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Freitag, 12. August 2011

Die horizontale und die vertikale Wirklichkeit

Eröffnungsrede zur Ausstellung „Kreuzungen und andere Gebilde“ von Elke Suhr zum Jahresthema „Autos fahren keine Treppen“, Einstellungsraum e.V., Hamburg 2011

• Die horizontale Wirklichkeit

Die Automobilisierung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einem lebensbestimmenden Faktor geworden; nicht nur aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung, sondern vor allem dadurch, wie räumliche Beziehungen und die Muster der Bewegung neu definiert worden sind.
Die Funktion des Automobils ist das Davonstreben in der Fläche, das Verlassen des einen Ortes, um einen anderen zu erreichen. Doch werden durch die horizontale Bewegung von A nach B nicht nur die beiden Orte miteinander verbunden. Durch sie wird vor allem die Entfernung zwischen ihnen manifest.
Die durch das Automobil determinierten, auf zwei Dimensionen reduzierten Bewegungsmuster formen zudem unsere Vorstellung von Ordnung und Regulation und dadurch unsere Wahrnehmung. Auf diesem Umweg ist das Automobil zum dominanten Faktor der Gestaltung des Lebensraums selbst geworden. Seine Funktionsweise etabliert Wahrnehmungsschablonen und verlangt spezifische Strukturen, denen sich die Lebensführung und unsere Weltwirklichkeit auf Gedeih und Verderb unterzuordnen hat. Es sind Systeme entstanden, die in der Kulturanthropologie als „strukturierende Strukturen“ bezeichnet werden.

Lebendige urbane und dörfliche Kontexte sind geprägt von Multifunktionalität, d.h. Konzentration verschiedenster Funktionen an einem Ort. Dazu gehört auch eine starke Durchmischung verschiedener sozialer und ökonomischer Gruppierungen. Im Zuge der Automobilisierung wurden diese multifunktionalen Kontexte zusehends auseinander gerissen.
Amerika erlebte vor der Weltwirtschaftskrise einen wahren Bauboom, eine direkte Folge der Automobilisierung. Durch das Auto war es möglich, außerhalb der Stadt zu wohnen und dennoch  im Stadtzentrum zu arbeiten. Entsprechend wurden an den Rändern der Großstädte idyllische Einzelhaussiedlungen aus dem Boden gestampft. Bauwirtschaft und Immobilienspekulanten setzten einen ideologisierenden Werbefeldzug ohne gleichen in Kraft, der die wohlhabenden Bürger aus den Stadtzentren weglocken sollte. Dieser Trend, der sich bis heute fortsetzt, hatte eine ganze Reihe von drastischen Konsequenzen für die sozio-ökonomischen Gefüge der Städte: die Verödung der Zentren, die Konzentration von sozial schwächer gestellten Gruppen, die räumliche Trennung von Bevölkerungsteilen verschiedener Herkunft, den Beginn der Slum-Bildung, die Verschärfung sozio-ökonomischer Konflikte durch Fragmentierung der Gesellschaft und schließlich fortgesetzte Finanzkrisen gewaltigen Ausmaßes durch Immobilienspekulationen.
Ein in den deutschen Innenstädten seit langer Zeit besonders gut zu beobachtender Effekt dieser Entwicklung, ist der Tod des lokalen Einzelhandels zugunsten großer, spezialisierter, überregionaler Kaufhäuser und eine entsprechende Akkumulation von Kapital. In jüngster Zeit erleben wir außerdem eine Verdrängung sozial schwacher Gruppen aus den wieder attraktiv gewordenen Stadtzentren in leblose, durch den ÖPNV angebundene Trabantenstädte.
Das Ergebnis dieses Siegeszuges der horizontalen Wirklichkeit sind die weitgehende Monofunktionalisierung des Lebensraums, also die Trennung von Wohnen, Konsumieren und Arbeiten, sowie die Trennung von sozialen und ethnischen Gruppen. Die Gemeinwesen, die ehemals trotz sozio-ökonomischer Hierarschisierung wenigstens eine räumliche Identität teilten, wurden nahezu vollständig zerschlagen. Denn die Straßen zwischen den sozial unterschiedlich markierten Stadtteilen und Wohnvierteln verbinden sie nicht nur miteinander, sondern sie definieren auch die Entfernung zwischen ihnen. Sie machen das „Hier, nicht dort“ manifest und für jedermann erlebbar. Sie konkretisiert das Nicht-Zueinander-Gehören. Die Denkungsart, die von einem Leben in der horizontalen Wirklichkeit erzwungen wird, führt zu einer Fragmentierung des Lebens, zu einer Zerstörung des Gefühls einer Einheit des Lebensganzen.


• Die vertikale Wirklichkeit

Was bedeutet es hingegen, im Bewußtsein einer „vertikale Wirklichkeit“ zu leben? Natürlich sind die „Treppen“ des Jahresthemas nicht im wortwörtlichen Sinne zu verstehen. Sie stehen für keine profane, sondern vielmehr für eine metaphorische oder spirituelle Aufwärtsbewegung, die Bewegung auf eine Meta-Ebene, eine Bewegung, die durch ihre Nichtlokalität gekennzeichnet ist!
Die wichtigsten Aspekte der vertikalen Perspektive kann man sehr gut durch die zwei verschiedenen Blickrichtungen illustrieren, die durch sie ermöglicht werden, nämlich den Blick hinauf und den Blick hinunter:
Betrachten zwei voneinander getrennte Liebende im selben Moment den Mond, überwinden sie das horizontale Voneinander-Getrennt-Sein und sind in Gedanken beieinander. Die lokale Trennung wird aufgehoben durch das nichtlokale Ereignis, durch die Bewegung in die vertikale Wirklichkeit, das gedankliche Am-Selben-Ort-Sein.
Die Bedeutung des Blickes hinunter wird deutlich, wenn man sich eine Katze vorstellt, die versucht, das Muster eines Teppichs, auf dem sie sitzt, nachzuvollziehen, und nichts als ein regelloses Durcheinander einzelner Fäden erkennen kann. Erst wenn sie auf den Schrank gesprungen ist, fügt sich das scheinbare Chaos zu einem in sich geschlossenen Muster. Der verlorengegangene Überblick ist wieder hergestellt worden. Die Wirklichkeit, die durch das horizontale Auseinanderstreben zerrissen worden ist, wird wieder zusammengefügt.

Die Idee der nichtlokalen, vertikalen Wirklichkeit findet sich in nahezu allen Religionen der Erde als Idee des Weltmittelpunkts, der Weltachse oder der Himmelsleiter wieder, die den Aufstieg in eine übergeordnete Wirklichkeit ermöglicht, um von dort aus die gestörte Ordnung wieder herzustellen. Vor allem im nordasiatischen und nordamerikanischen Schamanismus ist diese Denkungsart exemplarisch zu beobachten.
Der Anthropologe Joseph Campbell, dessen Untersuchungen auf diesem Gebiet, neben denen von Mircea Eliade, bahnbrechend gewesen sind, zitiert in seinem Werk „Die Kraft der Mythen“ den Sioux Schamane Schwarzer Hirsch:
»Ich sah mich auf dem Berg in der Mitte der Welt, der höchsten Stelle, und ich hatte eine Vision, denn ich schaute die Welt auf heilige Art. [...] Doch der Berg in der Mitte ist überall.‹
Das ist eine wirklich mythologische Erkenntnis. Sie unterscheidet zwischen dem lokalen Kultbild, Harney Peak, und seiner Konnotation als Zentrum der Welt. Das Zentrum der Welt ist die Axis Mundi, der Mittelpunkt, der Pol, um den sich alles dreht« (Campbell 1989, 97).

Der Punkt, an dem der Übergang von einer Bewegung in der horizontalen Wirklichkeit zu einer Bewegung in die vertikalen Wirklichkeit stattfindet, ist nicht-lokal. Er ist ideeller Natur. Der Übergang kann sich immer und überall ereignen.


• „Kreuzungen und andere Gebilde“

Der Titel, den Elke Suhr für ihre Ausstellung gewählt hat, verweist zunächst auf die Kreuzungen in der Horizontalen. Von dem sich Bewegenden aus gesehen, sind Kreuzungen vor allem Orte des Konflikts. An ihnen gilt es, seine eigenen Interessen, das Streben in eine bestimmte Richtung, mit den Interessen anderer Verkehrsteilnehmer abzustimmen, sonst würde es zum Unfall kommen. Will man keinen Zusammenstoß riskieren, muß also der Raserei der horizontalen Wirklichkeit Einhalt geboten werden. Deshalb sind Kreuzungen Orte, an denen man zum Stillstand kommt - entweder an einer Ampel oder durch einen Unfall.
Doch gibt es auch die Kreuzung der horizontalen und der vertikalen Bewegungsrichtung. Auch für diesen Richtungswechsel muß die horizontale Raserei unterbrochen werden. Das Innehalten an der Kreuzung im Straßenverkehr ist immer existentiell und deshalb unterschwellig mit der Frage nach Transzendenz und der vertikalen Wirklichkeit verbunden. Man hält an, um nicht in einem Unfall zu sterben oder andere umzubringen. Kreuzungen zwingen den Menschen, sich mit dem eigenen Tod, der Sterblichkeit sowie der Endlichkeit der horizontalen Wirklichkeit und ihren Davonstreben auseinander zu setzen.
Es ist den Beharrungskräften geistiger Trägheit und dem menschlichen Konservativismus anzulasten, daß der Richtungswechsel in die vertikale Wirklichkeit meist erst durch einen Unfall erzwungen werden muß. Es muß eine schockartige Erweckung aus der horizontalen Raserei stattfinden. Neben dem alltäglichen Tod auf unseren Straßen bieten die Nachrichten zahllose grausame Beispiele solcher Unfälle im großen Maßstab, wie z.B. die Ölkatastrophe von Deep Water Horizon, die erschreckend wenig Konsequenzen gezeitigt hat, oder die Auswirkungen des Klimawandels und das Atomdesaster von Fukushima, die weltweit ein lange überfälliges, neues Denken anregen.
Man kann nicht ungebremst, bis in alle Ewigkeiten weiter rasen. Die fixe Idee des unendlichen Wachstums ist illusorisch und gefährlich. Automobiler Eskapismus ist kein Ausweg. Das horizontale Modell der Wirklichkeit hat abgewirtschaftet.
Aus diesem Grund thematisiert Elke Suhr in ihren Bildern immer wieder den Unfall, den Kataklysmus, der die Raserei zu einem jähen Stillstand bringt und einen erhöhten Blick auf eine auseinander gerissene Wirklichkeit erzwingt.


• Die Bildleiter

Die Bildleitern Elke Suhrs bestehen jeweils aus drei übereinander angeordneten, durch zwei seitlich angebrachte Leisten miteinander verbundenen Fotografien.In ihnen werden zunächst die Prinzipien „Straße“ und „Leiter“ einander gegenüber. Die Straße macht räumliches Getrenntsein von zwei Orten manifest. Die Leiter hingegen überwindet diese Trennung auf quasi-dialektischem Weg, denn sie braucht zwei voneinander getrennte Standpunkte, um eine Bewegung in die vertikale zu ermöglichen. Durch das Zusammenwirken der voneinander getrennten Standpunkte wird das horizontale Getrenntsein transzendiert.

(Bildleitern im Atelier Elke Suhrs, copyright E. Suhr, 2011) 

Wie weiter oben schon erwähnt, ist die Leiter in zahlreichen Kulturen Symbol für spirituellen Aufstieg. Dieser Aufstieg beschreibt den Weg von einer profanen, stofflichen, horizontalen Wirklichkeit hinauf in eine geistige, umfassendere Wirklichkeit der Ideen, der Geister oder Götter. Diese Bewegung wird in den Bildelementen der Leitern nachvollzogen.
Auf den meisten Bildleitern von Elke Suhr wird im unteren Bereich das Konkrete, Irdische, oft auch ein Akt der Zerstörung abgebildet, z.B. das Aufbrechen einer Straßendecke, das wiederum ein Innehalten in der Raserei erzwingt. Die aufsteigenden Bilder gehen Schritt für Schritt den Weg in die Abstraktion, oft in Form digitaler Auflösungen. Auf der obersten Stufe finden wir nur noch die luftige Skizze, die gegenstandslose Geste, die reine Idee.

Auf einer anderen Bildleiter sehen wir eine menschliche Figur bei der mühevollen Überquerung der horizontalen Straße. Sie ist zwischen zwei Asphaltflächen eingespannt, deren querlaufende Mittellinien selbst wie Leiterholme wirken. Man gewinnt den Eindruck, als beobachte man den versuchten Aufstiegs eines orientierungslosen Menschen aus einer profanen, endlosen Ödnis hinauf in eine höhere Wirklichkeit; eine Konstellation, die an das Menschenbild des Thomas von Aquin erinnert, der den Menschen als ein Wesen begriff, das sich abmüht, von einem tierischen Zustand in einen engelsgleichen überzugehen, doch sich erst auf halben Wege dahin befindet.


• Die Malerei

Um die Malereien Elke Suhrs zu lesen, muß man zunächst verstehen, daß sie sich nicht mit der diskursiven Frage nach dem Bild an sich und seiner medialen Kontextualität beschäftigen, auch wenn sie sich verschiedener Zitate aus anderen Medienkontexten bedienen. Von Bedeutung sind in erster Linie die semantischen Inhalte, die inneren Bilder, die sie repräsentieren.

Die augenscheinlichste Besonderheit der Malereien ist die überraschende Wahl des Formats: das auf die Spitze gestellte Quadrat. Die Ecken der Bilder wirken dadurch wie Bewegungsvektoren. Das konventionelle und statische „Oben“ und „Unten“ ist einem dynamischen, drängenden „Hinauf“, „Hinunter“ und „zur Seite“ gewichen.
Als Bildinhalte sind immer wieder Kataklysmen gewählt, die die horizontale Raserei unterbrechen oder das Sinnlose des Glaubens an den eskapistischen Fetisch des Automobils deutlich machen. Man sieht Wagen, die wie Riesenspielzeug von der Gewalt des Tsunamis durcheinander geworfen sind, oder Autos, die in einen gewaltigen Strudel gezogen werden, hinab zum Nadir.
Man sieht ein einzelnes Wrack, wohl in einer Kollision umgeworfen, das schon zu Linien aus Staub zerfällt und dadurch in seine existentielle Unwirklichkeit und Bedeutungslosigkeit überführt wird. Aus dem Wrack steigt eine Treppe auf. Die Farben ihrer Stufen entsprechen den yogischen Chakren und den ihnen zugeordneten kosmischen Elementen. Sie beschreiben den Aufstieg von Erde über Wasser, Feuer, Wind und Äther bis zum Geist und schließlich zum allumfassenden Universum, der wiederhergestellten Einheit.
Auf einem anderen Bild tritt uns Dürers „Nemesis - Das große Glück“ entgegen, eine Allegorie in Anlehnung an ein Gedicht des Renaissancedichters Angelo Poliziano, der die kataklystische Rachegöttin Nemesis gleichsetzt mit der Glücksgöttin Fortuna, die zwar Glück schenkt, aber gleichzeitig für die, die das rechte Maß nicht kennen, Vernichtung bringt.

Zwischen all diesen Kräften, die Elke Suhrs Bilder in alle Richtungen zu zerreissen scheinen, entdeckt man erst nach einigem Betrachten ein weiteres Element, das allen zu eigen ist: Es ist eine gestische Schleife, die alle anderen kompositorischen Elemente durchwirkt, als ob mit ihr die auseinander strebenden Vektoren, die von selbstverschuldeten Katastrophen zerrissene Wirklichkeit zusammengehalten werden soll. Etwas in den Bildern ringt, allem Wahnsinn zum Trotz, um die Wiedererlangung der verlorenen gegangenen Einheit.
In der alchimistischen Symbolik, auf die Elke Suhr in ihrem Werk immer wieder referiert, findet sich ein analoges Zeichen: das Bild der in sich verschlungenen Schlangen. Es steht für den verbindenden, schöpferischen Akt, für den Ausgleich zwischen dem männlichen und weiblichen Prinzip. Die Schlangen, gleichwohl wie die gestischen Schleifen, erfüllen dieselbe, oben angesprochen Funktion der Leiterholme: sie überwinden das lokale (auch sozio-ökonomische) Getrenntseins zugunsten nichtlokaler Transzendenz. Sie ermöglichen den Aufstieg in eine höhere, vertikale Wirklichkeit, die den Blick für die verloren gegangen Einheit öffnet.

Dr. Thomas J. Piesbergen, Mai/August 2011


Literatur:

• Thomas von Aquin, Über die Einheit des Geistes, Stuggart, 1987
• Joseph Campbell, Die Kraft der Mythen, Zürich, 1989
• Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Extasetechniken, Frankfurt a.M., 1975
• Anthony Giddens, Central Problems in Social Theory: Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London, 1979
• James Howard Kunstler, Geography of Nowhere, New York, 1993
• Hans A. Pestalozzi, Nach uns die Zukunft, München, 1982
• Thomas Piesbergen, Der kontextuelle Raum, Oxford, 2007
• Thomas Piesbergen, Ein Modell zur Genese kosmologischer Konzepte und ihrer Repräsentation im Raum, in:
Müller-Scheeßel (Hg.), Der gebaute Raum, Münster, 2010
• Matthias Rösener, Dialektik der Kontrolle, Münster, 1998
• Richard Sennet, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Frankfurt, 1986

Mittwoch, 10. August 2011

8 Haiku für einen verregneten Sommer

Thomas Piesbergen


Am Tag, wie des nachts
brennt die Lampe im Dunkel
des Sommerregens


Ich gehe ins Haus
Nun wacht über den Garten
das Fräulein Spinne


Nach dem Wolkenbruch:
das Abendlied der Amsel
tönt umso lauter


Nach dem schwülen Tag
beim Schuppen in der Tonne
murmeln die Tropfen


Gehüllt in den Pelz
des warmen Sommerregens:
der Heimweg des nachts


Die letzten Klänge
in der lauen Regennacht:
Schritte und Türen


Es rauscht als wolle
der Sommerregen die Nacht
noch heut ertränken


Ganz platt und zerzaust
neben der Regentonne:
prächtiger Klatschmohn