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Mittwoch, 4. November 2020

Die Rück-Verrätselung der Welt - Dr. Thomas Piesbergen zur Ausstellung „Übungsraum zur Verinnerlichung surrealistischer Annahmen“ von Thomas Rieck.

Die Ausstellung „Übungsraum zur Verinnerlichung surrealistischer Annahmen“ von Thomas Rieck findet vom 5. bis zum 27. November 2020 im Einstellungsraum e.V. statt.

Aufrgund der gegebenen Situation wurde sie auf eine Präsentation im Schaufenster des Galerieraums reduziert.

Thomas Rieck - Motiv der Einladungskarte zur Ausstellung


Am Anfang der menschlichen Kultur, am Anfang der Menschwerdung schlechthin steht, dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio zufolge, das Gefühl. Damasio beschreibt die Gefühle als die Wahrnehmungen körperlicher Steuerungsprozesse, die die Homöostase gewährleisten sollen. Die Homöostase wiederum ist das Grundprinzip der Selbstregulation proto-organischer und organischer Systemen und soll ihnen ein innerhalb bestimmter Grenzen gleichförmiges Fortbestehen sichern.

Voraussetzung für alle homöostatischen Prozesse ist die Fähigkeit eines Systems, auf das umgebende Milieu zu reagieren. Dabei spielen schon seit der Evolution der Bakterien zwei Prinzipien eine zentrale Rolle: Die Vermeidung von Schädigungen und Verletzungen und die Bevorzugung von Bedingungen, die ein bestmögliches Gedeihen des Organismus ermöglichen. In menschliche Begriffe gekleidet kennen wir diese beiden Komplexe als die Affekte Schmerz und Lust. Bereits auf der Ebene der Bakterien sind sie für flexible und hoch differenzierte Reaktionsmuster verantwortlich.

Im Laufe der Evolution entwickelte sich ein immer vielschichtigeres und stärker vernetztes Zusammenspiel von zunehmend spezialisierten Zellen, die nicht nur immer ausgereiftere Sinnesorgane an der Schnittstelle zur Außenwelt hervorbrachten, sondern auch immer feiner abgestimmt Möglichkeiten, die inneren, organischen Vorgänge wahrzunehmen und mit affektiv gebündelten Reaktionen darauf zu antworten. Ein tatsächliches Bewußtsein entstand aber erst in dem Moment, in dem unser Nervensystem die Fähigkeit entwickelte, die Vorgänge der körperlichen Regulierung durch Affekte auf einer Metaebene an sich selbst und schließlich auch an anderen wahrnehmen zu können.

Die bewußte Wahrnehmung dieser Zusammenhänge von äußeren Impulsen und körperlicher Reaktion bilden sich in unserem Geist als Gefühle ab. Die Ausbildung dieses Bewußtseins und der komplexeren Gefühle geht wiederum einher mit der Fähigkeit, Erinnerung zu bilden und sie mit den homöostatischen Zielen des Gedeihens und der Schmerzvermeidung in die Zukunft zu projizieren. Auf diesem Weg begreift das organische Bewußtsein erstmals sich selbst und auch Andere als Wesen, die in einem zeitlichen Vollzug befindlich sind.

An diesem Punkt ereignet sich nun etwas, das der Psychologe und Psychohistoriker Luigi de Marchi als den „Urschock“ bezeichnet: Die Erkenntnis der eigenen Zeitlichkeit, des eigenen Todes. Doch neben dieser entscheidenden Einsicht, die dem selbstregulierenden Komplex des Schmerzes angehört, entstand auch gleichzeitig die weitaus subtilere Erfahrung des Lebendigseins, die den homöostatischen Aspekt des Gedeihens repräsentiert, und die Heidegger die Erfahrung des „existentiellen Augenblicks“ nennt.

Diese beiden Erfahrungen - der Schock angesichts des individuellen Todes und das große Wunder des Seins - nötigen den Menschen dazu, sich eine Erklärung der Welt zu konstruieren. Ihr Zweck ist es einerseits, die Angst vor dem Tod abzuwehren, worin Luigi de Marchi den Ursprung aller Religion und Welterklärung sieht. Andererseits veranlassen uns die homöostatischen Prozesse, die mit dem Gedeihen befasst sind und unsere positive Neugier auf die Welt verursachen, das Wunder des Seins ergründen zu wollen, um durch tiefere Einsicht die bestmöglichen Bedingungen für unser zukünftiges organisches Gedeihen und das Fortbestehen der Spezies zu schaffen. In diesem Mechanismus sieht der Religionswissenschaftler Frederic Spiegelberg den Ursprung aller religiöser Systeme: „Zum Wunder des Seins erwecken, das ist das einzige, wahre Thema aller Religionen.“

Doch dieses Wunder des Seins, Heideggers „existentieller Augenblick“, ist, nach einem zen-buddhistischen Text, „zu deutlich, deshalb dauert es so lange, bis man es sieht.“
In Ansgar Gerstners Übersetzung des Dao Dejing heißt es im ersten Vers: „Ein Dao, von dem man reden kann, ist nicht ein beständiges Dao. Ein Name, den man nennen kann, ist nicht ein beständiger Name. Das Namenlose ist der Anfang von Himmel und Erde. Das Benannte ist die Mutter der "zehntausend Dinge".“
Bringt man diese beiden Aussagen in einen Kontext, offenbart sich allerdings das Dilemma aller Welterklärungen, zu denen wir uns getrieben fühlen. Der existentielle Augenblick, das Sein des Seienden, ist nicht benennbar, denn es ist das unteilbare Ganze. In dem Moment, in dem die Sprache ins Spiel kommt, wird die Symmetrie des All-Einen gebrochen, denn Sprache differenziert. Sie läßt die „zehntausend Dinge“ aus dem ungeteilten Sein hervorgehen. Jeder Versuch einer Versprachlichung geht also einher mit einer Entstellung der eigentlichen Erfahrung des Seins. So entwickelten sich zwangsläufig an verschiedenen Orten, obwohl von einer identischen Erfahrung und Problematik ausgehend, verschiedene Übersetzungen der initialen Erfahrung in Sprache.

Im Prozess ihrer Tradierung begannen diese Versprachlichungen eine, von ihrer jeweiligen Struktur abhängige, eigenständige Dynamik zu entwickeln, mit dem Ergebnis, daß schließlich verschiedenste religiöse Systeme einander unvereinbar gegenüberstehen, obwohl sie alle in der gleichen Grunderfahrung ihren Anfang genommen und sich mit dem gleichen Ziel entwickelt haben.
Der Schriftsteller und Wissenschaftsjournalist Robert Anton Wilson vergleicht diesen Prozess der Abstraktion, den bereits Heidegger als die Wurzel des Übels der Religion und Metaphysik bezeichnete, mit dem Erstellen einer Landkarte und der anschließenden Verwechslung von Landkarte und Landschaft, von Modell und Wirklichkeit. So ist es zu erklären, daß verschiedenste religiöse Traditionen, denen allen die Vorstellung des Göttlichen, oder spezifischer sogar das Konzept eines einzigen Gottvaters zugrunde liegt, sich gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen. Denn sie halten ihre jeweiligen Welterklärungen nicht für einen spezifischen Versuch der Versprachlichung einer grundsätzlichen Erfahrung mit dem Numinosen, sondern für die höhere Wahrheit an sich. Sie haben die Landkarte mit der Landschaft verwechselt.
So verhindern also, um zu dem zen-buddhistischen Text zurück zu kehren, unsere Versuche, die Welt zu erklären, die tatsächliche und unverfälschte Erfahrung der Welt, zu der uns die Welterklärungen eigentlich führen sollen.

Ähnliches wiederholt sich in der Wissenschaft. Auch hier konkurrieren zahlreiche Theorien miteinander, werden immer wieder Modelle mit der Wirklichkeit verwechselt und als Wahrheiten mißverstanden, vor allem, sobald sie popularisiert werden. Davon sind auch nicht selten die Wissenschaftler selbst betroffen, wenn sie sich nicht von ihren persönlichen Eitelkeiten lösen können, wenn sie dem horror vacui erliegen, also der Angst sich eingestehen zu müssen, trotz ihrer Bemühungen mehr Fragen als Antworten aufgeworfen zu haben, oder wenn sie ihre Ideen in ideologisch gesteuerten Kontexten entwickeln und nicht begreifen, daß ihre Art, die Welt zu erklären, nur eine mögliche Interpretation der Erscheinungen darstellt.

Doch ist die Wissenschaft als übergeordnetes System davon kaum betroffen, da ihr Treibstoff der Zweifel an sich ist, das heuristische Prinzip, demzufolge alle Ergebnisse nur vorläufig sind. Und schließlich bringt sie auch immer wieder Perspektiven hervor, mit denen sie sich selbst hinterfragt, wie es die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik tut, die unter anderem zum Inhalt hat, daß die Physik weniger die Wirklichkeit beschreibt, sondern vielmehr unsere Mittel, mit denen wir versuchen, die Wirklichkeit zu beschreiben; eine Wirklichkeit, die sich auf der subatomaren Ebene allen logischen Kategorien unseres Denkens entzieht - genauso wie es vom Tao gesagt wird.

Dennoch bleibt unser Alltagsbewußtsein befangen in den Prozessen der Rekapitulation, der Suche nach Mustern, der Abstraktion, der Modellbildung, der Antizipation und der Formulierung von Welterklärungen, die uns doch nur den Blick auf die Welt, wie sie tatsächlich ist, versperren.
In einem Brief an Jehan Myoux von 1956 schrieb Marcel Duchamp: „All dieser Mumpitz, die Existenz Gottes, Atheismus, Determinismus, Befreiung, Gesellschaft, Tod etc., sind Teile eines Schachspiels namens Sprache, und sie sind nur dann amüsant, solange man nicht zwanghaft damit beschäftigt ist, dieses Schachspiel zu gewinnen oder zu verlieren.“ 

Thomas Rieck, Tannen zapfen, 2020


Diesem Zwang, die Welt zu erklären oder sie erklärt bekommen zu wollen, der Angst, dem Unerklärlichen gegenüber zu stehen und es durch verständliche, doch zugleich unangemessene Modelle zu ersetzen, tritt Thomas Rieck mit seiner Kunst entgegen. Und so vielfältig die Behauptungen über den tatsächlichen Zustand der Welt sind, so vielfältig sind seine Ansätze, unsere Alltagskonzepte der Wirklichkeit zu untergraben.

In den letzten Jahren wendet Rieck immer wieder die Strategie der Fotoübermalung an. Die scheinbar objektiven, dokumentarischen Darstellungen dienen jeweils nur als Impulse für sich frei daraus entwickelnde Formen, Entstellungen und Projektionen. Dabei kann ein Foto Ausgangspunkt für ganze Serien unterschiedlichster Bildwerdungen sein. Denn all das, was uns begegnet, ist immer Gegenstand unserer Interpretation. Und die möglichen Interpretationen unterscheiden sich nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch wir interpretieren die gleichen Impulse zu unterschiedlichen Zeitpunkten je nach Zusammenhang und unserer Verfassung auf völlig unterschiedliche Art und Weise.

Thomas Rieck, O.T., 2020

Prominent in diesem Werkkomplex sind vor allem Gesichter. Bereits in seinem Werk „Orator“ schreibt Marcus Tulius Cicero: „Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.“ - und auch wir gehen meist davon aus, in dem Gesicht eines anderen Menschen seinen Charakter, seine Gefühle, seine Motivationen ablesen zu können. Zwar sind wir dank der Spiegelneuronen gut ausgestattet, die physischen Vorgänge der Gesichtsmuskulatur nachzuvollziehen und aus ihrer Rückkoppelung mit unserem selbstbeobachtenden Geist auf innere Vorgänge zu schließen, doch bleiben diese empathischen Rückschlüsse trotzdem immer nur Konstruktionen. Entsprechend entziehen sich die Gesichter Thomas Riecks allen deutenden Zuweisungen; ihre Mimik ist rätselhaft, mehrdeutig und wirkt dadurch nicht selten verstörend. Unsere Vorstellung, aus dem Antlitz des Anderen etwas Konkretes über seine innere Wahrheit heraus lesen zu können, wird als vergeblicher Versuch entlarvt.

Ein anderes Verfahren Thomas Riecks ist das Zeichnen mit geschlossenen Augen. Der horror vacui, den wir mit Schmerzvermeidung oder Sinnkonstruktion versuchen auszulöschen, wird durch die absichtslose Lust an dem kinetischen Prozess überwunden, der nur sekundär eine Gestaltung hervorbringt. Diese dient wiederum als Ausgangspunkt für einen offenen Prozess der Bildsuche.
Solche offenen Prozesse können auch von verschiedenen Materialien mit bereits vorhandenen Irritationen ausgelöst werden oder von Vorgehensweisen, die an das Erstellen von Rorschach-Tests erinnern. Zufällige Kleckse, Spritzer und andere Verunreinigungen liefern Impulse für die Improvisation.

Thomas Rieck, O.T., 2020

Die Motive, die schließlich in die Bilder finden, erinnern in ihrer Rätselhaftigkeit oft an verbildlichte Träumen oder Illustrationen für groteske Märchen. Immer wieder treffen Dinge aufeinander, die offensichtliche oder bekannte Kontexte vermissen lassen, die uns zwingen, selbst Zusammenhänge zu konstruieren, deren Absurdität uns aber gleichzeitig die Vergeblichkeit aller eindeutigen Deutungen vor Augen hält.

Thomas Rieck, Legalize it, 2020

Solche Diskrepanzen erzeugt Thomas Rieck häufig auch mit einer inkongruenten Kombination von Bild und Schrift. Unser suchender Geist ist bemüht, Narrationen aus den Text-Bild-Gefügen abzuleiten, sucht nach Anlehnungen an kulturell überlieferte Muster, doch findet sich schließlich immer nur wieder in dem noch leeren Denkraum der unvereinbaren Elemente, der dazu zwingt, das nicht entschlüsselbare Dargestellte zu transzendieren. Der Rezipient kann sich selbst bei der Konstruktion von neuen Narrationen beobachten, in vollem Bewußtsein, daß sie lediglich Möglichkeiten darstellen, niemals aber einen konkret intendierten Sinnzusammenhang enthüllen können, der a priori nicht existiert.

Thomas Rieck, O.T., 2020

Eine in jüngster Zeit besonders häufig genutzte Motivgruppe sind Tiere. Hier vermeidet Thomas Rieck gezielt alle Zusammenhänge der Domestikation, die z.B. beim Hund zur Herausbildung einer differenzierten Muskulatur der Augenbrauen geführt hat, die dem Wolf fehlt, weshalb Hunde mittels ihres „Hundeblicks“ mit uns kommunizieren können; eine Fähigkeit, die wir bei Wölfen vermissen und ihnen deshalb intuitiv Wildheit zusprechen. Rieck versucht den dargestellten Tieren diese Wildheit, diese Fremdheit zurück zu geben, die es unmöglich macht, sie zu anthropomorphisieren und damit zu vereinnahmen. Aus diesem Grund wählt er mitunter auch Spezies, die inzwischen ausgestorben sind und dem Menschen höchstens als seltene und gefährliche Jagdbeute begegnet sind, wie die Mammuts.

Thomas Rieck, O.T. 2020

So können wir dem Werk Thomas Riecks, und, durch es hindurch blickend, der Konstruktion unserer kulturellen Wirklichkeit, sofern wir nicht bereit sind, ihren scheinbar sicheren Grund zu verlassen, nur mit Befremden begegnen, mit Schrecken und Verstörung - oder aber mit einem läuternden Gelächter, das uns in eine vielleicht unheimliche, aber gleichzeitig allumfassende Freiheit entlässt, in der schließlich eine Begegnung mit dem Sein des Seienden, das Erleben des existentiellen Augenblicks möglich scheint.

© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, November 2020