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Montag, 26. August 2019

Zwischen Innen- und Außenwelt - Einführungsrede zur Ausstellung „Was ich sehe, blickt mich an“ der Possehl-Kunstpreis-Trägerin Janine Gerber von Dr. Thomas Piesbergen


Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Wenn man sich heutzutage der abstrakten, nicht-malerischen Gegenwartskunst zuwendet, begegnet man fast immer einem überraschenden Umgang mit Material und Brüchen formaler Konventionen.
Meist ist das Experiment erster Handlungsimpuls: die Möglichkeiten des Materials und sein Potenzial jenseits seiner herkömmlichen Funktion werden ausgelotet. Dadurch wird eine Verschiebung hervorgerufen, eine Irritation unserer Wahrnehmungsroutinen. Die Prozesse, aus denen die jeweiligen Positionen hervorgehen, sind also meist formal, ihr Inhalt abstrakt.

Ich war entsprechend überrascht, als Janine Gerber in unserem vorbereitenden Gespräch darauf hinwies, daß alle ihre Arbeiten einen konkreten Anlaß haben, ein erinnertes Wahrnehmungsereignis, eine Narration des Körpers, und daß ihre wichtigsten Einflüsse nicht von Kollegen wie Richard Serra, Lucio Fontana oder Franz Erhard Walther, sondern von Robert Musil und vor allem Marcel Proust stammen.
Ich möchte mich also zunächst den zentralen Themen dieser beiden bedeutenden Schriftsteller zuwenden, bevor ich über die Arbeiten Janine Gerbers spreche.

In dem Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil hadert der Protagonist Ulrich unentwegt mit dem Problem, wie denn die Möglichkeiten innerer Vorstellung überführt werden können in ein faktisches und gegenwärtiges Handeln, wie das Denken zur Tat werden kann. Die kartesische Grenze zwischen Innen- und Außenwelt scheint ihm unüberwindlich und auf der Suche nach einer „taghellen Mystik“, die diese Dichotomie überwinden soll, scheitern  schließlich der Protagonist und sein Autor - der Roman bleibt ein Fragment.

Bei Marcel Proust hingegen steht im Zentrum seines Werks Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Erinnerung, der Prozess des Erinnerns und die zwingend subjektive Konstruktion von Wirklichkeit auf Basis von Erinnerungen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen neurobiologischen Forschung kann man die Bildung von Erinnerungen wie folgt beschreiben: Sie entstehen, wenn unser Körper Reize aus der uns umgebenden, äußeren Welt aufnimmt, diese Empfindungen in gebündelte Reaktionen umsetzt, die gebündelten Reaktionen in Form von sog. Körperkartierungen im Gehirn abbildet und diese Kartierungen wiederum wahrnimmt.
Erst wenn diese Wahrnehmung von Körperkartierungen stattfindet, spricht die Neurobiologie von Gefühlen, die ihrerseits dazu dienen, Wahrnehmungsinhalte zusammenzufassen und zu vernetzen. Wenn diese vernetzten Inhalte von dem wahrnehmenden Bewußtsein zu einer narrativen Chronologie geordnet werden, ist eine Erinnerung entstanden.

Diese Darstellung macht die besondere Bedeutung der Gefühle für den Aufbau von Erinnerung deutlich, sowie ihre Abhängigkeit vom Körper. Ohne ihre Fähigkeit vielfältige Reize und Sachverhalte miteinander zu verknüpfen und zu bündeln, wäre ein Erinnern nicht möglich. Andererseits zeigt es sich, daß Wahrnehmen, Fühlen und Erinnern, drei Phänomene, die landläufig dem Geist zugeordnet wurden, nach dem derzeitigen Stand der Neurowissenschaften zu erheblichen Anteilen körperliche Phänomene sind.
Marcel Proust hat diese aktuelle wissenschaftliche Erkenntnis mit dem paradigmatischen Biss in das süße Madeleine vorweggenommen, einem sinnlichen, rein körperlichen Ereignis des Sich-Einverleibens, dessen Sensation auf einen Schlag die gesamte Kindheit des Autors mit kaum vorstellbarer Intensität aus der Erinnerung auferstehen ließ.

Auch bei Robert Musil spielen die Gefühle, wenn auch nicht explizit genannt, eine große Rolle, wenn sein Protagonist Ulrich versucht zu ergründen, wie die unscharfen und vielgestaltigen Vorstellungen aus dem inneren Möglichkeitsraum in die akute Tat überführt werden können.

Musil und Ulrich beschreiten beide einen sinnlichen Weg. Sie versuchen, die Ambivalenzen, die verwirrend mitklingenden Gegentöne, die verborgenen Beziehungen eines Phänomens nicht durch kühle Analyse zu ergründen, sondern indem sie sie erfühlen und dadurch ihre divergenten Bestandteile vereinen: Musil in Form der intuitiv gefundenen Metapher, Ulrich in Form der angestrebten „taghellen Mystik“, die in die Tat führen soll.

Auch dieser gedankliche Ansatz wird gestützt durch die aktuellen Ergebnisse der Neurowissenschaften, nach denen jede Entscheidung, auch die rationalste, auf einem Fundament der Gefühle, also der Wahrnehmung unseres Körpers steht und ohne sie nicht möglich wäre.

Wir sehen in beiden Werkkomplexen sowie in dem Status Quo der Erforschung von Nervensystem und Bewußtsein also die Elemente einer impulsgebenden Außenwelt, einer Innenwelt, die sich vor allem in Form von Erinnerungen konstituiert und von körperabhängigen Gefühlen organisiert wird, und einer Übergangszone zwischen beiden Sphären, in der die Impulse der Außenwelt zu Inhalten der Innenwelt transformiert werden, und umgekehrt.
Und obwohl man den Schauplatz der Transformation von Äußerem zu Innerem benennen kann, nämlich unseren Körper mit seinen Sinnen, ist es doch kaum möglich eine scharfe Grenze zwischen beiden Sphären zu ziehen und Subjektives von Objektivem präzise zu trennen. Denn selbst wenn wir im Sinne Descartes unsere Innenwelt als getrennt von der Außenwelt erleben, so sind wir doch von dieser Außenwelt erfüllt und wären außerstande ohne sie auch nur die Idee oder die Empfindung einer Innenwelt zu entwickeln.

Genau diese unbestimmten Grenzen, die Ränder, Übergänge, ihre Schärfen und Unschärfen stellen das zentrale formale Element in allen Arbeiten Janine Gerbers dar.

Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Am unmittelbarsten zeigt sich das in den Malereien und Tuschzeichnungen. Den ersten Impuls zur Gestaltung bilden immer die bereits genannten Wahrnehmungsereignisse: assoziativ aufgeladene Lichtstimmungen, beobachtete Vorgänge, Bewegungen. Aufsteigend aus der Erinnerung manifestieren sie sich meist in grauen Zonen verschiedenster Schattierungen, die gegeneinander gesetzt werden.
Manchmal werden diese Flächen getrennt durch Auslassungen, in denen wie durch Risse oder Schnitte das Weiß des Malgrunds hervorleuchtet, doch können die so getrennten Flächen gleich daneben bereits wieder ineinander diffundieren und sich gegenseitig durchdringen.

So scheinen auch in diesen zunächst ruhig anmutenden Arbeiten stetige Kräfte zu wirken, abtastende Bewegungen zu herrschen, die durch vorsichtige Vorstöße in ihre Umwelt nach den eigenen Konturen suchen, die versuchen, ihre Form und ihren Innenraum zu definieren, in dem sie ihre Außengrenzen und damit die Außenwelt erforschen.

Janine Gerber, "Versuch ein Wort zu finden", Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Diese sich selbst definierende Rückbezüglichkeit von der auf die Außenwelt und die Grenzzonen gerichteten Bewegungen auf ihren Ausgangspunkt in der Innenwelt finden wir auch in manchen Titeln wie „Ein Teil sich findend“ oder auch in dem Titel der Ausstellung selbst „Was ich sehe blickt mich an“. In dieser Metapher wird die Außenwelt explizit zum Spiegel der Innenwelt und umgekehrt.

Einen großen Raum in Janine Gerbers Œuvre nehmen die Arbeiten mit weißen, eingeschnittenen Papierbahnen ein, mit denen sie den Bildraum in den realen Raum erweitert. Als Ausgangspunkt der Schnitte dienen ihr dabei an Menschen beobachtete Bewegungen und Körperkonturen, die sie zunächst in Skizzen festhält und später in einem konzentrierten Akt mit dem Messer in das im Raum installierte Papier überträgt. Dabei werden die konzipierten Linienführungen, also der narrative Nachvollzug von Körperzuständen, durch die unmittelbare Interaktion mit dem Material und den vorgefundenen Licht- und Raumverhältnissen modifiziert.

So wie das Subjekt die Außenwelt an seinen Rändern, Grenzen und Schnittstellen wahrnimmt und sich dadurch selbst konstituieren kann, so bewirken die durch ein Replay der Erinnerung hervorgerufenen Verletzungen der schieren Papierbahn einen Symmetriebruch und eine Individualisierung der vorher gesichts- und identitätslosen weißen Fläche, in dem sie Grenzen schaffen. Die Oberfläche wird in den Raum zum einem Körper gebogen, so wie schließlich der Körper in die Zeit gebogen wird, sich durch sie bewegt, handelt, entscheidet, und damit die Symmetrie der handlungslosen, identitätslosen All-Möglichkeit bricht und eine individualisierende Narration hervorbringt.
Die Bewegung des Körpers durch die Zeit, eingefangen in dem geschnittenen Papier, schafft also Identität.

Die so entstandenen Papierobjekte sind ihrerseits darauf ausgerichtet, das sich im Laufe des Tages wandelnde, ephemere Spiel von Licht und Schatten in der Innenwelt des Werks abzubilden. So wird das Medium, vormals als leeres, weißes Papier wahrgenommen, zum Bildträger für substanzlose, vergängliche Repräsentationen der Impulse aus der Außenwelt, die sich nicht nur durch die sich wandelnden Lichtsituationen verändern, sondern auch durch die Bewegung des Betrachters um das Objekt herum. Der Rezipient selbst bringt also durch die Bewegung seines Körpers erneut eine eigenständige, nur von ihm so erlebte Narration hervor.

Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Dieser Werkkomplex wird in der gegenwärtigen Ausstellung vertreten durch Serien von Fotografien der Arbeiten „Body Memories“ und „Falter der Stadt“. Mit den Setzungen, für die sich Janine Gerber durch die Wahl der Perspektive der jeweiligen Fotos entschieden hat, werden nur einige mögliche Narrationen aus einer unendlichen Vielzahl gewählt.
Der Rezipient, für den der fotografische Blick der Künstlerin stellvertretend steht, entscheidet sich, wie er sieht und was er sieht; er selbst zieht Grenzen zwischen dem von ihm gewählten und dem nicht in Betracht gezogenen, und das wiederum deutet notwendig auf ihn selbst zurück.
Sowie Janine Gerber durch grenzziehende Einschnitte Identität geschaffen hat, so erschaffen wir unsere Identität durch die Wahl unserer Perspektive, also durch die Ausgrenzung anderer Möglichkeiten wahrzunehmen und zu handeln. „Was ich sehe, blickt mich an.“ Dies wird uns mit den Fotoserien exemplarisch vor Augen geführt.

Die Frage nach Übergängen und Grenzen präsentiert sich in den mit Maschinenöl behandelten Arbeiten auf eine andere, subtile Art und Weise.

Zunächst begegnen uns mehrere starke Polaritäten. Einerseits haben wir das Ausgangsmaterial Holz, aus dem das Papier gewonnen ist: ein natürlicher, ausgesprochen langsam wachsender Rohstoff. Dem gegenübergestellt wird das Öl, das in einen industriellen Kontext gehört, in dem Effizienz und Geschwindigkeit von zentraler Bedeutung sind.
Das weiße Blatt Papier steht zudem sprichwörtlich für die Reinheit, das Ungeschehene, das Unschuldige; das schwarze, stinkende Öl hingegen steht für die maximale Kontamination, das lebensfeindliche, verseuchende Blut einer unmenschlichen, auf Profit ausgerichteten Industrie, deren zerstörerische Auswirkungen ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Ausmaß angenommen haben.
Diese unvereinbar erscheinenden Konnotationen der Materialien hat Janine Gerber in ihrer Installation untrennbar miteinander verschmolzen und dennoch versuchen wir in Gedanken diese Trennung wieder zu vollziehen, eine Grenze zwischen beiden zu denken.


Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Auch wenn ich Gefahr laufe, zu überinterpretieren, möchte ich einen Versuch wagen, die auf die anderen Arbeiten angewendeten Kategorien auch auf diese Arbeit zu übertragen, nämlich die Konzepte von Innen- und Außenwelt, und gerate dabei gleich auf das mit Umsicht zu betretende Feld der vergleichenden Religionswissenschaften. Denn wenn wir das weiße, unbefleckte und aufnahmebereite Papier als Innenwelt betrachten und das kontaminierende Öl als Impuls aus der Außenwelt, erhalten wir eine universelle Metapher von Welt und Seele, wie wir sie in nur geringfügig abweichenden Variationen bei den Christen, Katharern, Manichäern, Hinduisten, Buddhisten oder Jainas wiederfinden.

Alle genannten Religionen beschreiben die weltliche Identität des Menschen als einen Zustand der reinen Seele, die von irdischen Dingen, Begehrlichkeiten und Anhaftungen, dem „Erdenrest“ wie es Goethe im zweiten Teil des Faust nennt, kontaminiert worden ist. Und alle Religionen trachten danach, beides in einem transzendenten Prozess wieder voneinander zu scheiden.

Doch wie immer man auch zu diesen Glaubenskonzepten stehen mag, der Ist-Zustand unserer menschlichen Wirklichkeit bleibt der einer im Diesseits unabdingbaren, irreversiblen Durchdringung der Innenwelt mit ihren individuellen körperlichen Grenzen, Schnittstellen, Symmetriebrüchen, Entscheidungen und Verletzungen, und einer sie stetig umgebenden, durchflutenden und erfüllenden Außenwelt. Erst ihr Wechselspiel, ihre sich gegenseitig bedingende Beschaffenheit erzeugt Identität.

Entsprechend finden wir auch auf diesen dualistischen Entitäten, den vom Öl durchdrungenen Papierbahnen, die durch die Kontamination eine transluzide Qualität gewonnen haben, wiederum das flüchtige Spiel von Licht und Schatten, Zonen von tiefer Schwärze und verschiedenste Tönungen von Grau, hervorgebracht von dem eingefangenen Licht. Wir sehen die miteinander im Dialog stehenden Grenzen der einzelnen Papierkörper und die darüber und durch die Zeit wandernden, ephemeren Erscheinungen, die Schatten der Grenzen, die erst durch ihre und unsere Bewegung Narrationen hervorbringen.

Janine Gerber, Ausstellungsansicht "Was ich sehe blickt mich an" Gollan Kultur Werft, 2019 (Photographie: Helge Mundt)

Und so ist es Janine Gerber in den verschiedenen Werkkomplexen, die in der Ausstellung „Was ich sehe blickt mich an“  versammelt sind, nicht nur gelungen, eine markante, in sich geschlossene, formal-ästhetisch überzeugende Position zu entwickeln, sondern die formalen Aspekte in den Dienst einer hochdifferenzierten Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten der Conditio Humana zu stellen, die in allen Schritten des Werkprozesses zielführend wirksam war und schließlich in der ästhetischen Form ihren evidenten Ausdruck findet.

© Dr. phil.Thomas J. Piesbergen / VG Wort, August 2019