Monika Schröder: Rotation, 2020 - Foto: Claus Sautter |
Vor etwa 400 Millionen Jahren, nach der Ordovizischen Eiszeit, als der C02-Gehalt der Erdatmosphäre noch etwa zehnmal so hoch war, und die Durchschnittstemperatur etwa 6 Grad mehr als heute betrug, erlebten die höheren Mikroorganismen in den Weltmeeren einen vorher nie da gewesenen Boom.
Bis zum Silur und frühen Devon waren es vor allem die Bakterienkolonien der Stromatolithen, die für die Bindung des Kohlenstoffs aus der Luft verantwortlich waren. Diese Funktion übernahmen nun komplexere ein- und mehrzellige Eukaryoten wie zunächst die Rugosa, später ab etwa 250 Mio. v.u.Z. die Korallen, und vor allem das Phyto- und Zooplankton, das sich in den oberen Wasserschichten in einem nie da gewesenem Ausmaß vermehrte und eine unüberschaubare Zahl skurriler Erscheinungsformen hervorbrachte.
Starben diese Algen und Kleinstlebewesen ab, sanken sie zum sauerstoffarmen Grund der Ozeane und bildeten mächtige Schichten von Biomasse. Da sie sich dort aufgrund des Sauerstoffmangels nicht zersetzten, wandelten sie sich in kohlenstoffreichen Faulschlamm um, der unter weiteren Sedimentschichten begraben wurde. Unter dem entstehenden Druck wurde das organische Material immer mehr verdichtet und bildete schließlich langkettige Kohlenstoffverbindungen, die von organischen Lösungsmitteln nicht mehr zu lösen sind. Es entstanden die sog. Kerogene.
Die ansteigende, durch den Druck entstandene Wärme trieb bei Temperaturen über 60°C zunächst das Methan aus. Bis etwa 120°C verflüssigten sich die Kerogene zu Erdöl, bei noch höheren Temperaturen wandelten sie sich in Erdgas um.
Während die Bakterien der frühesten Erdzeitalter zunächst eine Atmosphäre schufen, die komplexeres Leben überhaupt möglich machte, und dabei gigantische Massen von Kalk- und Sedimentgestein aufschichteten, waren es die unvorstellbaren Massen des ein- und mehrzelligen Planktons, die über Hundertmillionen von Jahren durch die Bindung von Kohlenstoff ein Klima schufen, das die Erde zu einem Lebensraum machte, der eine ungeheuere Vielfalt höheren Lebens hervorbrachte - nach neuesten Schätzungen gegenwärtig etwa 8,7 Millionen Arten, zu denen auch unsere Spezies, der Homo Sapiens gehört.
Betrachtet man die Evolution der Lebensformen, kann man sie auch als eine Evolution der Sinne begreifen.
Am Anfang standen wahrscheinlich einfache Photorezeptoren wie die Phytochrome, mit denen bereits Cyanobakterien, die sog. Blaualgen, ausgestattet sind. Durch die Fähigkeit Licht zu registrieren, waren erstmals aktive Reaktionen auf die Umwelt möglich, um die bestmöglichen Bedingungen für Ernährung und Vermehrung zu nutzen.
Vor etwa 1,8 Milliarden Jahren tauchten die ersten Eukaryoten auf, also Lebewesen, die einen regulären Zellkern und eine komplexe Struktur aufweisen. Sie waren erstmals mit Cilien ausgestattet, den sogenannten Flimmerhärchen oder Geißeln. Die Cilien ermöglichten einerseits eine Fortbewegung, andererseits konnten sie als Rezeptoren für Berührungen oder Gerüche dienen. Diese Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit durch Ertasten und Wittern der Umwelt, war ein gewaltiger Entwicklungssprung, der die Operationsmöglichkeiten der frühen Eukaryoten maßgeblich erweiterte, und ihnen schließlich eine Vormachtstellung bei der Besiedlung der Meere sicherte, die im späten Devon und Karbon ihren Höhepunkt erreichte.
Monika Schröder, Rotation, Ausstellungsansicht, Hamburg 2020, Foto: Monika Schröder |
Zwar entwickelten sich auch die motorischen Möglichkeiten der immer komplexer werdenden Lebewesen, doch die Entwicklung der Sinne, zu denen sich schließlich, in Form spezialisierter Sinneszellen, auch der komplexere Gesichtssinn und die auditive Wahrnehmung gesellten, waren die entscheidenden Faktoren evolutionären Fortschritts. Je umfassender die Umwelt wahrgenommen wurde und je komplexer diese Informationen verknüpft werden konnten, desto überlebensfähiger war der jeweilige Organismus.
Als das am weitesten entwickelte Sinnesorgan kann aus dieser Perspektive das Gehirn gelten, allen voran das menschliche Gehirn, das zu vielschichtigenRepräsentationen der Außenwelt sowie der Selbstwahrnehmung fähig ist und damit eine selbstreflexive Innenwelt geschaffen hat: ein Bewußtsein - einen umfassenden Realitätsinn.
|
An der Aufgabe der Sinne hat sich allerdings nichts geändert: sowohl die primitiven Sinne der einfachen Protozoen sowie die komplexeren Sinneszellen der Eukaryoten bis hin zu der Erkenntnisfähigkeit des Menschen dienen einer sinnlichen Erforschung der Umwelt und der Orientierung darin, um das eigene Überleben und die Homöostase, also das ideale organische Gleichgewicht, zu sichern.
Dieser Handlungsimpuls führte unter anderem den Frühmenschen Homo Erectus vor ungefähr 1 - 1,5 Mio. Jahren zur Beherrschung des Feuers, eine Fertigkeit, die den vielleicht wichtigsten Entwicklungsschritt in der Menschwerdung darstellt, denn sie gilt als der wirkmächtigste Faktor bei der weiteren Entwicklung von Gehirn und Bewußtsein.
Durch das Garen der Nahrung wird weitaus mehr Energie zugänglich gemacht, als rohe Nahrung sie bietet. Dadurch konnte sich das Größenwachstum des Gehirns mit seinem enorm hohen Energieverbrauch fortsetzen. Andererseits mußten die Frühmenschen nicht mehr, wie zuvor, bis zu 8 Stunden mit Sammeln, Jagen und Kauen der Nahrung verbringen, sondern etwa nur noch die Hälfte der Zeit, wodurch sich ungekannte Handlungsfreiräume öffneten.
Auch setzte die Dunkelheit dem menschlichen Tun kein natürliches Ende mehr. Anstatt zu schlafen, versammelten sich die Menschen nun abends am Feuer und entwickelten in einem noch nie dagewesenen Maße ihre kommunikativen Fähigkeiten und erste mündliche Traditionen: Sie tauschten Erfahrungen aus und es entstanden die ersten mythische Narrationen, um die Erscheinungen der Welt und die Conditio Humana zu erklären.
|
Dem Homo Sapiens gelang es rund 1 Mio. Jahre später, die fossilen Lagerstätten des gebundenen Kohlenstoffs, die die frühen Eukaryoten gebildet hatten, zu erschließen. Im Jungpaläolithikum, um 12.000 v. Chr. wurde nur das oberflächlich austretende Bitumen nachweislich als Mittel zum Abdichten von Booten genutzt. Aber schon in den frühen Hochkulturen Mesopotamiens ist es als Brennstoff für Lampen nachgewiesen. Mit Hilfe des Feuers brach der Mensch, wenn auch zunächst nur in sehr bescheidenem Umfang, aus dem nachhaltigen Kohlenstoffkreislauf der Biosphäre aus.
Während Steinkohle in China und Mitteleuropa schon seit dem 13. Jhd. in überschaubaren Kontingenten, ab dem 17. Jhd. dann in immer größerem Maße als Brennstoff abgebaut wurde, erlebte das Erdöl erst seit 1859 mit den Bohrungen von George Bissel und Edwin Drake in Pennsylvania seinen kometenhaften Aufstieg. Es löste in Form von Petroleum rasch den Walrat als Lampenöl ab. Mit der Entwicklung des Verbrennungsmotors wurde die Dynamik des Erdölhandels schließlich zu dem maßgeblichen Vektor von Weltwirtschaft und - politik.
Derselbe Urimpuls des Lebens, der im Erdaltertum zur Evolution und Vermehrung der Mirkoorganismen führte, ist derselbe wie der, der heute in uns wirkt und in der jüngeren Geschichte dazu geführt hat, daß wir den fossil gebundenen Kohlenstoff wieder freisetzen und damit die von den frühen Eukaryoten in hunderten von Millionen Jahren geschaffenen Lebensbedingungen wieder zerstören: Es ist dies der Impuls, die Wirklichkeit so umfassend wie möglich wahrzunehmen, um anschließend so auf sie einzuwirken, daß wir homöostatische Bedingungen für uns schaffen können, in denen wir uns so schmerzfrei und bequem wie möglich ernähren und vermehren können. Und dazu bedienen wir uns, nach wie vor, des mächtigsten Werkzeugs und des effektivsten kulturellen Katalysators, den sich der Mensch jemals nutzbar gemacht hat: des Feuers.
Paradoxerweise liegt aber gerade in diesem Impuls, der uns in die gegenwärtige Krise geführt hat, auch die einzige Möglichkeit, dem kollektiven Selbst- und Massenmord, den der anthropogene Klimawandel bewirkt, Einhalt zu gebieten. Denn mit der Evolution der Erkenntnisfähigkeit und Selbsterkenntnis des Menschen ist ihm auch die Fähigkeit zu eigen geworden, in seiner Innenwelt ein Modell der Innenwelt anderer Menschen und Wesen zu schaffen: Spiegelneuronen ermöglichen uns, die Empfindungen und Emotionen anderer Menschen nachzuvollziehen und darauf empathisch zu reagieren, so wie uns die entwicklungspsychologisch übergeordnete „Theory of Mind“ ermöglicht, uns in die Gedankenwelt und auf den Erkenntnisstand anderer zu versetzen.
Und schließlich hat der Mensch, dem genannten Impuls folgend, die Evolution seiner Sinne selbst in die Hand genommen und sie um die Prothese der digitalen Netzwerke erweitert, die ihm nun ermöglichen, mit Menschen auf der ganzen Welt in Verbindung zu treten und Vorgänge auf der ganzen Welt zu verfolgen. Er hat begonnen, als jüngsten Schritt in seiner Evolution, ein globales Bewußtsein auszubilden, das ihm ermöglicht, durch empathisches und vernunftgeleitetes Handeln so zu agieren, daß nicht nur eine kurzfristige, individuelle Homöostase erreicht wird, sondern auch eine globale und nachhaltige Homöostase angestrebt werden kann, von der schließlich auch sein individuelles Wohlergehen und Überleben abhängt.
Wenn wir also nicht auf einer bereits überkommenen Entwicklungsstufe verharren wollen, bietet uns die stetig voranschreitende Evolution der Sinne, unser sich weitendes Bewußtsein für die Außenwelt, die Möglichkeit, die zerstörerischen Aspekte unseres Handelns zu erkennen, zu antizipieren, zu korrigieren und die angerichteten Schäden wenigstens teilweise zu heilen.
Ein Werkstoff, auf den Monika Schröder immer wieder zurückgreift, da er auch im Zusammenhang des Heilens eine große Rolle spielt, ist der Gips. Während sie ihn bei ihren sog. „Taktilos“ tatsächlich noch benutzte, um gebrochene Hölzer wieder zusammenzufügen, bleibt dieser Aspekt in ihrer neuen Werkserie, den „Rotationen“, als subtile Konnotation bestehen.
|
Aus feinen Drahtnetzen, kleinen Streifen von Gipsbinden und zarten Latexmembranen hat sie filigrane, durchlässige, fast schwerelose Objekte geschaffen, deren Formen mitunter stark an Wimperntierchen erinnern, an Eukaryoten, deren Oberfläche mit einer Vielzahl von Flimmerhärchen bedeckt ist. Manche von ihnen schweben im Raum, wodurch die Anmutung von Plankton verstärkt wird. Doch im Gegensatz zu den Mikroorganismen, deren Körper um ihren Verdauungsapparat aufgebaut ist, sind die Objekte von Monika Schröder körperlos. Sie sind reduziert auf das Drahtgespinnst ihrer Außenhülle mit den hautartigen Latexpartien und den Cilien aus Gipsbinden, die vorsichtig in die Umgebung ausgreifen, als wollten sie sie abtasten. Sie stehen für eine Schnittstelle mit der Außenwelt, eine behutsame, physische Kontaktaufnahme, und wecken in uns das Gefühl für den Prozess des sich Einfühlens, des Betastens und Erfahrens der Umwelt. Dergestalt drängen sie sich als Metapher sinnlicher und empathischer Wahrnehmung auf.
|
Gleichzeitig vermitteln sie den Eindruck großer Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit, manche scheinen auch schon von Auflösungserscheinungen gezeichnet zu sein. Tatsächlich wirkt die globale Erwärmung, zumal die Erwärmung der Ozeane, die wir hervorrufen, indem wir fossilen Kohlenstoff freisetzen, zuerst auf die Mikroorganismen, die entweder durch den entstehenden Sauerstoffmangel absterben, oder als von Cyaniobakterien ausgelöste Algenpest, die alle anderen höheren Organismen bedroht.
Die Vernichtung der vermeintlich schwächsten Kreaturen wird auch von einer weiteren bewußten Materialwahl aufgegriffen: Monika Schröder verwendet neben Gips und Drahtnetzen mit Wabenstruktur bevorzugt Bienenwachs und thematisiert damit das für uns sichtbarere und in seinen Konsequenzen konkretere anthropogene Sterben der Bienen und Insekten.
|
Eine weiteres Objekt, zu sehen im Keller des Einstellungsraums, erinnert stark an das hohle Kalkskelett einer Koralle. Gleichzeitig hat es auch die Anmutung eines gebeugten, menschlichen Torsos. Seine schneeweiße, durchbrochene Oberfläche ist gespickt mit den Enden schwarzer Kabelbinder aus Plastik, die sowohl als Stacheln, wie auch als Tasthärchen gelesen werden können. Darauf wird in Intervallen ein loderndes Feuer projiziert.
|
Hier prallen die antagonistischen Kräfte am plastischsten aufeinander und ihre gegenseitige Abhängigkeit wird am deutlichsten: Es durchdringen sich die Korallen, die noch heute gewaltige Mengen an Kohlenstoff aus der Atmosphäre binden könnten, mit dem gebeugten, menschlichen Körper und der unbändigen Kraft des Feuers, die für uns Segen und Fluch in einem ist. Die Borsten aus Plastik, selbst ein Produkt der Petrochemie, vereinen die ambivalenten Anmutungen von Tasthaaren oder drohend aufgerichteten Stacheln, von Kontaktaufnahme und Aggression. Der Wechsel von den Phasen, in denen das Objekt rot-orange flackert, zu denen, die seine blendend weiße Oberfläche entblößen, ruft Assoziationen mit der Algenbleiche hervor, die derzeit weltweit Korallenriffe bedroht und ebenfalls menschlichen Einwirkungen anzulasten ist.
Und dann sind da ein weiteres mal die Borsten oder Härchen, die sowohl an Abwehr denken lassen, wie an tastende Fühler oder Antennen, die in die Welt hinaus gesreckt sind.
Setzt man diese komplexen Zusammenhänge von Form, Material und projizierter Bildebene in den Kontext des Jahresthemas „Sprit und Spirit“, ließe sich der ausgestellte Werkkomplex auf folgende Weise lesen:
Daß unser Antrieb zum Handeln sich nicht darauf beschränkten sollte, sich der von uns in Gang gesetzten Dynamik der fossilen Energiewirtschaft unterzuordnen, die sich als überkommener Irrweg der Evolution erwiesen hat, als Enantiodromie, also als ein Aspekt, der vorübergehend einen Vorteil geboten hat, sich aber schließlich in sein Gegenteil umkehrt.
|
Vielmehr sollte der „Sprit“ unserer Kultur die Dynamik unserer Erkenntnisprozesse sein, so wie es der Evolution organischen Lebens schon immer zu Eigen gewesen ist.
Unser „Spirit“, unser empathisches Bewußtsein, dessen Grenzen sich immer mehr öffnen, darf sich dem nächsten Entwicklungsschritt, einem globalen Bewußtsein und einer daraus resultierenden globalen Verantwortung nicht verschließen, denn nur dieses Bewußtsein wird es uns ermöglichen, uns auch weiterhin dem Zustand der Homöostase anzunähern, der nur erreicht werden kann, wenn wir ihn nicht auf unsere Spezies beschränken, sondern ihn für alles Leben auf diesem Planeten als relevant erachten; wenn unsere Empathie nicht nur Freunden, Verwandten, Gesinnungsgenossen oder Landsleuten gilt, sondern jedem Lebewesen der 8,7 Millionen Spezies, bis hin zum Plankton in den Weltmeeren, dem wir dadurch hoffentlich noch die Chance geben, uns ein zweites mal Bedingungen zum Überleben zu schaffen.
|
Hinweise zur inhaltlichen Vertiefung:
• www.oekosystem-erde.de/html/geschichte_erdoel.html
• Stefanie Groll et.al., Kohleatlas, Heinrich Böll Stiftung, 2015
• Madeleine Böhme, Wie wir Menschen wurden, 2019
• Wilfried Westheide et.al. (Hrsg.), Spezielle Zoologie. Teil 1: Einzeller und Wirbellose Tiere.
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, August 2020