In seinem Essay Kassandras Stimme schreibt der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Alberto Manguel: „Geschichten nähren unser Bewußtsein und können uns zur Erkenntnis darüber führen, wenn schon nicht wer, so wenigsten dass wir sind, zu einer essentiellen Bewußtheit, die sich in der Begegnung mit der Stimme des anderen herausbildet.
Wenn zu sein bedeutet, wahrgenommen zu sein, wie Bischof Berkeley bemerkte (…), dann sind wir, um zu wissen, auf das Wissen anderer angewiesen, die wir wahrnehmen und die uns wahrnehmen.“
Zwar spricht Manguel in diesem Text über die Literatur, doch können wir sie als spezielle Form der Kommunikation in diesem Zusammenhang als stellvertretend für deren Gesamtheit begreifen.
Wir brauchen also die Kommunikation mit anderen Menschen, um uns des eigenen Selbst zu vergewissern, unserer Erfahrungen, unserer Lebendigkeit.
Es liegt nahe daraus abzuleiten, man brauche ein Kommunikationsmedium, das geeignet ist, die dazu notwendigen Inhalte für beide Seiten verständlich zu übermitteln. Es muß imstande sein, Verständigung herzustellen. Dazu dient uns, neben der abbildenden Kunst, der Musik und den Ausdrucksformen des Körpers, vor allem die Sprache.
Über sie schrieb Elias Canetti jedoch in einem Interview zu seinem Roman Die Blendung: „Ich begriff, daß Menschen zwar zueinander sprechen, aber sich nicht verstehen; daß ihre Worte Stöße sind, die an den Worten der anderen abprallen; daß es keine größere Illusion gibt als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen. Man spricht zum anderen, aber so, daß er einen nicht versteht… Wie Bälle springen die Ausrufe hin und her, erteilen ihre Stöße und fallen zu Boden. Selten dringt etwas in den anderen ein, und wenn es doch geschieht, dann etwas Verkehrtes.“
An anderer Stelle in demselben Interview heißt es:
„Diese sprachliche Gestalt eines Menschen, das Gleichbleibende seines Sprechens, diese Sprache, die mit ihm entstanden ist, die er für sich allein hat, die nur mit ihm vergehen wird, nenne ich seine akustische Maske.“
Ganz im Gegensatz zur Auffassung Manguels, der in der Sprache ein Mittel zur Überwindung der Isolation sieht, erscheint die Sprache hier als etwas, das nicht zur Verständigung dient, sondern sie geradezu verhindert. Aus Canettis Sicht nutzen Menschen die Sprache, willentlich oder unbewußt, um sich dahinter zu verstecken, sich zu maskieren, sich zu verpanzern und um ihr Gegenüber zu attackieren.
Auch wenn diese beiden Aussagen sich gegenseitig auszuschließen scheinen, sind uns dennoch beide beschriebenen Gesichter der Kommunikation bekannt. Jeder von uns hat sowohl hoffnungslos gescheiterte als auch glücklich gelungene Kommunikation erlebt; Gespräche, in denen selbst der klarste, akkurat formulierte Gedanke den Raum zwischen zwei Menschen nicht überbrücken kann, und solche, in denen jede auch nur angedeutete Nuance verstanden wird.
Wie ist es also möglich, daß ein Medium, das so offensichtlich störanfällig zu sein scheint, dennoch imstande ist, das Gefühl von Verstehen und Verstanden-Werden in uns hervorzurufen?
Zur Erhellung dieses paradoxen Umstands möchte ich zunächst das Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun heranziehen. Nach Schulz von Thun hat jede Äußerung vier verschiedene Ebenen: Die Sachebene, die Beziehungsebene, die Apellebene und die Selbstoffenbarungsebene, die sich zum sog. Sprachquadrat zusammenfügen. Je nach charakterlicher Disposition und akuter Stimmung bevorzugen wir mal diese, mal jene Ebene. Operieren jedoch zwei Gesprächspartner auf einer jeweils anderen Ebene, sind Mißverständnisse eine notwendige Folge.
So gilt z.B. als eine der Hauptfehlerquellen in der Kommunikation zwischen Mann und Frau, daß Männer sich meist auf der Sachebene bewegen, während Frauen der Beziehungsebene deutlich mehr Gewicht beimessen. Während also die eine Seite sich ausschließlich mit der rein technischen Lösung eines Problems beschäftigt, ist es der anderen Seite wichtiger, die Gefühle angesichts des Problems miteinander zu teilen und die Bereitschaft zu signalisieren, gemeinsam eine Lösung finden zu wollen. Die Verstimmungen und Verwerfungen, die daraus resultieren können, sind den meisten von uns ebenfalls hinlänglich bekannt.
Nach diesem Kommunikationsmodell gelingt eine Kommunikation also nur dann, wenn sich entweder beide Gesprächspartner zufällig auf einer Ebene treffen, oder wenn sie imstande sind, die Ebene des jeweils anderen zu erspüren, die Nachricht angemessen entschlüsseln und anschließend auf der gleichen Ebene zurück senden. Will man schnell getaktet kommunizieren sind dazu zusätzliche Signale des Körpers wie Stimmmelodie, Mimik und Gestik notwendig, um die Aussagen angemessen zu markieren.
Um diese Signale des Körpers in einer schnell getakteten, spontanen aber körperlosen Kommunikation zu ersetzen und damit Mißverständnissen vorzubeugen, führte der Informatiker Scott Fahlmann schon 1981, in der Frühzeit der E-Mails, die Emoticons ein. Sie sollten dazu dienen, um ironische Bemerkungen, die übereilt und ohne sorgfältige sprachliche Kennzeichnung verschickt wurden, von ernst gemeinten zu unterscheiden. Denn diese Art des Mißverständnisses, die aus den Gegebenheiten des neuen Mediums entstanden war, breitete sich überraschend schnell und wirkte sich ebenso überraschend destruktiv auf die Kommunikation innerhalb seines Instituts aus.
Doch es gibt auch noch eine weitere Art des Mißverständnisses, die mit dem Sprachquadrat nicht in vollem Umfang erfasst werden kann. Sie bildet die innere Struktur des Romans Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan Kundera und wird dort protokolliert in dem sog. Kleinen Verzeichnis mißverstandener Wörter.
In diesem Verzeichnis führt Kundera vor, wie einzelne Begriffe, also die Grundelemente der Sprache, von jedem Individuum mit vollkommen unterschiedlicher, idiosynkratischer Bedeutung aufgeladen werden. Jeder Begriff, wie auch jeder andere Sinnesimpuls, löst bei jedem Menschen völlig unterschiedliche Assoziationskaskaden aus und steuert individuelle Erinnerungen und emotionale Komplexe an, die schließlich unsere Individualität konstituieren. Aus diesem Grunde kann eine übermittelte Information niemals von zwei unterschiedlichen Menschen auf die selbe Art und Weise aufgefasst werden.
Das bedeutet aber auch, das jeder Sprachgeflechte in sich trägt, die einer eigenen, individuellen Logik unterworfen sind, und die unser Sprechen unbewußt mitgestalten.
Über die dadurch notgedrungen bedingte Vieldeutigkeit schrieb Umberto Eco bezüglich der Literatur: „Die große Mehrheit der Lesarten bringt jedoch überraschende Sinnzusammenhänge ans Licht, an die man beim Schreiben gar nicht gedacht hatte.“
Ein Empfänger kann also aus einer Nachricht mehr Information herauslesen, als vom Sender ursprünglich beabsichtigt. Zudem wird er notwendigerweise neue, in seiner Subjektivität wurzelnde Bedeutungen generieren. Diese Erkenntnis zieht Eco als gewichtiges Argument gegen die Interpretation des eigenen Werkes heran, da der Autor dadurch die Erschließung von Informationen, die er unbewußt in die Struktur der Nachricht eingebettet hat, ebenso verhindert, wie die vom Text ausgelösten kreativen Prozesse im Geist des Lesers.
Vor dem Hintergrund dieser Aspekte wird es schließlich vorstellbar, eine vordergründig gescheiterte Kommunikation dennoch als eine geglückte zu betrachten.
Das Konzept des Kommunikationsquadrats erlaubt sowohl Interaktionen, die zwar auf der Beziehungsebene scheitern, aber dennoch auf der Sachebene zu einem Ergebnis führen, als auch Gespräche, die auf der Sachebene scheitern, gleichzeitig aber auf der Beziehungsebene für beide Seiten befriedigend sind.
Man denke nur an zwei Wissenschaftler, die trotz persönlicher Mißverständnisse und Spannungen ein Forschungsvorhaben erfolgreich abschließen, da sie zwar auf der Beziehungs- oder der Selbstoffenbarungsebene scheitern, sich aber auf der Sachebene erfolgreich austauschen können; oder an zwei Menschen, die sich aufgrund einer Sprachbarriere nur unzureichend über eine Sachfrage verständigen können, sich aber dennoch gleichzeitig der gegenseitigen Sympathie versichern und dementsprechend auf der Beziehungsebene ausgesprochen erfolgreich operieren können.
Die Auffassung von Sprache, wie sie Kundera und Eco teilen, läßt eine andere Möglichkeit des Gelingens im Scheitern zu, in Form eines positiven Mißverständnisses, in dem eine Äußerung vom Empfänger in einen Sinnzusammenhang gestellt wird, der den vom Sender intendierten transzendiert.
So kann einerseits ein Monolog dem Empfänger durch eine vermeintliche Fehlinterpretation Informationsfelder über den implizierten Bedeutungsgehalt hinaus erschließen; andererseits können die vom Sender ursprünglich intendierten Inhalte durch eine Rückmeldung an den Sender, von diesem wiederum in einem völlig neuen Licht betrachtet werden und ihm so neue Perspektiven und neue Denkoptionen eröffnen.
Wenn sich dieser Moment der Rückkoppelung mehrfach ereignet, kann innerhalb der Kommunikation ein eigenständiges Gedankengefüge entstehen, dessen Dynamik und Komplexität die der jeweiligen Kommunikationspartner deutlich übersteigt, und in dem sich neue Gedanken und Ideen entwickeln können. Dieses Phänomen faßte der Philosoph und Schriftsteller Robert Anton Wilson in dem Satz zusammen „Wenn zwei Gehirne miteinander kommunizieren entsteht ein drittes.“ Es entsteht kollektive Meta-Intelligenz.
Um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Kommunikation und die Dynamik der Mißverständnisse auszuloten, haben sich die Künstlerinnen Elina Saalfeld und Francisca Markus stellvertretend für alle Kommunikationsarten das Medium Rhythmus und Klang ausgewählt. Über einen längeren Zeitraum haben sie sich Audio-Fragmente zugeschickt, die weder durch Körpersignale, Texte oder darüber geführte Gespräche erläutert wurden. Wenn eine der Künstlerinnen ein solches Fragment erhalten hat, deutet sie es unabhängig von einer möglichen Intention und antwortet darauf mit einem neuen Fragment.
Dabei bedienen sie sich sehr unterschiedlicher klangerzeugender Medien, die man wiederum im Sinne des Diktums „The medium is the message“ von Marshall McLuhan auf das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun ummünzen kann: Während Elina Saalfeld auf eine radikal abstrahierte Weise Klänge und Rhythmen erzeugt, in dem sie Algorithmen programmiert, was man mit der Sachebene gleichsetzen kann, nutzt Francisca Markus den eigenen Körper als intuitiv agierende Klangquelle. Als Signale ihrer realen Physis kann man diese Klangartefakte als Informationen auf der Selbstoffenbarungsebene lesen. Es werden dabei also Inhalte übermittelt, die zu übermitteln ein Algorithmus niemals fähig wäre.
Auf diesem Weg entstand eine große Sammlung von Klangartefakten, die von kleinen digitalen Wiedergabegeräten abgespielt werden, die wiederum mit Hilfe von Spanngurten im Raum installiert sind. Dabei halten sich in der Regel zwei miteinander verbundene Wiedergabegeräte im Gleichgewicht und demonstrieren damit ihre gegenseitige Abhängigkeit im Dialog; ganz im Sinne der Aussage George Berkeleys, das Sein wäre bedingt durch gegenseitige Wahrnehmung.
In einem so durch die Bezüglichkeit der Klangquellen strukturierten Raum ertönen die Artefakte in einem offenen Arrangement, das im zeitlichen Vollzug dem Zufall immer mehr Raum gibt und sich dadurch schließlich in einem nicht vorhersehbaren Zusammenspiel entfaltet. Wir werden also Zeuge der Nachstellung eines Dialogs, der bereits von idiosynkratischen Umdeutungen geprägt ist und der nun, trotz kontrollierter Ausgangsbedingungen, Verschiebungen und Inkongruenzen zeitigen wird, die wir wiederum als Empfänger nach unserem Belieben und vor dem Hintergrund unserer assoziativen Ressourcen deuten können. Dementsprechend werden einige von uns das Gefühl haben, da sie einen kohärenten Sinnzusammenhang herstellen können, einem gelungenen Dialog zu lauschen; andere hingegen werden das Gefühl haben, Zeugen eines Scheiterns zu werden.
Der Titel dieser Installation lautet Misunderstood Careless Whispers und nimmt explizit Bezug auf die Pop-Ballade Careless Whisper von George Michael, die zu einem Symbol des 80er-Jahre-Kitschs geworden ist. Übersetzt bedeutet der Titel „Leichtsinniges Geflüster“ und verweist damit auf die unabsehbaren Folgen einer gedankenlosen oder übereilten, potenziell mißverständlichen Äußerung - ein Umstand, der im Ausstellungstitel ganz bewußt aufgegriffen wird.
Interessanterweise ist das Lied für sich genommen als ganz bewußt für den Musikmarkt kalkulierte Vorspiegelung von Gefühligkeit völlig unmißverständlich. Es erzählt eine von Klischees strotzende, rein fiktive Geschichte von einem Betrug in der Liebe und ist mit ebensolchen musikalischen Klischees orchestriert. Wegen seines großen Erfolges wurde es jedoch zum Objekt zahlloser, tiefgründiger Interpretationen, was den Komponisten selbst entsetzte, da er in dem Lied niemals etwas anderes gesehen hatte, als ein oberflächliches, für den Markt konzipiertes Pop-Produkt.
Während sich andere Künstler danach sehnen, gesehen und als tiefgründig begriffen zu werden, wurde George Michael durch die Überinterpretation des Stückes als Songwriter völlig desillusioniert. Gleichzeitig aber haben zahllose Hörer aus dem Stück für sie hoch bedeutsame Sinnzusammenhänge herausgelesen. Dadurch empfanden sie, die Kommunikation, die der Sender als tragisch gescheitert betrachtete, als glückhaft gelungen.
An dieser Stelle möchte ich meine Ausführungen abbrechen und die Besucher nun ihrerseits dem offenen Dialog mit dem Kunstwerk und den beiden Künstlerinnen überlassen, die, ganz im Sinne ihrer Arbeitsweise, eine abschließende Interpretation ihrer Arbeit ablehnen, da sie dem offenen Prozess vom Mißverständnis und dessen Rückkoppelung zuwider liefe. So überlasse ich nun den gedanklichen Raum den umgedeuteten Sinnzusammenhängen und einer wohlmöglich scheiternden und dennoch zugleich glückhaft gelingenden Kommunikation.
© Thomas Piesbergen / VG Wort, September 2021
Literatur:
Alberto Manguel, Eine Stadt aus Worten, Fischer Verklag, Frankfurt a.M., 2011
Elias Canetti, zitiert nach: Manfred Durzak, Gespräche über den Roman, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1976, S. 116, 117
Friedemann Schulz von Thun, Miteinander Reden: Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg, 1981
https://de.wikipedia.org/wiki/Emoticon#Geschichte & http://www.cs.cmu.edu/~sef/Orig-Smiley.htm
Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1984
Umberto Eco, Nachschrift zum ,Namen der Rose‘, Carl Hanser Verlag, München/Wien, 1984
Robert A. Wilson, Der Neue Prometheus - Die Evolution unserer Intelligenz, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 2002
Nigel Goodall, George Michael: In His Own Words, Omnibus Press, London, S. 39