Die Ausstellung "velato" wird bis zum 23. Oktober in der Galerie Morgenland in Hamburg-Eimsbüttel gezeigt. Ein virtueller Rundgang ist in der Kunstmatrix möglich (KLICK), in der die Skulpturen leider nicht wieder gegeben werden können.
Adriane Steckhan, velato_fragment_01 |
In seinem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ schrieb der tschechische Romancier Milan Kundera über Licht und Schatten:
Er spielt damit auf zwei metaphorische Zusammenhänge an, die schon seit langer Zeit mit dem Tod assoziiert sind.
Von der sumerischen Unterwelt heißt es im Gilgamesh-Mythos: „...Haus des Dunklen, Sitz der Irkalla, ... dessen Bewohner beraubt sind des Lichtes, ... sie dürfen das Licht nicht schauen, denn sie sitzen im Finstern... Über das Haus des Staubes ist Totenstille gegossen.“
Im antiken Griechenland gab es das Bild vom Reich der Schatten als Wohnort der Toten. Auch das germanische Helheim, Domäne der Totengöttin Hel, wird als dunkler, nebliger Ort beschrieben. Das Unterirdische Totenreich der Maya, Xibalba, dessen Name „Ort der Angst“ bedeutet, lag in der unterirdischen Nacht der Höhlen verborgen. Und die hinduistische Totengöttin Kali ist selbst nachtschwarz. Man könnte diese Reihe von Beispielen beliebig fortsetzen.
Die Verknüpfung von Tod und Dunkelheit scheint also universell. Und so wie der Tod das ursächliche Faktum Tremendum ist, die furchteinflößende Tatsache schlechthin, so ist auch die Dunkelheit fast immer angstbehaftet.
Folgt man den Gedankengängen von Bruce Chatwin zu den Mechanismen von Angst und Aggression, die er in seinem Buch „Traumpfade“ entwickelt, liegt der Ursprung dieser Verbindung in der Vorzeit des Menschen begründet, denn in der Dunkelheit lauerte der Tod in Form wilder Tiere. Um sich vor der drohenden Gefahr zu schützen, mußten die Vormenschen imstande sein, mögliche Gefahren in der Dunkelheit zu ahnen, also Dinge in das Unsichtbare zu projizieren. So lauerte die Gefahr nicht nur faktisch in der Dunkelheit, sondern die Dunkelheit wurde in der Vorstellung schlechthin zur Wohnstätte des Bösen und Todbringenden. Als die Vormenschen lernten, das Feuer zu beherrschen, wurde dessen Licht wiederum zu einem Schutz vor Dunkelheit und Tod.
Auch wenn man dieser Herleitung nicht folgen mag, bleibt unbestritten, dass einerseits der Topos der positiv belegten Dunkelheit sehr viel seltener ist, als die allgegenwärtige und konkrete Angst vor der Dunkelheit, und dass andererseits die Dunkelheit ein wirksamer Auslöser für aufsteigende, oft beunruhigende Bilder ist.
Doch in dem wir ins Dunkle spähen und Dinge ins Dunkle projizieren, geschieht auch immer ein Transfer unseres Selbst in die Zonen, in die weder das Licht noch unser Auge dringt. Entsprechend steht in der Archetypenlehre von C.G. Jung der Schatten für verdrängte Anteile unserer Persönlichkeit, für Aspekte, die wir als böse oder sündhaft markiert haben, für Aspekte, die wir nicht wahrhaben und nicht sehen wollen.
Für den italienische Psychohistoriker Luigi de Marchi ist es, im Gegensatz zu Jung, vor allem die Tatsache des Todes, die wir nicht ertragen können und deshalb verdrängen, womit die enge Verbindung von Dunkelheit und Tod ein weiteres mal belegt ist. Nach seiner Theorie des menschlichen Urschocks dienen nahezu alle kulturellen Vorstellungen und Hervorbringungen des Menschen in erster Linie der Todesabwehr, also der Verdrängung des Wissens um unsere eigene Sterblichkeit. In der Dunkelheit, die wir in uns selbst durch Verdrängung geschaffen haben, lauert also, allem anderen voran, unsere Todesangst.
Diese Anschauung korrespondiert mit der Haltung Blaise Pascals, der in seinen Pensées schrieb: "Wir rennen unbekümmert in den Abgrund, nachdem wir irgendetwas vor uns hingestellt haben, das uns daran hindern soll, ihn zu sehen."
Adriane Steckhan, Erdenrest_Fragment_02 |
Die Dunkelheit ist also nicht nur der Ort, den wir fürchten, weil wir darin Dinge ahnen, die uns den Tod bringen könnten, sondern sie ist auch der Ort, an dem wir furchteinflößende Aspekte der conditio humana vor uns selbst und in uns selbst verbergen.
Wenden wir uns nun dem Licht zu und folgen zunächst einem verstorbenen Alten Ägypter:
Das ägyptische Totenreich, das Duat, war in zwei Bereiche eingeteilt. Zuerst betrat man die Zone der Dunkelheit, einen unterirdischen Versammlungsort der Toten, an dem sie zahlreiche Prüfungen und schließlich das Totengericht bestehen mussten. Erst dann durften sie die andere Seite des Duat betreten, das Sechet-iaru, die blaue Ur-Flamme und ihr Licht, das dem irdischen Auge unsichtbar ist, um schließlich am Rande der Welt, wo sich Himmel und Erde treffen, als reine Lichtwesen in den Himmel der Götter aufzusteigen.
Für die europäische Überlieferung ist vor allem das Höhlengleichnis von Platon mit seiner Lichtmetapher bedeutsam. Dort finden wir das blendende Licht als Bild der letzten großen Erkenntnis. Die Neoplatoniker begriffen das Licht des Höhlengleichnisses als einen Aspekt Gottes. Beeinflusst von dieser Tradition ist für Thomas von Aquin das Licht gleichbedeutend mit der Erkenntnis Gottes beim Betreten des Paradieses nach dem Tod.
Mit dieser Vorstellung korrespondieren nahezu alle Beschreibungen von Nahtoderfahrungen, bei denen der Übergang vom Leben zum Tod als das Eintreten in ein überirdisches Licht visualisiert wird. Bereits Hieronymus Bosch malte die allgemeingültige Darstellung dieser Vision in seinem „Aufstieg der Seligen“.
Das Licht ist also, ebenso wie die Dunkelheit, eine kulturell und psychologisch tief verwurzelte Metapher des Todes.
Doch was jenseits dieses Lichtes liegen mag, bleibt verborgen. Denn, wie schon bei Platon beschrieben, bleibt es ein blendendes Licht und erfüllt damit im Wesentlichen die gleiche Funktion, wie der Schatten.
Es verbirgt.
Natürlich kennen wir das Licht auch in einem ganz anderen Zusammenhang: als das Licht der Erleuchtung oder das Licht der Vernunft, das Licht des Verstandes. Es durchdringt und macht sichtbar. Es löst die Dunkelheit und damit die Angst auf. Doch wenn wir dem Gedanken einer vollständigen Erleuchtung, oder besser Durchleuchtung, der Welt folgen, werden sehr bald Effekte deutlich, die das Gegenteil des Beabsichtigten bewirken.
In seiner ästhetischen Schrift „Lob des Schattens“ wies Tanizaki Jun’ichirō darauf hin, wie vulgär und oberflächlich eine vollständige Ausleuchtung mache, wie die Dinge ihr Geheimnis und damit ihre Schönheit verlören, wenn man sie ganz dem Licht aussetze.
Diesen Gedanken greift Byun Chul Han gut 80 Jahre später wieder auf in seinem Essay „Transparenzgesellschaft“. In dem sich die Gesellschaft einem Transparenz- Wahn unterordnet und glaubt, alles sichtbar machen zu müssen, findet eine Pornographisierung der Bildwelten statt. Denn mit der Vorstellung, alles müsse sichtbar gemacht werden, geht der Glaube einher, alles sei auch sichtbar zu machen.
Andererseits werden die Bilder durch die quantisierte Messbarkeit des Erfolgs ihrer Zurschaustellung zunehmend nur noch anhand ihres Ausstellungswertes beurteilt. Bildproduzent*innen stehen also unter dem gesellschaftlichen und zunehmend internalisierten Druck, soviel Dinge wie möglich so erfolgreich wie möglich zur Schau zu stellen. Dergestalt durchdringt die Logik der Transparenz unseren Alltag und schließlich unsere Lebensführung.
Einerseits werden die Bilder durch ihre reine Masse bedeutungslos, andererseits verlieren sie durch die Annahme der vollständigen Abbildbarkeit der Wirklichkeit ihre Tiefe und Bedeutung. Sie werden auf ihre Oberfläche reduziert und verlieren, wie Tanizaki es ausdrückte, ihr Geheimnis und ihre Schönheit, die sich beide aus dem Ungezeigten und Ungesehenen nähren.
Je mehr wir unsere Welt durchleuchten, je inflationärer wir Bilder produzieren und konsumieren, vor allem Fotografien mit ihrem Anspruch auf dokumentarische Authentizität, desto weniger sind wir also imstande, durch die so geschaffenen Oberflächen hindurch zu sehen und dem individuellen Bild eine tiefere Bedeutung zu geben. Noch während des Vietnamkrieges konnte eine einzige Fotografie zu einer gesellschaftsverändernden Ikone werden. Heute werden wir derart mit Bildern faktischen und fiktiven Grauens überflutet und können auf unendlich vielen Medienkanälen Gewalt und Elend, sowohl real als auch fiktiv, konsumieren, dass wir uns daran gewöhnt haben, die Gefühle, die wir eigentlich angesichts der erschütternden Bilder empfinden sollten, zu verdrängen. Die Bilder bleiben, aber die Reaktionen, die sie auslösen, finden unterhalb der Oberfläche unseres Bewußtseins statt. So wird also durch das penetrante Sichtbarmachen schließlich doch verhüllt.
Um diese Verdrängungsleistung überhaupt erbringen zu können und unsere Empathie- fähigkeit soweit herabzusetzen, dass uns Bilder von fremdem Leid nicht mehr zutiefst erschüttern, ist es notwendig, unsere Gefühle abzuspalten. Das wiederum geht einher mit dem Verlust unserer Selbstwahrnehmung. Denn nach dem derzeitigen Stand der Neurowissenschaften bestehen Gefühle aus der Wahrnehmung von Prozessen im Körper. Spiegelneuronen wiederum ermöglichen es uns, Gefühle einer anderen Person, die wir beobachten, im eigenen Leib nachzuvollziehen. Diese Funktionen müssen aber, angesichts der inflationären Zurschaustellung des Leids, unterdrückt werden
Durch unsere Routine der permanenten Abbildung aller nur möglich abbildbaren Dinge, verhüllen wir demzufolge schließlich die körperliche Welt der Empfindungen und Gefühle mit einer körperlosen, perfekt ausgeleuchteten Oberfläche. Wir blenden uns selbst und verdrängen mit der Inflation der Bilder die bedrohlichen Aspekte der Wirklichkeit und unsere dunkle Seite dazu. Der Psychoanalytiker Arno Grün nannte diesen Vorgang den „Verrat am Selbst“ und den „Verlust der Autonomie“.
Mit ihrem aktuellen Werkkomplex „velato“ greift Adriane Steckhan präzise in diese komplexen Rezeptions-, Verdrängungs- und Konstruktionsprozesse ein.
Setzen wir uns mit den Arbeiten auseinander, begegnen wir zuerst einer lebendig strukturierten Oberfläche, einer Haut, die unverwechselbare Spuren von Bewegung zeigt und durch ihre Körperlichkeit dazu verlockt, sie zu berühren. Doch trotz des Pinselduktus’ der deutlich erkennbar ist, haben wir keine Malereien vor uns, sondern Fotografien, die sich sonst dadurch auszeichnen, unabhängig von einer individuellen Oberfläche zu sein und zu wirken. Sie sollen üblicherweise nichts anderes sein, als ein Fenster zu einem konkreten, authentischen Augenblick, dessen Licht eingefangen und reproduziert worden ist.
Die Reproduzierbarkeit des Fotos, die den sinnlichen Körper und die Einzigartigkeit des Abzugs negiert, wird durch die Materialität und die Individualität der Acrylpolymerhäute, die als Bildträger dienen, aufgehoben. Statt dessen haben wir singuläre und völlig gegenwärtige Bildwerke vor uns, die nicht dokumentarisch auf vergangene Ereignisse verweisen, sondern die selbst das Ereignis sind.
Die Art, mit der die Motive abgelichtet sind, widersetzt sich ebenfalls der Idee von Authentizität und Dokumentation. Aufgrund der Bewegungsunschärfen, die durch Langzeitbelichtungen entstanden sind, werden nicht die konkreten Dinge abgelichtet, sondern es werden mit ihren Lichtspuren eigenständige Farbräume, Tiefen und Bewegungen geschaffen, die eine ganz eigentümliche Ebene der Abstraktion öffnen, die das eigentlich Abgelichtete verhüllt.
Adriane Steckhan, Bewehrung_Fragment_02 |
Gleichzeitig werden die Bildereignisse durch Dunkelheit oder Helligkeit, Oberflächeneffekte und Transparenz aus der Kernzone des Wahrnehmbaren gedrängt. Derart irritiert versuchen wir, die wir es gewöhnt sind, in einer Welt des penetrant Sichtbar-Gemachten zu leben, die Motive, die sich im Licht und in der Dunkelheit verbergen, mittels unserer Vorstellungskraft wieder daraus hervor zu holen zu. Tatsächlich aber lassen wir Bilder entstehen, die in den Bereichen unterhalb der Oberfläche unseres Bewußtseins schlummern. Dieser schöpferische Prozess, zu dem wir genötigt werden, ohne es zu bemerken, ist wiederum angewiesen auf das Grundmomentum der Kreativität, nämlich die intuitive und emotionale Verknüpfung von geistigen Inhalten. Um aus den Ahnungen, die sich in der Bildtiefe verbergen, etwas Fassbares erstehen zu lassen, müssen wir also auf das emotionale Gedächtnis zurückgreifen, das aus einem unauflöslichen Gewebe von geistigen Inhalten und Körpererinnerung besteht. Wir müssen also auf das im Alltag abgespaltene, körperliche, emotionale Selbst zurück greifen. Und das, was wir aus dem Licht oder der Dunkelheit mittels unserer Vorstellungskraft bergen, sind genau die Inhalte, die wir sonst gewohnt sind, zu verdrängen.
Genau diesen Effekt nutzte auch der Spätbarock-Bildhauer Guiseppe Sanmartino für seine Skulptur „Cristo velato“, von der Adriane Steckhan den Namen für eine neue Werkreihe und diese Ausstellung entliehen hat. Es handelt sich dabei um eine Darstellung des Leichnams Christi, der vollständig von einem dünnen Schleier bedeckt ist, wodurch der leichenhafte Eindruck der Figur drastisch verstärkt wird. Die Wirkung dieser Sichtbarmachung durch Verhüllung war damals so frappierend, dass unter Zeitgenoss*innen Sanmartios das Gerücht ging, er hätte einen echten Leichnam „marmorifiziert“.
Mit einer gewöhnlichen Darstellung des nackten, aufgebahrten Jesus’ hätte Sanmartino vielleicht Bewunderung für sein meisterliches Kunsthandwerk erregt, aber durch die Verhüllung nötigte er die Betrachter*innen zu einem imaginativen Akt, der wiederum eine emotionale Reaktion zeitigte, die weitaus tiefer ging.
Nachdem Adriane Steckhan nun schon viele Jahre die genannten Mechanismen der Sichtbarmachung durch Verhüllung auf formaler Ebene erforscht hat, also die genannten Effekte von Licht, Dunkelheit, Oberfläche, Transparenz und Unschärfe, während sie auf der Motivebene vor allem Abrisslandschaften als Metaphern für Erinnerung und Verlust erkundete, wendet sie sich in jüngster Zeit auch der buchstäblichen Verhüllung als Motiv zu.
Ich möchte mich dabei auf drei konkrete Arbeiten beziehen.
Adriane Steckhan, velato_03 |
„velato_03“ zeigt einen amorphen Schemen, der sich mit matter Helligkeit in einer undefinierbaren, braunschwarzen Finsternis zu manifestieren scheint. Er wirkt wie ein Spukgebilde, das durch seine Unfasslichkeit ein gewisses Unbehagen auslöst. Dabei handelt es sich um einen aufgebahrten Schädel aus der Goldenen Kammer der St.Ursula Basilika in Köln. Für restauratorische Zwecke wurde der Schädel in Plastikfolie eingewickelt.
Diese zusätzliche Information verleiht dem Bild vielleicht die Konnotation des Makabren, doch die beunruhigende Wirkung, die körperliche Präsenz der materiellen Aspekte des Bildes, die Verhüllung, die einem zunächst undefinierbaren Gegenstand eine immaterielle Anmutung verleiht und uns den Eindruck von etwas Jenseitigem, etwas Moribundem vermittelt, wirken unabhängig von dem Wissen um das konkrete Motiv.
Denn das Ereignis der Visualisierung und Kontextierung spielt sich in unserer emotional gesteuerten Vorstellungskraft, in unserem Körper ab. Das Bild wird von uns nicht nur rezipiert, sondern wir selbst müssen uns in die verschlingende Dunkelheit vorwagen und das Bild daraus hervor holen, es selbst vollenden.
Adriane Steckhan, velato_02 |
Auch auf „velato_02“ sehen wir in der diesmal fast transparenten, geleeartigen Acrylpolymerhaut eine verhüllte Form. Die Überbelichtung löst ihre Umrisse im oberen Bereich auf und lässt die Form mit dem ausgelöschten Hintergrund verschmelzen. Das Licht scheint das Objekt tatsächlich zu Nichts zergehen zu lassen. Die Größe des abgebildeten Objekts entspricht den Maßen eines menschlichen Körpers, die Form und Größe des Bildträgers erinnert an die eines gläsernen Sarges. Das kollektive Bildgedächtnis ist dazu verleitet, das Motiv als einen verhüllten Toten zu deuten oder, kulturhistorisch chiffriert, als Darstellung Christi, wie sie uns von Heilig-Grab-Darstellungen oder der Grablegung bekannt ist, wie eben der Cristo Velato von Sanmartino.
Das umfassende und unspezifische Unbehagen, das uns angesichts der Verhüllung von „velato_03“ angefasst hat, wird hier von unserer Vorstellungskraft also zu etwas sehr viel Konkreterem ergänzt.
Tatsächlich handelt es sich um das Foto eines schlafenden Obdachlosen auf dem Vorplatz eines französischen Bahnhofs - ein Bild also, das man heutzutage so in nahezu jeder europäischen Stadt hätte aufnehmen können; ein Bild von der Sorte, die sich in unserem Alltag mehr und mehr aufdrängt und dabei immer mehr Verdrängungsaufwand erfordert, um sie nicht zu sehen.
Doch in dem wir selbst aktiv werden, um das Bild aus seiner Auflösung empor zu heben, wird etwas, das wir in der äußeren Welt bestenfalls an den Rand unserer Wahrnehmung oder sogar darüber hinaus drängen, zu einem Bild, das in unserem Inneren aufersteht, das wir im Fokus unserer Wahrnehmung mit dem Körper erfahrenen.
Zudem nutzt Adriane Steckhan ganz bewußt die kulturell eingeschriebenen Verhaltensspuren der christlichen Symbolik. Die im sakralen Zusammenhang erlernte Hinwendung zum geschundenen Leichnam Christi, wird durch die Adaption christlicher Darstellungsmuster umgeleitet auf den im Diesseits leidenden menschlichen Körper, der sich selbst versucht den Blicken zu entziehen und den wir gewöhnlich aus unserem Alltagsbewußtsein zu verdrängen versuchen.
Adriane Steckhan, velato_skulptur_01 |
Mit „velato_skulptur_01“ wird ein weiteres Mal das Motiv des verhüllten Schädels ins Spiel gebracht. Ein Klumpen, dessen Größe und Form an ein menschliches Gehirn erinnern, ist eingewickelt in eine Acrylpolymerhaut, die durch warme orange und braune Farbtöne ein ledriges, ausgesprochen organisches Aussehen verleiht. An manchen Stellen wird die Haut von rostigen und verbogenen Bewehrungsstangen durchstoßen. Darunter verborgen ist ein Betonbrocken, ein Stück geborgenen Bauschutts von dem Abriss eines ehemaligen Kunstortes in Altona.
Die fotografische Vorlage stammt von einem Bild des Torsos der Künstlerin. In die Haut aus Acrylpolymer wurde also ein Bild einer tatsächlichen Haut übertragen.
Es ist schwer möglich, eine deutlichere Bildmetapher dafür zu finden, wie wir die Zerstörungen, die sich in der äußeren Welt unablässig ereignen, in uns selbst, in unserem Unterbewußten verkapseln. Gleichzeitig wird deutlich wie das, was im Inneren verborgen ist, die äußere Gestalt formt. Wir können all das, was wir fürchten, vor uns selbst und der Welt zu verbergen versuchen, aber die Oberfläche, die wir darüber legen, wird immer von den verborgenen Inhalten geformt.
Ein weiteres mal werden also die in uns verborgenen und verdrängten Tatsachen des Lebens spürbar und durch Verhüllung dem inneren Auge erst sichtbar gemacht.
So gelingt es Adriane Steckhan uns mit ihren hochkomplexen und formal vielschichtigen Arbeiten an die blendenden und finsteren Grenzen zu führen, hinter denen das Leben zu Ende geht. Jenseits der Verhüllung durch Dunkelheit, Licht und Oberfläche lässt sie uns das Beunruhigende, das Abgespaltene, Verdrängte erahnen, auf das wir angewiesen sind, um unserem Leben Tiefe, Schönheit und Bedeutung zu verleihen.
© Dr. Thomas Piesbergen / VG Wort, Oktober 2023