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"Bedingt abhängiges Entstehen", Klaus Becker, 2020 |
Das diesjährige Jahresthema des Einstellungsraums lautet „Sprit und Spirit“. Beide Worte sind abgeleitet aus dem lateinischen Verb „spirare“, was „hauchen“ oder „atmen“ bedeutet, und beide sind vielfach eng miteinander verknüpft. Dennoch führen die verschiedenen Bedeutungen im heutigen Sprachgebrauch in stark voneinander abweichende Zusammenhänge, worin sich schließlich eine Eigenart des westlichen Denkens enthüllt.
Zunächst entwickelte sich aus dem Verb „spirare“ der Substantiv „Spiritus“, also der Lebensgeist. Diese Übertragung des Atems auf den Geist geht allerdings auf ältere Wurzeln zurück. In der Tora tauchen gleich drei bedeutungsgleiche Wörter auf: „ru´ach“, „neschama“ und „nefesch“. Alle bedeuten ursprünglich „Atem“ und alle bezeichnen die sog. Vitalseele oder Körperseele. Entsprechungen zu „ru´ach“ finden wir im Ugaritischen „rh“, das „Wind“ oder „Duft“ bedeutet, im Phönizischen steht das gleiche Wort für „Geist“.
Das hebräische „nefesch“ wiederum geht auf das akkadische „napaschu“ zurück, das „Aufatmen“ und „weit werden“ bedeutet.
Der Zusammenhang zu dem Lebensatem, mit dem Gott den aus Erde geformten Menschen belebte, in dem er ihm den Geist durch die Nase einblies, liegt in dem genannten levantinisch-altorientalischen Kontext auf der Hand, und setzte sich so von den altorientalischen Sprachen über das Griechische „pneuma“ und Lateinische „spiritus“ bis in unsere modernen Sprachen fort.
Nachdem sich im 15. Jhd. die Technik des Destillierens von Alkohol in Europa verbreitet hatte, wurde im 16. Jhd. die Bedeutung des Begriffs Spiritus auf den Weingeist erweitert, die „Körperseele“ des Weines, die, einmal extrahiert, dessen Essenz darstellt. Erst nach dieser begrifflichen Verknüpfung trat neben die spirituelle Bedeutung des Wortes die profane, und neben den Spiritus Sanktus trat schließlich der Brennspiritus bzw. verkürzt der Sprit, ob in der Schnapsflasche oder schließlich im Tank.
Hier beginnt sich nun die bereits erwähnte Eigenheit der westlichen Denkungsart zu zeigen. Denn solange der Geist als Alkohol in einem kirchlichen Kontext erscheint, z.B. als Messwein oder als von Mönchen getragene Brautradition, wird er geduldet oder sogar als geheiligt wahrgenommen. Sobald er aber nur in profanem Zusammenhang genossen wird, wird ihm schnell zugeschrieben, ein Machwerk des Teufels zu sein, wie es in vielen religiösen Gemeinschaften noch immer üblich ist.
Schließlich haben wir in dem Sprit als Treibstoff für motorgetriebene Fahrzeuge eine endgültig geistlose Profanisierung vorliegen: Der Fetisch des Benzinmotors und das Erdöl als Blut einer durch und durch materialistischen Weltordnung.
Stellen wir also Sprit und Spirit in der westlichen Denktradition heute nebeneinander, sehen wir eine Opposition von Geist und Spiritualität auf der einen Seite, auf der anderen die profane Materie und die von Pragmatismus getragene Wissenschaft.
Diese westliche Trennung der Welt in zwei Sphären, die auf gar keinen Fall zu verwechseln ist mit der östlichen Yin und Yang-Dualität, geht nach Joseph Campbell auf eine Vereinnahmung der alten, aus dem Tropengürtel stammenden organisch-vegetabilen Mythen durch die heroischen Mythen der indo-arischen Jäger aus den Steppen zurück.
Er schreibt: „In den älteren Mythen und Riten der Mutter waren die hellen und dunkleren Aspekte des bunt gemischten Lebensganzen gleichermaßen und gemeinsam geehrt worden, wohingegen in den späteren, männlich bestimmten, patriarchalen Mythen alles, was gut und edel ist, den neuen, heroischen Herrengöttern zugesprochen wurde, womit den ursprünglichen Naturmächten nur die Dunkelheit als Wesensmerkmal übrigblieb - und die wurde jetzt auch noch moralisch negativ bewertet.“
Diese grundlegende, patriarchale Trennung von Hell und Dunkel, von Gut und Böse fand im Osten jedoch nicht statt. Als illustrierendes Schlaglicht sei die indische Göttin Kali genannt, die sowohl die große, gebährende Muttergottheit ist, wie auch die mit Leichenteilen geschmückte Verschlingerin. Sie ist Shakti, die Gemahlin, und Kalima, die Mutter des Shiva, und gemeinsam mit ihm gebar sie das Universum, so wie sie auch alles, was darin vergeht, wieder in sich aufnehmen wird.
Und so wie das Helle und das Dunkle in Kali vereint sind, so sind diese beiden Antagonismen auch in allem Irdischen anwesend und wirksam, wie es am deutlichsten in dem bereits genannten Denksystem des Taoismus mit seiner Yin und Yang-Dualität beschrieben wird.
Im westlichen mythologischen Komplex hingegen, der den Nahen Osten bis Persien einschließt, hat sich in der unvereinbaren Opposition von Gut und Böse die menschliche Welt zu einem profanen Tertium Quid herausgebildet. Sie ist nur noch das Schlachtfeld, auf dem sich Gut und Böse gegenüberstehen, wie wir es exemplarisch im Kampf zwischen Ahura Mazda und Ahriman in der zoroastristischen Mythologie sehen, die sich in der Opposition von Gott und Teufel in der Bibel wiederfindet.
Im selben Schritt hat sich aber auch eine Trennung zwischen dem göttlichen Schöpfer und seiner Schöpfung vollzogen. Die schöpfende, hervorbringende Kraft, die erste Ursache, ist der Welt nicht mehr inhärent, wie in den östlichen Vorstellungen, sondern ist von ihr getrennt. Ursache und Wirkung sind voneinander geschieden, wie auch die schöpfende Einheit und die geschaffene Vielheit unvereinbar geworden sind. Demzufolge ist das Göttliche in der Regel auch nicht durch unmittelbare profane Welterfahrung zu erkennen, wie in den östlichen Religionen, sondern durch das Befolgen der heiligen Gesetze, die der heroische, patriarchalische Gott den Menschen gegeben hat.
Diese Vorstellung von dem Einen und dem Anderen ist vielleicht der zentralste Wesenszug der westlichen Denktradition. Er hat mathematisch seinen essentiellsten Ausdruck in dem Entweder-Oder der Boole´schen Algebra gefunden, psychologisch und philosophisch in der Opposition von Subjekt und Objekt, von Geist und Welt.
Genau mit dieser Opposition und ihrer Überwindung beschäftigt sich Klaus Becker auf vielgestaltige Weise in seinem Werk, vor allem aber mit seinen Polyedern.
Sie entstehen, ausgehend von einem Würfel, durch eine schrittweise tangentiale Annäherung an die Inkugel, also einen gedachten Körper mit unendlich vielen Symmetrieachsen, die sich alle in dessen Mittelpunkt schneiden. Die Inkugel berührt jeweils den Mittelpunkt jeder Würfelfläche. Um zu einem nächsten Polyeder zu gelangen, der sich der Inkugel einen Schritt weiter nähert, werden die Ecken des Würfels so abgeschnitten, daß die neu entstandenen Flächen, die rechtwinklig zur Symmetrieachse stehen, die gedachte Inkugel wiederum in ihrem Mittelpunkt schneiden.
Stellt man das Zustandekommen der einzelnen Schnitte mit ihren Bezugslinien zweidimensional dar, entsteht ein komplexes Muster, das an Fahrradspeichen oder ein Mandala denken läßt, und das unmißverständlich verdeutlicht: die äußere Form ist abhängig von dem gedachten Konzept des Inneren, von dem Mittelpunkt und seinen Symmetrieachsen. Die gegenüberliegenden Pole, an denen die Symmetrieachsen aus dem Körper austreten, und von denen es auf einer Kugel mathematisch betrachtet unendlich viel geben kann, werden, obwohl in Opposition befindlich, durch denselben Mittelpunkt definiert. Die Vielheit geht aus der Einheit hervor und die Einheit, der Mittelpunkt, wird wiederum durch die Vielheit konstituiert. Einheit und Vielheit bedingen einander.
Dem Spannungsfeld zwischen Vielheit und Einheit geht Klaus Becker auch in dem geistigen Erkenntnisprozess nach. Denn so, wie wir die Inkugel in das Polygon aus Stein hineindenken und aus einem Punkt die zahlreichen Flächen ableiten, so sind wir angesichts der uferlosen Vielgestalt der Welt unablässig bestrebt, vereinheitlichende Kategorien zu bilden, die wir der Vielzahl der Erscheinungen zugrunde legen.
Diese Denkoperation brachte das Weltmodell Platons mit seinen verursachenden Urbildern hervor, und ist genauso in unseren Modellen von Genetik und Evolution allgegenwärtig. Wir wissen, daß wir alle aus einer einzigen Zelle hervorgegangen sind, die ihrerseits durch Zellteilung die ehrfurchtgebietende Vielzahl unterschiedlicher Körperzellen hervorgebracht hat, so wie auch für die Menschen gerne das Erbe einer einzigen prähistorischen Mutter postuliert wird, in der sich die entscheidende genetische Mutation ereignet hat, aus der schließlich alle Hominiden hervorgegangen sein sollen.
Dieser Prozess wiederholt sich in unserer kognitiven Annäherung an die Welt. Wir sehen Vielheit, bilden aber daraus Einheiten. Wenn wir einen Baum sehen, wissen wir, es gibt keinen zweiten Baum, der diesem einen gleicht. Jedes Wachstum bringt eine einzigartige Form hervor, dennoch ordnen wir das individuelle Gewächs der vereinheitlichenden Kategorie „Baum“ zu, ganz gleich, ob es eine Bonsai-Kiefer oder eine gewaltige Rotbuche ist.
Unser Bewußtsein oszilliert also zwischen der Vielheit und der Einheit. Durch Deduktion gelangen wir von der vereinheitlichten Idee zu der vielgestaltigen Wirklichkeit der Einzelfälle und leiten aus ihrer Diversität durch Induktion wiederum die vereinheitlichende Idee ab.
In der Wissenschaft und Philosophie bleiben es zwei strikt voneinander geschiedene Denkoperationen, selbst wenn sich in unserem Wahrnehmungskontinuum beide Vektoren der Rezeption ununterbrochen durchdringen, d.h. in unserem akuten Erleben sind sie nicht mehr durch ein Entweder/Oder voneinander getrennt.
Dieser Prozess der Spaltung der Einheit und deren Rekonstruktion, den unser westlich geprägter Geist vornimmt, findet in Klaus Beckers Werk in seinen sog. Denkzeichnungen seinen Ausdruck, in denen er gedankliche Operationen und Phänomene visualisiert. Beherrschend in diesen Zeichnungen ist das Dreieck, das die Bewegung vom Einen zum Vielen und umgekehrt repräsentiert, und gleichzeitig als Richtungspfeil der rezeptiven Vektoren gedeutet werden kann, also als Induktion und Deduktion. Eine Struktur von besonderer Bedeutung ist dabei Beckers sog. „Oszilliar“, das die Schwingung der Wahrnehmung zwischen Einheit und Vielheit sowie deren gegenseitige Durchdringung darstellt.
Behalten wir diese Idee des Oszillierens im Kopf, und machen einen Schritt zurück zu der im Westen vollzogenen Trennung von Schöpfer und Schöpfung, betreten wir den Raum des Diskurses über Ursache und Wirkung.
Ihre unabdingbare, lineare Verknüpfung ist lange Zeit das absolute Paradigma der westlichen Wissenschaft und Logik gewesen, bis es schließlich vor etwa hundert Jahren durch die Quantenphysik mit ihren „spooky actions at a distance“ zu einem erschütternden Paradigmenwechsel gekommen ist, dessen Konsequenzen wir bis heute nur sehr zögerlich und widerstrebend in unsere Denkgewohnheiten einlassen mögen, da sie ihnen grundlegend widersprechen.
Denn in der Welt der Quanten gibt es Wechselwirkungen zwischen einzelnen Teilchen, die ohne zeitliche Verzögerung und ohne Austausch von Energie stattfinden. Indem aber die Ereignisse nicht in ein davor und danach geordnet werden können, sie also zugleich geschehen, wird das zeitlich lineare Denken in Ursache-Wirkungs-Verkettungen ad absurdum geführt, und damit natürlich auch die Idee der vergöttlichten Ersten Ursache, die wir in eine unerreichbare Ferne jenseits von Raum und Zeit verlegt haben.
Diese Verschränkung können wir uns ebenfalls als ein Oszillieren vorstellen, als eine unabdingbare und unmittelbare Wechselwirkung zwischen Ereignissen, die unsere Denktradition, geprägt von der Vorstellung eines schöpfenden Gottes jenseits der Welt, in die lineare Abfolge von Ursache und Wirkung ordnet.
Im östlichen Denken, in dessen Kern sich die Abspaltung der Ersten Ursache von der verursachten Schöpfung niemals vollzogen hat, tritt die Idee vom inhärenten und überzeitlich Göttlichen vor allem in den entwicklungsgeschichtlich fortgeschrittensten Ableitungen des mütterlich-zyklischen Weltbildes in einer klar ausdifferenzierten Form wieder zu Tage, wie z.B. in den Traditionen des Zen-Buddhismus und des tibetischen Vajrayana-Buddhismus, auf den sich Klaus Becker mit dem Ausstellungstitel „Das Diamantene Fahrzeug“ ausdrücklich bezieht.
Das buddhistische Konzept, in dem Ursache und Wirkung aufgelöst werden, wird „bedingt abhängiges Entstehen“ genannt, wie auch der Name der zentralen Skulpturengruppe der Ausstellung lautet, und findet in der buddhistischen Ikonographie seinen Ausdruck in der sog. „Blumengirlande“, dem Keim des So-Gekommenen. Alles was ist koexistiert, nicht nur im räumlichen, sondern auch im zeitlichen Sinn, und bringt sich gegenseitig hervor.
So schrieb Junjiro Takakusu in seinen Essentials of Buddhist Philosophy: „Eigen, wie sie sind, und getrennt, wie die Zeit sie erscheinen läßt, sind alle Wesen doch zu einer Einheit zusammengeschlossen.“
So konstituieren sich Gegensatzpaare über die zeitliche Linearität hinaus und können ihre sie auszeichnende Charakteristik erst durch das Postulat des Gegenteils erhalten. Ohne Nordpol gibt es keinen Südpol, ohne Plus kein Minus, ohne Vorher kein Nachher. So heißt es ebenfalls bei Takakusu: „Wenn eines Innen wird, wird das andere Außen sein - und umgekehrt.“
Es gibt also keine zeitlich getrennte Abfolge von Ursache und Wirkung, sondern nur ein unmitelbar verschränktes, korrelierendes Jetzt, das alle Erscheinungen umschließt. Die Ursache bedingt die Wirkung, genauso wie die Wirkung die Ursache bedingt.
Dieser Gedanke liegt den Skulpturen zugrunden, die aus Polyedern und einer entsprechenden Abwicklungen aus Metall zusammengesetzt sind. Die abgewickelte metallene Schale weist auf die Oberflächen des Körpers hin, kann aber ebenso als verursachend für den Körper gelesen werden, so wie der Körper als verursachend für die Abwicklung gelesen werden kann. Weder das eine, noch das andere steht am Anfang.
Die Welt oszilliert zwischen diesen beiden Polen, von denen es aber unendlich viele geben kann, vergleichbar mit dem Spin der Elementarteilchen, die sich solange um unendlich viele Achsen drehen, bis sie beobachtet werden und sich um die Achse drehen, die wir durch unsere Beobachtung bestimmt haben. Eine willkürlich konstruierte Polarität, wie auch das Innen und Außen, von dem Bodhidharma, der Begründer der Zen-Tradition sagt:
„Die Wirklichkeit hat weder ein Inneres
noch ein Äußeres
noch ein Zentrum.“
Die uns unvereinbar scheinenden Polaritäten zwischen Geist und Welt, zwischen Logik und Intuition, zwischen Wissenschaft und Spiritualität, zwischen Sprit und Spirit, sind lediglich von uns konstruierte Gegensatzpaare, willkürlich getrennte Aspekte einer unteilbaren Ganzheit.
Die vom westlichen Denken errichtete Barriere zwischen eigentlich untrennbar zueinander gehörenden Bereichen des einen „bunt durcheinander gemischten Lebensganzen“, wie Joseph Campbell sich ausdrückt, das Paradigma der Trennung von Sprit und Spirit, hat Klaus Becker auch mit seiner Arbeitsweise überwunden.
Denn auch wenn er sich thematisch vor allem mit der spirituellen Perspektive auf die Wirklichkeit beschäftigt, die im westlichen Zusammenhang in die dunkle, irrationale Sphäre verdrängt worden ist, nähert er sich seinem Thema mit Mitteln, die der komplementären Sphäre des Logos entspringen, eine Haltung und Arbeitsweise, die im westlichen Denken nur Mystikern und Dichtern zugebilligt wurde, wie Novalis, der in seinen Fragmenten schrieb „Das höchste Leben ist Mathematik“ und „Reine Mathematik ist Religion“.
So gelangt Klaus Becker schließlich, um bei der einleitenden metaphorischen Belegung der Begriffe zu bleiben, mit Sprit zum Spirit.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, März 2020