugt. So entsteht einerseits das Gefühl, unzureichend zu sein, gleichzeitig richtet sich aber der Blick gnadenlos auf die Makel der anderen. Die Begegnung mit dem anderen wird zur beschämenden, isolierenden Konfrontation mit den eigenen und den fremden Unzulänglichkeiten.
Als vorgeblicher Ausweg bieten sich in dieser Situation die sog. „sozialen“ Netzwerke an. Sie ermöglichen, das eigene Leben als eine optimierte, geupdatete 2.0-Version zu präsentieren, mit der man sich an eine soziale Öffentlichkeit wagen darf. Statt der sozialen Bestätigung durch ein positives gemeinsames Erleben füttert man sein Ego mit der Menge von „Likes“ und „Freundschaftsanfragen“.
Statt des Erlebens von Gemeinschaft, erlebt man also, gedeckt von einer digitalen Maske, die Begegnung mit anderen digitalen Masken in einer isolierten Situation am Interface, während unmittelbare soziale Kontakte als angstbehaftet, ungeschützt und unkontrollierbar empfunden werden. Indem der Mensch vor dem akuten sozialen Miteinander zurückschreckt und über den digitalen Weg Gemeinschaft sucht, entfernt er sich de facto von ihr und begibt sich in eine selbst-entfremdete psychische Isolation.
Diese soziale Atomisierung findet ihre Entsprechung in den neoliberalen Tendenzen der Protagonisten der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“, die in der ersten Dekade des 21. Jhd. unter dem Schlagwort der „Ich-AG“ ihr soziales Konzept offenlegten: der Mensch als ein sozial isoliertes Produkt reduziert auf seinen Marktwert.
Bleibt schließlich noch zu untersuchen, wie es um die Realität des Schlagworts Freiheit bestellt ist. Hier möchte ich zwei Aspekte der Freiheit beleuchten: Einerseits die Freiheit des Handelns und damit die Frage nach den Grenzen oder der Grenzenlosigkeit der Handlungsoptionen - das landläufige Verständnis von Freiheit.
Ein anderer Aspekt der Freiheit ist allerdings die Freiheit, von sich selbst nur so viel zu offenbaren, wie man möchte, also die Freiheit über die eigene Privatsphäre und über den Informationsfluß des Einzelnen zur Umwelt zu verfügen. Dieser Aspekt ist gerade in den letzten Wochen einmal mehr zum Anlass des Kummers und der medialen Empörung geworden, als Facebook und die Deutsche Post sich des massiven Datenmißbrauchs schuldig machten.
Dennoch nutzen weiterhin Milliarden von Menschen bedenkenlos die Dienste von Google & Co. und machen sich dadurch freiwillig bis in die intimsten Details transparent. Ihre alltäglichen Wege werden aufgezeichnet, ihre Einkäufe, ihre sozialen Kontakte, ihr politisches Interesse, ihre sexuellen Vorlieben, ihre Sehnsüchte und Zukunftspläne. Doch in dem Moment, in dem man sich so tiefgreifend offenbart, degradiert man sich selbst zur verkäuflichen Datenmenge, zu einem nahezu vollkommen berechenbaren Akteur und Konsumenten, dessen Handlungen entsprechend perfekt mit kommerziellen Angeboten aufgefangen und kanalisiert werden können.
Wie ist es da noch um die Handlungsoptionen als Gradmesser von Freiheit bestellt?
Die Wirtschaft strebt nach permanentem Wachstum, ihre Verkaufsstrategien entsprechend nach ständig wachsender Effizienz. Das Zauberwort der Stunde lautet „Mustererkennung“. Die Algorithmen der großen Konzerne sind längst die maßgebliche Quelle der Marktforschung geworden und es werden ständig neue Profile und Profiltypen errechnet, um möglichst alle individuellen Bedürfnisse zu bündeln und ökonomisch verwertbar zu machen. Dadurch findet eine systembedingte Stereotypisierung statt.
Gleichzeitig werden alle Chiffren des Zeitgeistes assimiliert, um jede nur erdenkliche Form von Jugend- oder Subkultur unmittelbar mit einem perfekt angepassten Set an Produkten zu versorgen. Alle Begriffe oder Symbole einer möglicherweise systemkritischen Haltung werden von dem System vereinnahmt, sobald sich die Subkulturen in signifikantem Maße der Mittel des Systems bedienen und dadurch sichtbar werden.
Sobald also Freiheit innerhalb der Parameter gesucht wird, die von den ökonomischen Verwertungsstrukturen unserer Gesellschaft gewährt werden, führt diese Suche immer in die Sackgasse von Kontrolle und Normierung, also zu einer Begrenzung der Freiheit, genauso wie die Suche nach Gemeinschaft innerhalb der von der digitalen Öffentlichkeit angebotenen Parameter zu einer zunehmenden Isolation führt.
Doch wie ist es möglich, daß sich, obwohl diese Effekte bekannt sind oder wenigstens erahnt werden, kein veritabler, breiter Widerstand dagegen formiert? Schuld daran ist die Behauptung, die Entwicklung sei „alternativlos“, es gäbe keine Wendemöglichkeit. Diese defätistische Haltung ist es, die selbst Menschen, in denen sich starker Unwillen regt, dazu veranlasst, trotz allem Google zu benutzen, sich orten zu lassen oder alle sozialen Kontakte auf WhatsApp auslesbar zu machen.
Den zentralen Irrtum, der diesem Verhalten zugrunde liegt, isolierte der Mathematiker und Logiker Kurt Gödel 1931 mit seinem Unvollständigkeitssatz, der sich auf alle weltbeschreibenden, formalen Systeme übertragen läßt: die Verwechslung der Karte mit der Landschaft, also die Behauptung, die Wirklichkeit ließe sich vollständig in einem Modell abbilden und innerhalb dieses Modells begründen.
Alternativlos ist der Austritt aus dem System nur, wenn man innerhalb der Parameter des Systems denkt. Sobald aber offenbar wird, daß kein Modell oder System imstande ist, den alleinigen Anspruch auf Wirklichkeit zu rechtfertigen, muß von einer tieferen Wirklichkeit ausgegangen werden, die nicht von dem System erfasst wird; von der man, mit den Worten Wittgensteins, schweigen sollte, die aber tatsächlich die einzig essentielle ist.
Mit diesem Schritt aus dem post-industriellen Realitätslabyrinth mit seinem Anspruch auf Alleingültigkeit beschäftigt sich Anik Lazar in ihrem Projekt „KOLLEKTIVE DEVIATIONEN“.
Auslöser war ein Moment, in dem sie sich mit einem Navigationssystem ihres Mobiltelefons zu orientieren versuchte und mit einem Mal keine Verbindung zum Netz mehr hatte. Nach wie vor war ihr eigener, per GPS georteter Standort als weiß-blau pulsierender Punkt auf dem Display zu sehen, sowie die blaue Linie, die die vorgeschlagene Reiseroute markierte. Verschwunden war jedoch die Karte. Statt dessen erschien auf dem Display ein feines, graues Raster.
Die Karte, das Modell der Wirklichkeit war erloschen und das pulsierende Individuum war von einem unerwarteten Möglichkeitsraum umgeben, der eine akute Begegnung mit der Wirklichkeit nicht nur erlaubte, sondern regelrecht erzwang, und gleichzeitig dazu verlockte, in die terra incognita des unbekannten Raums einzudringen, in der sich keine von der Karte nahegelegten Entscheidungen anboten, sondern das Individuum zu einem kreativen Prozess der Wegfindung angehalten war.
In den Bildern der Serie „KOLLEKTIVE DEVIATIONEN“ finden wir alle Elemente dieses auslösenden Moments wieder: Die Rahmen mit ihren abgerundeten Ecken greifen das Design des Smartphones auf. Wir sehen die blauen Linien der vom System verordneten Routen und die GPS-Ortungspunkte. Die grau gerasterte Matrix findet ihre Entsprechung in dem billigen kleinkarierten Recycling-Rechenpapier.
Dieses Papier transportiert bereits zwei Bezüge zu den vorangegangenen Gedanken. Zunächst steht es natürlich für das grundlegendste und in sich geschlossenste System der Weltbeschreibung, die Mathematik, an deren Fundamenten Kurt Gödel mit seinem Unvollständigkeitssatz gerüttelt hat. Gleichzeitig aber löst dieses Papier in den meisten Rezipienten sicherlich einen gewissen Fluchtreflex aus, eine Aufforderung zur Deviation, die unter den für gewöhnlich restriktiven Bedingungen des Mathematikunterrichts meist in Form von Kritzeleien kanalisiert worden ist, Deviationen in Tinte und Graphit.
Der GPS-Ortungspunkt, gelöst von der Routenplanung, gewinnt ebenfalls an Qualität. Wir sehen ihn nicht mehr nur als funktionale Standortbestimmung, sondern als eine unabhängige Entität, die zwar nach wie vor von dem überwachenden Auge des Satelliten gesehen wird, aber durch Farbe und Gestalt nun den Eindruck erweckt, sie schaue zurück, wie ein orientalisches Nazar-Amulett, das den bösen Blick abwenden soll.
Das Individuum wird zwar noch gesehen, aber es hat sich aus den auslesbaren und damit für die Mustererkennung verwertbaren Zusammenhängen gelöst. Seine Wahlmöglichkeit kann demzufolge nicht mehr terminiert werden von den Parametern des Systems, sondern nur durch eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt, die wir jenseits der grauen Matrix imaginieren.
Für das Individuum besteht also die Option, sich aus der Freiheitsbegrenzung durch ökonomische Verwertungsstrukturen zu lösen, in dem es sich von dem gesellschaftlich propagierten Modell der Wirklichkeit löst und so den Raum für tatsächlich individuelle Entscheidungen öffnet. In Anik Lazars Arbeit wird diese Möglichkeit mit der Metapher der Deviation im Straßenverkehr, der Abweichung vom errechneten Kurs ausgedrückt, mit der das Individuum sich seine Autonomie zurück erobert.
Nun stellt sich natürlich die Frage nach dem Kollektiv, und mit dieser Frage betreten wir die Sphäre der Utopie als Zielort.
Auf vielen der Bilder ist die Situation inszeniert, die sich ergäbe, wenn verschiedene, vom Kurs abweichende Individuen miteinander derart vernetzt wären, daß sie nicht nur den eigenen Standort, sondern auch den der anderen sehen könnten - und zwar nicht innerhalb des vorgegebenen Bezugssystems der Karte, sondern in dem grauen Möglichkeitsraum.
Die so entstehenden Anzeigen ergäben Konstellationen von Ortungspunkten, die an Sternbilder erinnern, die traditionell zur Navigation benutzt wurden. Doch diese Sternbilder entstammen keinem überlieferten Bezugssystem, sondern werden aus der unmittelbaren Interaktion gebildet und müssen erst noch mit Bedeutung gefüllt werden. Die Interaktion der Individuen wird zu einem Spiel, in dem sich die Spieler gemeinsam auf die Suche nach den Regeln machen, nach denen sie es spielen möchten.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den normierten und normierenden Übereinkünften unserer Gesellschaft: Während in ihr das Individuum lediglich ein vorgefertigtes Sortiment von möglichen Entscheidungen innerhalb eines fixierten Rahmens angeboten bekommt, von dessen Gestaltung das eigene Leben vollständig entkoppelt ist, werden im Vollzug der kollektiven Deviationen die Übereinkünfte und damit die Entscheidungsmöglichkeiten aus dem akuten, sich selbst organisierenden Handeln heraus entwickelt. In einem solchen Prozess und Rahmen lösen sich auch die Widersprüche zwischen der Selbstverwirklichung und Freiheit des Individuums und dem Wohl der Anderen auf.
In seinem Buch „Der Sinn des Lebens“ vergleicht der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton diese Art des Handelns mit einer improvisierenden Jazzband:
Die Musiker sind in ihrem musikalischen Ausdruck vollkommen frei, stellen sich aber gleichzeitig in den Dienst eines musikalischen Ganzen, das mehr ist, als die Summe seiner Teile. Stützt ein Musiker mit seinem Beitrag den freien musikalischen Ausdruck der anderen, schafft er für sich dadurch gleichzeitig das Fundament, das ihm rückwirkend ermöglicht, sein eigenes Spiel weiter zu entwickeln. Dadurch inspiriert er wiederum die anderen und gibt ihnen Anhaltspunkte zur ihrer musikalischen Selbstverwirklichung.
Die Kollektive Deviation erschließt uns also einen utopischen Denkraum, in dem sich freie, individuelle Akteure, unabhängig von den Parametern post-industrieller Verwertungsmuster, in einen offenen und freiwilligen Zusammenhang der Selbstorganisation begeben, in einen Zusammenhang, der sowohl die aristotelische Entfaltung des Individuums, als auch die Geborgenheit und den Schutz des sinnstiftenden Kollektivs bietet.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2018
Andererseits sehen wir seit Aristoteles das Glück des Menschen in der freien Entfaltung seiner individuellen Fähigkeiten, den Menschen also als Individuum, an dessen Möglichkeit zur Selbstverwirklichung sich eine Gesellschaft zu messen hat.
In der philosophischen Debatte um das Glück, die in den letzten Jahrzehnten verstärkt geführt wird, werden immer wieder die Konzepte vom Glück als erfolgreicher Befriedigung individueller Bedürfnisse denen gegenübergestellt, die das selbstlose altruistische Handeln in den Mittelpunkt stellen. Diese beiden Perspektiven scheinen einander auszuschließen.
Im ethnologischen und soziologischen Material können wir ein breites Spektrum verschiedener sozio-politischer Organisationsprinzipien finden, die zwischen diesen beiden Polen changieren.
Auf der einen Seite stehen Extreme wie radikal libertäre Gruppierungen in Nordamerika, die jeglichen sozialen Überbau kategorisch ablehnen, und die Autonomie des Einzelnen über alles stellen. Am anderen Ende der Skala stehen verschiedene indigene Völker in Asien, Amerika oder Afrika, in denen alles individuelle Streben aufgeht im Dienst am Kollektiv, manchmal soweit gehend, daß der individuelle Vorteil auf Kosten des Kollektivs gleichbedeutend ist mit dem sozialen Tod, dem der physische meist notgedrungen folgt.
Wie sehr die jeweiligen Prinzipien auf individuelles Handeln wirken, zeigt eine vergleichende Studie der Ankave und Baruya in Neu-Guinea. Die Ankave kennen kaum soziale Kontrollen. Jedem Stammesmitglied wird ein hohes Maß an Freiheit und Eigensinn zugebilligt.
Bei den Baruya hingegen wird das Individuum durch zahlreiche Institutionen und Riten ununterbrochen an die Gemeinschaft gebunden. Beide Extreme erzeugen eine spezifische Form von Gewalt. Während bei den Ankave die Verbrechensrate ungewöhnlich hoch ist, sich also die Gewalt aufgrund mangelnder Kontrolle nach außen richtet, so gibt es bei den Baruya nahezu keinerlei Verbrechen, dafür aber eine ungewöhnlich hohe Suizidrate. Bei den Ankave wiederum geht diese gegen null.
Diese Gegenüberstellung macht deutlich: Der Mensch ist, um ein geschütztes, sinnvolles und erfülltes Leben zu führen, auf beide Aspekte angewiesen: auf seine individuelle Freiheit genauso wie auf ein Kollektiv, daß ihn schützt und seinem Handeln einen Sinn gibt, der über den reinen Eigennutz hinaus geht.
Glaubt man der medialen Oberfläche unserer Gegenwartskultur, so könnte man die Überzeugung gewinnen, der Mensch in den heutigen post-industriellen Kontexten gestalte sein Leben selbstbestimmt nach den Idealen der Freiheit, der Unabhängigkeit und der Individualität.
Vor allem in der Werbung, die einen bedeutenden Spiegel zeitgeistigen Selbstverständnisses und ein Abbild von Sehnsüchten darstellt, begegnen uns als Individualisten ausgewiesene Figuren, die gegen den Strom schwimmen, ihre Freiheit und ihren Eigensinn feiern, stolz auf ihre Ecken und Kanten sind; die sich rauchend vor der Tür begegnen, um dort das wahre Leben zu genießen, während die anderen drinnen wie die Schafe dem Mainstream folgen; die mit dem Schlachtruf „Liberté Toujours!“ ganz bewußt im Hier und Jetzt Grenzen überschreiten und Momente der Freiheit auskosten; die sich, perfekt ausgestattet, in der Bergwelt elementaren Herausforderungen stellen, um sich selbst zu begegnen; oder die ihre Individualität und Unabhängigkeit mit einem neuen Vierradantrieb vor einer unberührten Naturkulisse ausleben. Wo man auch hinschaut, es gilt das Gebot: Spüre deine Einzigartigkeit!
Gleichzeitig wird auch der Gemeinschaft von Individualisten gehuldigt, die sich mit der Gitarre am Strand, mit dem Bier am Hafen, mit dem Grill auf dem Hochhausdach, oder auf dem Sperrmüllsofa am Straßenrand zusammenfinden, um ihrem freigeistigen Lebensgefühl einen angemessenen Erfahrungsraum zu bieten.
Doch unternimmt man einen Realitätsabgleich, wird rasch eine massive Diskrepanz deutlich. Schon die äußerlichen Kennzeichen des in der Regel männlichen modernen „Individualisten“ sind stereotyp: Um seine unbeugsame Männlichkeit zu demonstrieren, trägt er derzeit einen prächtigen Patriarchen-Vollbart, oder bereits den wieder am Modehimmel aufziehenden Schnurrbart. Er trägt Tätowierungen und Jack Wolfskin-Jacken, Messengerbags aus LKW-Plane und auf dem Kopf im Sommer einen Trilby, im Winter eine Wollmütze. An seiner Seite hat er zudem gerne als lebendiges Accessoire einen Hund. Ist der Individualist sportlich, dann fährt er Rennrad, Skateboard oder geht Kite-Surfen.
Tatsächlich ist also das, was uns von den medialen Oberflächen als „individuell“ präsentiert wird, und was uns im Straßenbild im Überfluß und mit nur geringfügigen Variationen begegnet, ausgesprochen stark normiert. Dennoch scheint die Anpassung an diese stark normierte und falsch etikettierte Norm sehr effektiv gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen.
Wie ist es nun faktisch um das heraufbeschworene unmittelbare Erleben der Gegenwart bestellt, um das "Hier und Jetzt", in dem uns das Role Modell des zeitgenössischen Individualisten präsentiert wird?
Hier genügt ein Blick auf den täglichen Umgang mit Mobiltelefon, Facebook und Instagram, und es wird deutlich: die Dokumentation des Erlebnisses und seine anschließende Aufbereitung und Präsentation legen sich heute schon so deutlich über das Erlebnis selbst, daß die akute Gegenwart dahinter weitgehend verschwindet. Ein Umstand, der inzwischen schon so sehr Allgemeinplatz geworden ist, daß man bereits als aus der Zeit gefallen erscheint, wenn man ihn anmerkt.
Wie steht es aber mit der Einbindung in die Gemeinschaft, mit dem Zugehörigkeitsgefühl? Denn wenn das, was sich als Individualismus maskiert, nichts anderes ist als Konformität, fühlt sich der Einzelne dann nicht wenigstens geborgen im Kollektiv?
Die psychotherapeutische Praxis offenbart leider ein entgegengesetztes Bild. Die Psychologin Bettina Alberti stellt in ihrem Buch „Seelische Trümmer“ fest, daß in den 60er und 70er Jahren für Jugendliche die Peergroup noch der wichtigste Ort der Gemeinschaftserfahrung war; der Ort, an den man vor den Ausgrenzungserfahrungen in Familie und Schule flüchten konnte.
Heute hingegen stellt gerade die Peergroup den Ort dar, an dem sozialer Druck und Ausgrenzung erfahren wird. Durch die zahllosen Filter herkömmlicher und digitaler Medien ist das Bild des Menschen so idealisiert und verzerrt, daß es nahezu unmöglich ist, das Selbstbild damit in Deckung zu bringen, wodurch das Gefühl der Scham entsteht. Gleichzeitig wird eine völlig überzogene Erwartungshaltung gegenüber den Mitmenschen erzeugt. So entsteht einerseits das Gefühl, unzureichend zu sein, gleichzeitig richtet sich aber der Blick gnadenlos auf die Makel der anderen. Die Begegnung mit dem anderen wird zur beschämenden, isolierenden Konfrontation mit den eigenen und den fremden Unzulänglichkeiten.
Als vorgeblicher Ausweg bieten sich in dieser Situation die sog. „sozialen“ Netzwerke an. Sie ermöglichen, das eigene Leben als eine optimierte, geupdatete 2.0-Version zu präsentieren, mit der man sich an eine soziale Öffentlichkeit wagen darf. Statt der sozialen Bestätigung durch ein positives gemeinsames Erleben füttert man sein Ego mit der Menge von „Likes“ und „Freundschaftsanfragen“.
Statt des Erlebens von Gemeinschaft, erlebt man also, gedeckt von einer digitalen Maske, die Begegnung mit anderen digitalen Masken in einer isolierten Situation am Interface, während unmittelbare soziale Kontakte als angstbehaftet, ungeschützt und unkontrollierbar empfunden werden. Indem der Mensch vor dem akuten sozialen Miteinander zurückschreckt und über den digitalen Weg Gemeinschaft sucht, entfernt er sich de facto von ihr und begibt sich in eine selbst-entfremdete psychische Isolation.
Diese soziale Atomisierung findet ihre Entsprechung in den neoliberalen Tendenzen der Protagonisten der „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“, die in der ersten Dekade des 21. Jhd. unter dem Schlagwort der „Ich-AG“ ihr soziales Konzept offenlegten: der Mensch als ein sozial isoliertes Produkt reduziert auf seinen Marktwert.
Bleibt schließlich noch zu untersuchen, wie es um die Realität des Schlagworts Freiheit bestellt ist. Hier möchte ich zwei Aspekte der Freiheit beleuchten: Einerseits die Freiheit des Handelns und damit die Frage nach den Grenzen oder der Grenzenlosigkeit der Handlungsoptionen - das landläufige Verständnis von Freiheit.
Ein anderer Aspekt der Freiheit ist allerdings die Freiheit, von sich selbst nur so viel zu offenbaren, wie man möchte, also die Freiheit über die eigene Privatsphäre und über den Informationsfluß des Einzelnen zur Umwelt zu verfügen. Dieser Aspekt ist gerade in den letzten Wochen einmal mehr zum Anlass des Kummers und der medialen Empörung geworden, als Facebook und die Deutsche Post sich des massiven Datenmißbrauchs schuldig machten.
Dennoch nutzen weiterhin Milliarden von Menschen bedenkenlos die Dienste von Google & Co. und machen sich dadurch freiwillig bis in die intimsten Details transparent. Ihre alltäglichen Wege werden aufgezeichnet, ihre Einkäufe, ihre sozialen Kontakte, ihr politisches Interesse, ihre sexuellen Vorlieben, ihre Sehnsüchte und Zukunftspläne. Doch in dem Moment, in dem man sich so tiefgreifend offenbart, degradiert man sich selbst zur verkäuflichen Datenmenge, zu einem nahezu vollkommen berechenbaren Akteur und Konsumenten, dessen Handlungen entsprechend perfekt mit kommerziellen Angeboten aufgefangen und kanalisiert werden können.
Wie ist es da noch um die Handlungsoptionen als Gradmesser von Freiheit bestellt?
Die Wirtschaft strebt nach permanentem Wachstum, ihre Verkaufsstrategien entsprechend nach ständig wachsender Effizienz. Das Zauberwort der Stunde lautet „Mustererkennung“. Die Algorithmen der großen Konzerne sind längst die maßgebliche Quelle der Marktforschung geworden und es werden ständig neue Profile und Profiltypen errechnet, um möglichst alle individuellen Bedürfnisse zu bündeln und ökonomisch verwertbar zu machen. Dadurch findet eine systembedingte Stereotypisierung statt.
Gleichzeitig werden alle Chiffren des Zeitgeistes assimiliert, um jede nur erdenkliche Form von Jugend- oder Subkultur unmittelbar mit einem perfekt angepassten Set an Produkten zu versorgen. Alle Begriffe oder Symbole einer möglicherweise systemkritischen Haltung werden von dem System vereinnahmt, sobald sich die Subkulturen in signifikantem Maße der Mittel des Systems bedienen und dadurch sichtbar werden.
Sobald also Freiheit innerhalb der Parameter gesucht wird, die von den ökonomischen Verwertungsstrukturen unserer Gesellschaft gewährt werden, führt diese Suche immer in die Sackgasse von Kontrolle und Normierung, also zu einer Begrenzung der Freiheit, genauso wie die Suche nach Gemeinschaft innerhalb der von der digitalen Öffentlichkeit angebotenen Parameter zu einer zunehmenden Isolation führt.
Doch wie ist es möglich, daß sich, obwohl diese Effekte bekannt sind oder wenigstens erahnt werden, kein veritabler, breiter Widerstand dagegen formiert? Schuld daran ist die Behauptung, die Entwicklung sei „alternativlos“, es gäbe keine Wendemöglichkeit. Diese defätistische Haltung ist es, die selbst Menschen, in denen sich starker Unwillen regt, dazu veranlasst, trotz allem Google zu benutzen, sich orten zu lassen oder alle sozialen Kontakte auf WhatsApp auslesbar zu machen.
Den zentralen Irrtum, der diesem Verhalten zugrunde liegt, isolierte der Mathematiker und Logiker Kurt Gödel 1931 mit seinem Unvollständigkeitssatz, der sich auf alle weltbeschreibenden, formalen Systeme übertragen läßt: die Verwechslung der Karte mit der Landschaft, also die Behauptung, die Wirklichkeit ließe sich vollständig in einem Modell abbilden und innerhalb dieses Modells begründen.
Alternativlos ist der Austritt aus dem System nur, wenn man innerhalb der Parameter des Systems denkt. Sobald aber offenbar wird, daß kein Modell oder System imstande ist, den alleinigen Anspruch auf Wirklichkeit zu rechtfertigen, muß von einer tieferen Wirklichkeit ausgegangen werden, die nicht von dem System erfasst wird; von der man, mit den Worten Wittgensteins, schweigen sollte, die aber tatsächlich die einzig essentielle ist.
Mit diesem Schritt aus dem post-industriellen Realitätslabyrinth mit seinem Anspruch auf Alleingültigkeit beschäftigt sich Anik Lazar in ihrem Projekt „KOLLEKTIVE DEVIATIONEN“.
Auslöser war ein Moment, in dem sie sich mit einem Navigationssystem ihres Mobiltelefons zu orientieren versuchte und mit einem Mal keine Verbindung zum Netz mehr hatte. Nach wie vor war ihr eigener, per GPS georteter Standort als weiß-blau pulsierender Punkt auf dem Display zu sehen, sowie die blaue Linie, die die vorgeschlagene Reiseroute markierte. Verschwunden war jedoch die Karte. Statt dessen erschien auf dem Display ein feines, graues Raster.
Die Karte, das Modell der Wirklichkeit war erloschen und das pulsierende Individuum war von einem unerwarteten Möglichkeitsraum umgeben, der eine akute Begegnung mit der Wirklichkeit nicht nur erlaubte, sondern regelrecht erzwang, und gleichzeitig dazu verlockte, in die terra incognita des unbekannten Raums einzudringen, in der sich keine von der Karte nahegelegten Entscheidungen anboten, sondern das Individuum zu einem kreativen Prozess der Wegfindung angehalten war.
In den Bildern der Serie „KOLLEKTIVE DEVIATIONEN“ finden wir alle Elemente dieses auslösenden Moments wieder: Die Rahmen mit ihren abgerundeten Ecken greifen das Design des Smartphones auf. Wir sehen die blauen Linien der vom System verordneten Routen und die GPS-Ortungspunkte. Die grau gerasterte Matrix findet ihre Entsprechung in dem billigen kleinkarierten Recycling-Rechenpapier.
Anik Lazar, Kollektive Deviationen 2, Detail, 2018 |
Dieses Papier transportiert bereits zwei Bezüge zu den vorangegangenen Gedanken. Zunächst steht es natürlich für das grundlegendste und in sich geschlossenste System der Weltbeschreibung, die Mathematik, an deren Fundamenten Kurt Gödel mit seinem Unvollständigkeitssatz gerüttelt hat. Gleichzeitig aber löst dieses Papier in den meisten Rezipienten sicherlich einen gewissen Fluchtreflex aus, eine Aufforderung zur Deviation, die unter den für gewöhnlich restriktiven Bedingungen des Mathematikunterrichts meist in Form von Kritzeleien kanalisiert worden ist, Deviationen in Tinte und Graphit.
Der GPS-Ortungspunkt, gelöst von der Routenplanung, gewinnt ebenfalls an Qualität. Wir sehen ihn nicht mehr nur als funktionale Standortbestimmung, sondern als eine unabhängige Entität, die zwar nach wie vor von dem überwachenden Auge des Satelliten gesehen wird, aber durch Farbe und Gestalt nun den Eindruck erweckt, sie schaue zurück, wie ein orientalisches Nazar-Amulett, das den bösen Blick abwenden soll.
Anik Lazar, Kollektive Deviationen 3, 2018 |
Das Individuum wird zwar noch gesehen, aber es hat sich aus den auslesbaren und damit für die Mustererkennung verwertbaren Zusammenhängen gelöst. Seine Wahlmöglichkeit kann demzufolge nicht mehr terminiert werden von den Parametern des Systems, sondern nur durch eine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt, die wir jenseits der grauen Matrix imaginieren.
Für das Individuum besteht also die Option, sich aus der Freiheitsbegrenzung durch ökonomische Verwertungsstrukturen zu lösen, in dem es sich von dem gesellschaftlich propagierten Modell der Wirklichkeit löst und so den Raum für tatsächlich individuelle Entscheidungen öffnet. In Anik Lazars Arbeit wird diese Möglichkeit mit der Metapher der Deviation im Straßenverkehr, der Abweichung vom errechneten Kurs ausgedrückt, mit der das Individuum sich seine Autonomie zurück erobert.
Nun stellt sich natürlich die Frage nach dem Kollektiv, und mit dieser Frage betreten wir die Sphäre der Utopie als Zielort.
Auf vielen der Bilder ist die Situation inszeniert, die sich ergäbe, wenn verschiedene, vom Kurs abweichende Individuen miteinander derart vernetzt wären, daß sie nicht nur den eigenen Standort, sondern auch den der anderen sehen könnten - und zwar nicht innerhalb des vorgegebenen Bezugssystems der Karte, sondern in dem grauen Möglichkeitsraum.
Anik Lazar, Kollektive Deviationen 4, 2018 |
Die so entstehenden Anzeigen ergäben Konstellationen von Ortungspunkten, die an Sternbilder erinnern, die traditionell zur Navigation benutzt wurden. Doch diese Sternbilder entstammen keinem überlieferten Bezugssystem, sondern werden aus der unmittelbaren Interaktion gebildet und müssen erst noch mit Bedeutung gefüllt werden. Die Interaktion der Individuen wird zu einem Spiel, in dem sich die Spieler gemeinsam auf die Suche nach den Regeln machen, nach denen sie es spielen möchten.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den normierten und normierenden Übereinkünften unserer Gesellschaft: Während in ihr das Individuum lediglich ein vorgefertigtes Sortiment von möglichen Entscheidungen innerhalb eines fixierten Rahmens angeboten bekommt, von dessen Gestaltung das eigene Leben vollständig entkoppelt ist, werden im Vollzug der kollektiven Deviationen die Übereinkünfte und damit die Entscheidungsmöglichkeiten aus dem akuten, sich selbst organisierenden Handeln heraus entwickelt. In einem solchen Prozess und Rahmen lösen sich auch die Widersprüche zwischen der Selbstverwirklichung und Freiheit des Individuums und dem Wohl der Anderen auf.
Anik Lazar, Kollektive Deviationen 5, 2018 |
In seinem Buch „Der Sinn des Lebens“ vergleicht der englische Literaturtheoretiker Terry Eagleton diese Art des Handelns mit einer improvisierenden Jazzband:
Die Musiker sind in ihrem musikalischen Ausdruck vollkommen frei, stellen sich aber gleichzeitig in den Dienst eines musikalischen Ganzen, das mehr ist, als die Summe seiner Teile. Stützt ein Musiker mit seinem Beitrag den freien musikalischen Ausdruck der anderen, schafft er für sich dadurch gleichzeitig das Fundament, das ihm rückwirkend ermöglicht, sein eigenes Spiel weiter zu entwickeln. Dadurch inspiriert er wiederum die anderen und gibt ihnen Anhaltspunkte zur ihrer musikalischen Selbstverwirklichung.
Anik Lazar, Kollektive Deviationen, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V., 2018 |
Die Kollektive Deviation erschließt uns also einen utopischen Denkraum, in dem sich freie, individuelle Akteure, unabhängig von den Parametern post-industrieller Verwertungsmuster, in einen offenen und freiwilligen Zusammenhang der Selbstorganisation begeben, in einen Zusammenhang, der sowohl die aristotelische Entfaltung des Individuums, als auch die Geborgenheit und den Schutz des sinnstiftenden Kollektivs bietet.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, April 2018