Esther Heltschl, Sehen-Sucht, 2022 |
Ein zentraler Aspekt der Menschwerdung und gestaltgebende Kraft aller ideellen menschlichen Kultur ist eine Fähigkeit, die uns so selbstverständlich und alltäglich erscheint, daß wir ihre Bedeutung und tiefgreifende Wirkung auf unser Leben kaum wahrnehmen. Es ist unsere Fähigkeit Geschichten zu erzählen.
Die Voraussetzungen des Erzählens sind die Fähigkeit, die zum Sprechen notwendigen Laute zu bilden, eine Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft zu haben sowie von der sich daraus ableitenden Kausalität, und ein selbstreflexives Bewußtsein, das einhergeht mit der sog. „Theorie of Mind“, also dem Vermögen des Menschen, sich ein Bewußtsein vorzustellen, das nicht sein eigenes ist, sondern das eines anderen Menschen, der imstande ist, ebenso wahrzunehmen, zu fühlen und zu denken wie er selbst.
Aus diesen Merkmalen des werdenden Menschen ging das Erzählen von Geschichten emergent als überlegene evolutionäre Strategie hervor. War ein Mensch einer gefährlichen Situation ausgesetzt und überlebte sie, konnte er den Mitgliedern seiner Gruppe davon berichten. Er konnte schildern, wie er eine Herausforderung gemeistert hatte oder einer Gefahr entronnen war, und konnte seine Zuhörer dadurch auf ähnliche Situationen vorbereiten und ihnen Lösungsstrategien mit auf den Weg geben. Durch Geschichten wurden also Problemlösungen vermittelt.
In dem Geschichten anderer rezipiert und in der Vorstellung nachvollzogen wurden, entstand zudem ein hypothetischer Raum. Auf der inneren Bühne des menschlichen Geistes konnten sich Dinge abspielen, die von den Individuen selbst nicht erlebt worden waren. Es entstand die Fiktion.
Da der Mensch zudem gelernt hatte, alle Beobachtungen in narrative Kausalketten zu überführen, um den Herausforderungen seiner Umwelt planend begegnen zu können, wurden auch Ereignisse, die für das menschliche Leben essentiell aber unerklärlich waren, mit fiktiven Ursachen versehen, aus denen wiederum Strategien abgeleitet werden konnten, um diese Widrigkeiten vermeintlich zu überwinden, oder sich wenigstens vor ihnen zu schützen.
So entstanden die ersten mythologischen Narrationen, die die Erlebniswelt des Menschen strukturierten und sich schließlich zu religiösen Systemen verfestigten .
Indem Geschichten tradiert wurden, konnten sie bereits in der Frühzeit zum kulturellen Erbe einer Menschengruppe werden. Die Gruppe konnte sich wiederum über ihre spezifischen Geschichten von anderen Gruppen absetzten und sich selbst definieren.
Gleichzeitig entstand beim Erzählenden eine individuelle Identität. Indem er erzählte, setzte er sich von seinen Zuhörern ab. Er wurde von ihnen als der Akteur und Vermittler der erzählten Ereignisse wahrgenommen. Dieses Wahrgenommen-Werden wirkte reflexiv auf die Selbstwahrnehmung des Erzählenden zurück. Nicht das Ereignis selbst, sondern erst das Erzählen und das Gehört-Werden, ermöglichten es, den Unterschied zwischen der eigenen und der fremden Erfahrung zu realisieren. Die individuelle Identität entstand also aus einer Selbsterzählung, ebenso wie die Gruppenidentität aus der Summe kollektiver Erzählungen entstand.
Bis heute hat sich weder an dieser psychologischen und sozialen Funktion von Geschichten, noch an deren Grundstrukturen etwas geändert.
Da die Geschichten in der Frühzeit des Erzählens nicht nur von singulären Ereignissen berichteten, sondern auch von den zyklischen Krisen des menschlichen Lebens, und sich selbst außergewöhnliche Ereignisse über die Generationen hinweg wiederholten, kam es zu Überlagerungen der Geschichten, in denen sich die erzählten Elemente verdichteten zu wertaffirmativen und schließlich normativen Komplexen. Diese Komplexe bezeichnet man als Narrative. Es sind einzelne Denkfiguren, die wertende erzählerische Strukturen implizieren und damit soziale Werte und Normen vermitteln.
Vielleicht waren die ersten Narrative die vom bösen Tier in der Dunkelheit, von der eingeschworenen Jagdgemeinschaft, von der schützenden Macht des Feuers oder des selbstlosen Muts, der zur Überwindung gefährlicher Jagdbeute führen konnte.
Ein belegtes Narrativ, das wir an der Kunst des Mittelpaläolithikums ablesen können, war das der lebensspendenden, universellen Weiblichkeit, das erst Jahrtausende später in den patriarchalen Kulturen von dem Narrativ der Frau als Heiligen oder Hure ersetzt wurde.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte wuchs die Zahl der Narrative und während die Menschen immer zahlreicher und die Gruppen immer differenzierter wurden, wurden auch die normativen Narrative immer differenzierter und differenzierender. Manche von ihnen wurden zum Grundakkord ganzer Gesellschaftssysteme. Eines dieser heute dominanten Narrative ist z.B. das individualistische „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ des Calvinismus, in dem Max Weber die Grundstruktur des kapitalistischen Geistes sah. Wir begegnen ihm in fast allen Hollywood-Produktionen, in neoliberalen Parteiprogrammen, in der Ratgeber- und Selbsthilfeliteratur, in Redensarten, in der Werbung, in politischen Kommentaren, in den Selbsterzählungen digitaler Influencer, in gutgemeinten Ratschlägen etc.pp..
Ein anderes Narrativ, das bereits uralt ist und etliche Überformungen erlebt hat, ist das Narrativ vom Gelobten Land. Um dessen Mechanismus zu begreifen, müssen wir wieder einen kurzen Blick auf die Psychologie des Erzählens an sich werfen. Wie weiter oben dargestellt werden Geschichten erzählt, um Problemlösungen aufzuzeigen. Wenn wir heute einer Narration folgen, in der eine Figur mit einer schier unlösbaren Aufgabe konfrontiert wird, erwarten wir, daß die Figur über sich selbst hinauswächst und das Problem löst; oder wir sehen die Figur scheitern, lernen daraus aber, welche Transformation sie hätte durchleben müssen, um das Problem zu lösen.
Wirklich ausweglose Szenarios sind ausgesprochen selten und nehmen in der Literaturgeschichte einen Sonderstatus ein, wie die exemplarischen Erzählungen und Romane Franz Kafkas. Denn in allen anderen Narrationen wäre der Prozess zu gewinnen oder das Schloß zu betreten. Diese Variante bleibt also ein Einzelfall und wird entsprechend als „kafkaeske Situation“ bezeichnet.
Wenn also von einem Problem erzählt wird, wird in der Regel zugleich vorausgesetzt, das Problem sei lösbar. Ebenso verhält es sich mit dem fernen, meist schwer erreichbaren Ort, dem Gelobten Land. Den psychologischen Gesetzen der Narration zufolge, muß dieser Ort erreichbar sein. Die Hoffnung wird mit erzählt.
Die ersten Geschichten, in denen sich das Narrativ vom gelobten Land herausbildete, entstanden mit größter Wahrscheinlichkeit in Zeiten, in denen die Nahrungsressourcen von Menschengruppen lebensbedrohlich reduziert waren und die Suche nach neuen Lebensräumen deshalb unvermeidlich wurde. Um einen Zustand des Mangels zu überwinden, mußte eine Herausforderung angenommen und eine Reise unternommen werden. Da Überlebende von erfolgreichen Suchen Berichten konnten, die Toten aber nicht vom ihren Scheitern, gab es nur das Narrativ der erfolgreichen Suche. „Wer suchet, der findet.“. Voraussetzung war also die feste Überzeugung, das Ziel der Reise wäre erreichbar. Kein Aufbruch ohne Hoffnung. Und da die Hoffnung mit erzählt wurde, konnte eine solche Reise auch unternommen werden, selbst wenn das Ziel nur in der Sphäre des Hypothetischen existierte.
Seit diesen Ursprüngen tritt uns das Narrativ des Gelobten Land in zahllose Variationen entgegen. Wir finden es in der Bibel als Kanaan, es ist zentraler Topos im Gründungsmythos des aztekischen Reiches, für die Konquistadoren war es Eldorado, für die Calvinisten und Puritaner war es Amerika, für die Seefahrer des 18. und 19. Jahrhunderts waren es die Inseln im Pazifik, in der deutschen Klassik war es Italien, in der deutschen Nachkriegszeit kam Spanien als exotischer Sehnsuchtsort dazu, für zivilisationsmüde Auswanderer sind es heute Neuseeland, Australien oder Kanada und für die weniger Wagemutigen sind es die weißen Palmenstrände der Malediven oder Ägyptens, von Mallorca, oder die an der türkischen Riviera mit All-Inclusive-Pauschalangebot. Und für Notleidende in Afrika und Westasien ist es Europa, für das sie sogar ihr Leben riskieren.
Nicht zu vergessen sind natürlich auch die religiös konnotierten Orte, die, als Kreuzungspunkt der sakralen Vertikalen und der profanen Horizontale als Mittelpunkt der spirituellen Welt gelten und an denen ein unmittelbarer Kontakt mit dem Numinosen verheißen wird, wie z.B. Mekka, Jerusalem oder Rom. In den dualistischen Religionen, die alles diesseitige Dasein schließlich als sündig verdammten, wurde zudem die Vorstellungen eines paradiesischen Jenseits’ immer konkreter und gegenständlicher und zum letzten und einzigen Ziel menschlicher Anstrengung.
Die jüngste Variante des gelobten Landes ist die virtuelle Welt mit ihren vielen Erscheinungsformen. Seit bald 20 Jahren nehmen Menschen in Second Life alternative Identitäten an und leben im digitalen Raum ihre Fantasien aus; Generationen von Teenagern sind vor einer unerfreulichen Wirklichkeit in Spiele wie World of Warcraft oder Minecraft geflohen; moderne Glücksritter schürfen im Internet nach Kryptowährungen, die größere Reichtümer verheißen als Eldorado; und im kommenden Metaversum von Facebookgründer Zuckerberg werden bereits virtuelle Grundstücke verkauft.
Doch ganz gleich, ob diese verschiedenen Varianten des gelobten Landes nun himmlische oder irdische Erlösung versprechen, implizieren alle Erzählungen immer einen intolerablen Mangel, den das Individuum im Hier und Jetzt erleidet. Zudem wird herausgestrichen, daß der aktuelle Aufenthaltsort niemals dazu geeignet ist, den erduldeten Mangel zu beheben. Das vermag nur das als erreichbar konzipierte Gelobte Land.
Diese drei Aspekte - das mangelleidende Individuum, der unzureichende Ort und die Erreichbarkeit des Gelobten Landes - sind wiederum eng mit dem Narrativ der heilsbringenden Mobilität verknüpft. Im Laufe des 20. Jahrhunderts erlebte dieses Narrativ in Verbindung mit dem Narrativ individuellen Erfolgsstrebens einen atemberaubenden Aufschwung in Form der Automobilisierung der Gesellschaft und des Individualverkehrs als Massenphänomen. Bis heute wird es mit Nachdruck erzählt.
Die heraufbeschworene Bedeutung der Mobilität ist so essentiell geworden, daß sie sich schließlich sogar von der Idee eines zu erreichenden Ziels emanzipiert hat, und nicht mehr nur als Mittel zum Zweck, sondern als eigenständiger und essentieller Wert gilt. Der unbegrenzte Individualverkehr gilt per se als glücksverheißend, ganz gleich, ob er uns irgendwo hinbringen kann. Denn der Zustand des Einzelnen, sowie der Ort, an dem er sich befindet, können gar nicht anders sein als mangelhaft, sodaß selbst die ziellose Bewegung erstrebenswerter erscheint, als dort zu bleiben, wo man ist.
Dieses problematische Symptom sprach bereits der Philosoph Blaise Pascal mit dem Satz an: „Alles Unheil kommt von einer einzigen Ursache, dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen können.“
In dem vorliegenden Werkkomplex von Esther Heltschl treten diese drei erwähnten Narrative, das Gelobte Land, das sozial entkoppelte, individuelle Glücksstreben und die maximale Mobilität, in einen Dialog, in dessen Spannungs- und Bedeutungsfeld sich eine treffende und entlarvende Zustandsbeschreibung der postindustriellen Zivilisation ablesen läßt.
Das Automobil tritt uns in Form hermetisch in sich geschlossener, hohler Metallkörper entgegen. Sie alle bestehen aus zwei zusammengeschweißten, polierten Blechen und wirken wie aufgeblasen oder gedunsen. Eine Seite ist jeweils mit der Außenaufnahme eines Autos aus Google-Earth-3D bedruckt, die andere mit einer Aufnahme des Innenraums. Die Flächen, an denen sich die Fenster befinden, wurden jeweils unbedruckt belassen, sodaß der Betrachter darin sein eigenes mattes Spiegelbild erahnen kann. Die Oberfläche wird also zum Innenraum und schließt sich in einem introspektiven, statischen Loop, der mit der geschlossenen Objektform korrespondiert. Der Blick hat sich bereits stellvertretend durch digitales Mapping ereignet, der Betrachter selbst wird zu einer passiven, peripheren Erscheinung in diesem materialisierten Zustand der Rückkoppelung.
Neben den isolierten automobilen Entitäten sehen wir eine Reihe von Windschutzscheiben, auf denen sich, wie auf Displays, Abbildungen von Landschaften befinden. Die wahrzunehmende Außenwelt liegt nicht jenseits der Scheibe, sondern ist Teil von ihr geworden, sie ist etwas, das nur noch denkbar ist als ein Aspekt unseres individuellen, von der Umgebung sorgsam abgeschotteten Vehikels.
Die gezeigten Landschaften sind ebenfalls Screenshots von Google-Earth-3D und zeigen einen Ort, der eng mit einem wissenschafts- und sozialgeschichtlichen Ursprungsmythos verbunden ist. Es sind Bilder der Galapagos-Inseln, die nicht nur eine der letzten unberührten Regionen der Erde darstellen, sondern als eine der Stationen verstanden werden, an denen der Formierungsprozess von Darwins Evolutionstheorie seinen Anfang nahm. Die besonders von den Neodarwinisten betonte permanente Konkurrenz der Individuen als alleinigem Motor der Entwicklung befeuerte wiederum das Narrativ des individuellen Kampfes um das Glück, das im Zentrum der calvinistischen, kapitalistischen und neoliberalen Logik steht.
Genauso erfüllen die Galapagos-Inseln das Narrativ des Gelobten Landes. Unter Seefahrern waren sie bis in das 19. Jahrhundert unter dem Namen Islas Encantadas bekannt, die „Verzauberten Inseln“, und man sagte ihnen wegen der starken, sie umgebenden Strömungen nach, daß sie ohne festen Ort auf dem Ozean umhertrieben.
Ihre isolierte Lage und die einmalige endemische Fauna und Flora machen sie zudem zu einem exotischen Paradiesgarten unberührter Natur und damit zu einer Metapher zivilisatorischer Sehnsucht nach einer Umwelt vor dem zerstörerischen Sündenfall der Industrialisierung. Doch durch die virtuelle Hypermobilisierung ist dieser Ort schließlich allseits zugänglich geworden und nur wenige Mausklicks entfernt.
Die von Google Earth eingefangenen Bilder aber tragen einen entscheidenden digitaler Fehler in sich: auf zweien interpretierte der Algorithmus von Google die Wolkenformationen über den Inseln als Merkmal ihrer Oberfläche. Er erzeugte also virtuelle Bilder, die im wahrsten Sinne des Wortes einen „Himmel auf Erden“ darstellen. Damit wird ihnen unbeabsichtigt jeder Anspruch auf Authentizität genommen. Sie werden entlarvt als Konstruktionen, die uns zugleich den utopischen Charakter unserer eskapistischen Sehnsüchte, befeuert von dem Narrativ des Gelobten Landes, widerspiegeln.
Und selbst diese Fluchtphantasie kann nur ausagiert werden als Aspekt der Interaktion mit unserem individuellen und isolierenden Vehikel, sei es das digitale Interface zum navigieren im raumlosen Raum des Internets oder das Automobil mit hermetischer Fahrgastzelle, in der wir uns irrealen Bildern eines Ortes aussetzen, an dem noch niemals ein Automobil gewesen ist.
So erweisen sich in dem Werkkomplex "Sehen-Sucht" von Esther Heltschl die drei verhandelten Narrative als das, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich keine Beschreibungen tatsächlicher Gegebenheiten der Wirklichkeit, sondern lediglich kulturell ererbte erzählerische Operatoren, mit denen wir versuchen unseren Handlungen in einer uns nur begrenzt zugänglichen und verständlichen Wirklichkeit eine sinngebende Struktur zu verleihen.
© Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Juni 2022