In seinem Roman Homo Faber beschrieb Max Frisch das Scheitern eines Mannes, der sich bis zuletzt an den Glaubenssatz klammert, die Welt sei durch Wissenschaft und Technik beherrschbar.
In Walter Faber, dem homo faber, der von dem Anthropologen Max Scheler definiert worden ist, als ein Wesen mit der Fähigkeit seine Umwelt willentlich zu verändern, begegnen wir einem Archetypus der westlichen Kultur.
Dem Dilemma Walter Fabers liegt ein Kernproblem unserer Perspektive auf die Welt zugrunde: Das ist der Glaube daran, dass die Beherrschung der aus der Natur abstrahierten Muster uns dazu befähigt, auch die ihnen zugrunde liegende Natur, also die faktische Wirklichkeit zu beherrschen; der Glaube an die Kontrolle unserer Welt durch die Macht unseres Verstandes. Denn Walter Faber ist zugleich ein Ingenieur, ein Techniker, dessen Wirkungsfeld die Wissenschaft ist, dessen erstes Werkzeug der Geist ist, dessen Aufgabe es wiederum ist, die Natur zu unterwerfen und zu optimieren. Seinem Weltbild zufolge steht das gestaltende Subjekt, der immaterielle Geist und Wille, der materiellen Objektwelt gegenüber, die er nach seinem Gutdünken und einem angestrebten Idealzustand entsprechend formen kann. Im Zentrum des Konflikts stoßen wir also auf den Dualismus von Geist und Materie, die Opposition von Logos und Körper, von Ideal und faktischer Existenz.
Diese Spaltung der Wirklichkeit in zwei grundverschiedene Sphären, tritt in der europäischen Kulturgeschichte erstmals bei den Pythagoreern voll entwickelt in Erscheinung und findet kurz darauf seine wirkmächtigste Form in Platons Höhlengleichnis. Darin werden die Erscheinungen der Welt als bloße Schatten beschrieben, die von der einzig authentischen Wirklichkeit, nämlich der Wirklichkeit der Idealbilder, geworfen werden. Zudem heißt es von diesen Idealbildern, sie existierten überzeitlich und befänden sich jenseits unserer vergänglichen und eigentlich unwirklichen Welt. Nur sie selbst seien tatsächlich und wirklich.
Durch die Neu-Platoniker weiter entwickelt, verschmolz diese Vorstellung in der späten Antike mit dem christlich-jüdischen Weltbild. Sie begegnet uns vor allem in den Episteln des Paulus, der die Opposition des sündigen Fleisches und des davon streng getrennten göttlichen Geistes betont.
Im Laufe der Kirchengeschichte wurde dieses Dogma immer wieder und mit großem theologischen Aufwand verteidigt und zementiert, zuletzt in dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1870, in dem es hieß, dass man Gott „als wirklich und wesentlich von der Welt verschieden verkünden“ müsse.
In diesem Dualismus von Geist und Körper, von Gott und Welt, von diesseitiger fleischlicher Sünde und jenseitigem Heil, ist auch die in der westlichen Zivilisation tradierte Körperfeindlichkeit verwurzelt. Mit ihr wurde zugleich auch die Emotionalität diffamiert, die sich der Vernunft zu unterwerfen hätte und von ihr diszipliniert werden müsse.
Auch heute noch ist unsere Gesellschaft geprägt von einer Disziplinierung der Körper, von Idealen und Ideologien, deren abstrakte Konzepte mehr gelten, als das unversehrte Individuum; noch immer leben wir in einer Welt, in der das abstrakte Gesetz mehr Gewicht hat, als das akut empfundene Mitgefühl, in der Menschen ihre Emotionalität von sich abspalten, um den verschiedenen Konzepten der Rationalität oder Religiosität zu genügen.
Doch es ist ausgerechnet eine der höchst spezialisierten Wissenschaften, die schließlich diese Denktradition, die unsere Kultur zweieinhalb Jahrtausende dominiert hat und die gerade wieder auf dem Vormarsch ist, untergräbt. Denn die Erforschung der Gefühle und ihrer Verortung im Körper ist eines der fruchtbarsten Felder der aktuellen Neurowissenschaften.
Allen voran hat Antonio Damasio gezeigt, dass unser Bewusstsein untrennbar mit dem Körper verbunden ist, da es auf körperliche Selbstwahrnehmung zurück geht. Zudem haben seine Forschungen belegt, dass jegliche Handlungsmotivation emotional begründet ist und nur in einem Körper entstehen kann, der aus lebendigen, miteinander kommunizierenden Zellen besteht. All unsere Assoziationsfähigkeit, also unser Vermögen schöpferisch zu denken, ist ebenfalls nur möglich, wenn wir Wahrnehmungsinhalte emotional verknüpfen.
Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ist also das menschliche Bewusstsein, all sein Bemühen und Tun, all sein Wollen nur möglich in einem empfindungsfähigen, lebendigen Körper, und der erste Tatbestand seines Bewusstseins ist das Gefühl. Damit sind auch die posthumanistischen Utopien von menschlichem Bewusstsein, das in einen Computer transferiert werden könne, oder einer künstlichen Intelligenz, die Selbstbewusstsein erlangen könne, als absurd entlarvt worden.
Noch ist unsere Kultur aber weit davon entfernt, den lebendigen Körper bedingungslos zu bejahen, das Gefühl zu rehabilitieren und den Geist als Ausdruck der Materie anzuerkennen, und nicht umgekehrt. Ganz im Gegenteil erleben wir überall auf der Welt vor verschiedenstem kulturellen Hintergrund ein Erstarken des repressiven dualistischen Konzepts. Der entsprechende Diskurs ist also höchst aktuell und relevant. Und genau dort, an der Kernproblematik dieses kulturellen Phänomens, setzen die Künstlerinnen Llaura Sünner und Waltraut Kiessner mit ihren Arbeiten an.
Waltraut Kiessner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Waltraut Kiessner wendet sich dabei einer der wichtigsten Schnittstellen im Wechselspiel von Mensch und Welt zu: Der menschlichen Hand. In der Anthropologie Immanuel Kants heißt es: „Dieser Sinn ist auch der einzige von unmittelbarer äußerer Wahrnehmung. … Ohne diesen Organsinn würden wir uns von einer körperlichen Gestalt gar keinen Begriff machen können.“
Die Hand ist aber nicht nur ein Sinnesorgan, mit dem wir die Körperlichkeit und Faktizität unserer Welt erfassen können, sie ist auch unser maßgebliches Werkzeug, um auf die Umwelt einzuwirken, sie zu gestalten. Erst sie macht uns zu einem homo faber.
Dennoch taucht die Hand in Waltraut Kiessners Werk niemals als reines Werkzeug der abstrakten Autorität des Geistes auf, als das Mittel einer umformenden Macht, sondern vielmehr als ein sinnlicher, körperlicher Akteur, der uns ermöglicht, durch Spüren und Handeln in der Welt zu sein.
In ihrer Videoarbeit Der springende Punkt sehen wir eine Hand, die versucht, einen springenden Ball zu schlagen und ihn weiter springen zu lassen. Mal gelingt es ihr, mal scheitert sie. Es ist ein Versuchen, ein Lernen, ein Umgehen mit einer Welt, um sie zu begreifen. Dabei findet die Hand aber nicht zu einer Routine. Es ist nicht das Ziel ein grundlegendes Bewegungsmuster des Balles zu erkennen, um davon ausgehend einen idealen Handlungsablauf zu entwickeln, der schließlich die Kontrolle des Balls ermöglichen soll. Ziel und Sinn des Tuns ist vielmehr das Tun selbst, der Umgang mit einer körperlichen Welt, die nicht beherrscht werden muss, sondern mit der wir uns befassen möchten.
Waltraut Kiessner, Austellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
In einer Reihe von Zeichnungen sehen wir menschliche Hände, deren Finger zu verschiedenen Zeichen gekrümmt sind, ähnlich den Mudras, den symbolischen Handzeichen, die im Buddhismus, im Hinduismus und dort vor allem in tantrischen Schulen eine große Bedeutung haben.
Doch die Handzeichen Kiessners bleiben kryptisch, sie transportieren keine symbolische Bedeutung, die die Körperlichkeit der Hände überlagern könnte, so wie der Inhalt eines geschriebenen Textes für gewöhnlich die Gestalt der einzelnen Buchstaben überlagert. Anstatt eine Botschaft zu übermitteln, verweisen die Handzeichen auf die Hand selbst als möglichen Bedeutungsträger, und auf ihre physische Beschaffenheit und Faktizität. Die Aufmerksamkeit wird nicht auf das immaterielle Abstraktum, das wir Information nennen, gelenkt, sondern ganz und gar auf die Körperlichkeit und die Bewegungsmöglichkeiten der Hand.
Waltraut Kiessner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Die Bedeutung dieser Körperlichkeit wird auch deutlich in Arbeiten, in denen wir mehrere Hände sehen, die sich aneinander festhalten, zugleich aber ausdünnen und zu verschwinden drohen. Vielleicht kann man darin eine Analogie zu dem Versuch Walter Fabers sehen, sich an der Vorstellung seiner eigenen Wirkungsmacht festzuhalten. Doch schwindet die Körperlichkeit gibt es weder etwas, das ergreifen kann, noch bleibt etwas, das ergriffen werden kann. Ohne den Körper endet alle Wahrnehmung, alles Begreifen, alles Tun, alles, was wir formen können, alles, was uns geformt hat, alles, was wir sind.
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Kiessner / Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn, Foto: Llaura Sünner |
Das führt uns schließlich zu einem nächsten Werkkomplex Kiessners, in dem nicht das Ergreifen, sondern das Loslassen thematisiert wird, in dem der Herrschaftsgedanke des Erfassens angesichts der Endlichkeit vollständig aufgegeben wird. Wir sehen Hände in verschiedenen Beziehungen zu einem leeren Bildraum oder Zonen wolkiger, amorpher Flecken, mal stützen sie, mal öffnen sie sich, um die Leere frei zu geben oder zu empfangen, mal geben sie das Handeln auf und ruhen abschließend ineinander.
Waltraut Kiessner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
So schließt sich der Zyklus von dem tastenden Erkunden und Begreifen der faktischen Welt, über die Erkenntnis unserer eigenen Art darin zu agieren und zu interagieren, bis hin zur Aufgabe, zum Sich-Lösen von der Körperlichkeit der Dinge und uns selbst.
Laura Sünner rückt mit ihren Arbeiten zwei andere Aspekte des dualistischen Konzepts von Körper und Geist ins Blickfeld.
Einerseits ist für sie die tatsächliche Körperlichkeit, also die Materialität ihrer Arbeiten, von großer Bedeutung. Andererseits fokussiert sie sich auf die ergische Umgebung der Hand, auf Werkzeuge und Dinge, die gestaltet worden sind, um von einer Hand betätigt zu werden und die Vorhaben eines planenden Geistes zu verwirklichen.
Llaura Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Über das Verhältnis von Mensch und Werkzeug schreibt die Kognitive Archäologin Miriam Haidle: „Der Mensch wird nicht nur durch körperliche und geistige Eigenheiten charakterisiert, sondern wird erst verständlich durch seine unauflösliche Verknüpfung mit unbelebten Objekten, die durch ihn zu Teilen von Handlungen und dadurch der menschlichen Welt werden. Die Verbindung zwischen dem bewusst handelnden Subjekt Mensch und einem Objekt wird durch kognitive Prozesse geschaffen. Das Objekt wird dadurch als Werkzeug zu einer zeitlich begrenzten Erweiterung des Subjekts.“
Diese Werkzeuge sind aber schon lange Produkt der Technosphäre, Ergebnis von der Verknüpfung zahlreicher Abstraktionsvorgänge. Sie sind Hervorbringungen eines Selbstverständnisses, dass unsere Welt als Objekt begreift, das vom Verstand und Willen gemessen, umgeformt und optimiert werden kann.
Llaura Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
In einem zweiten Schritt wird der menschliche Körper zu etwas Unzureichendem erklärt, denn er kann die Aufgaben, die ihm vom Logos aufgetragen werden, in der Regel kaum selbst bewältigen. Aber derselbe Logos ist imstande, ihn durch Prothetik den Aufgaben gemäß zu verbessern. Wir können also Werkzeuge wie Hämmer, Sägen, Bohrer oder Äxte als Siege des Geistes über Natur und Körper betrachten. Sie sind wiederum Mittel, um unsere idealisierten Vorstellungen von Geometrie und Ordnung faktisch in Erscheinung treten zu lassen. Mit Werkzeugen richten wir die Welt derart zu, damit sie sich so weit wie möglich unseren Idealbildern annähert.
Llaura Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Doch die Materialität von Llaura Sünners Objekten verweigert den Dienst, der ihrer funktionalen Form zugedacht ist. An ihnen erleben wir, dass sie nicht nur Objekte unseres idealisierenden Willens sind, oder sogar von ihm als temporäre Prothesen ganz und gar vereinnahmt werden, sondern dass sie selbst subjektiven, in ihrer Materialität begründeten Impulsen folgen. Sie werden wellig, ziehen sich zusammen oder werden schlaff - sie entfalten durch ihre spezifische Körperlichkeit ein eigenes Leben, dass sich unseren Plänen und Absichten widersetzt.
Llaura Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Zugleich reizt die Materialität unser Verlangen sie zu berühren. Aber nicht mit einer konkreten Handlungsabsicht, deren Ziel es ist, sie zu benutzen um etwas zu gestalten, das zunächst nur in unserem Geist existiert. Wir werden ganz im Gegenteil verleitet durch ein sinnliches Verlangen, dessen Ziel nur die bloße Berührung ist. Wir wollen die Objekte ertasten und spüren, ihre Materialität erkunden oder uns einer antizipierten Empfindung versichern.
Llaura Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Ebenfalls losgelöst von tatsächlicher Funktionalität sind Sünners Türklinken aus Filz. So wie die kryptischen Handzeichen Waltraut Kiessners als Symbolträger ohne symbolischen Inhalt auf ihre Körperlichkeit verweisen, so bleibt bei den Türklinken nur der sonst überlagerte Gedanke des Erfassen der Klinke zurück, ein sinnlicher Akt, dessen Erfüllung in sich selbst besteht, und nicht in einer zugeschriebenen Funktionalität, die die akute Existenz der Klinke verdeckt.
Zudem sind die Filzklinken an Metallstangen angebracht, die ihrerseits einen käfigartigen Kreis bilden. Selbst wenn wir also in die Idee eines Raumes eintreten könnten, zu dem die Klinken eine Tür öffneten, beträten wir einen Käfig aus einem Material, das wie kaum ein anderes auf die vom Logos beherrschte Technosphäre verweist.
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Kiessner / Sünner, Ausstellungsansicht Kunstverein Quickborn, Foto: Llaura Sünner |
Ganz ähnlich verhält es sich mit den Filztüren und -fenstern, die an den Wänden angebracht sind. Sie verweigern sich der Aufgabe, die ihnen unser teleologisches Denken zugewiesen hat, nämlich sich zu einem anderen Ort zu öffnen. Auch sie lösen sich aus einer Funktionskette, in der sie unserem Geist nur Mittel zum Zweck sind. Es bleibt einzig, dass sie dazu verlocken, sie zu berühren, ihre konkrete, sinnliche Aktualität zu erfahren und zuzulassen. Sie verlocken uns dazu, den Akt des sich selbst genügenden Befassens und Begreifens zu vollziehen.
Llaura Sünner, Ausstellungsansicht, Kunstverein Quickborn |
Anstatt, dass sie auf einen anderen Ort verweisen, und unseren jetzigen als etwas markieren, das verlassen werden kann oder sogar sollte, fordern sie uns dazu auf, in der konkreten Gegenwart der interagierenden Körper zu bleiben.
Blaise Pascals schrieb in seinen Penseès, alles Unheil rühre daher, dass Menschen nicht imstande seien, zuhause zu bleiben. Angesichts der ausdrücklichen und ganz und gar gegenwärtigen Körperlichkeit der Filztüren, kann man diese Aussage auch so interpretieren, dass alles Unheil nur daher rührt, dass wir noch immer dem einzig möglichen Ort unserer Existenz, unserem Körper und seiner Sinnlichkeit, zu entfliehen versuchen.
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Kiessner / Sünner, Ausstellungsansicht Kunstverein Quickborn, Foto: Llaura Sünner |
Noch immer flüchten wir in Projektionen, Ideologien, ablenkende Spielereien oder unter das Diktat des gefühllosen Logos, anstatt unseren Körper mit seiner ganzen erschütternden Faktizität, mit der Gefühlswirklichkeit seines Bewusstseins, voll und ganz zu bejahen. Denn unsere fühlenden Körper sind und bleiben die einzige Wirklichkeit, in der sich die Existenz des Menschen durch stete Interaktion von Materie mit Materie vollziehen kann, in der wir uns selbst spüren und begreifen können.
In diesem Sinne möchte ich schließen mit einer Passage von Friedrich Nietzsche, dessen Zarathustra von sich sagt:
Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem;
und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.
Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit
mit Einem Sinne
© Thomas Piesbergen / VG Wort, Mai 2025