In der Literatur zum Thema Schreibtheorie, vor allem in der amerikanischen, stolpert man immer wieder über die grundsätzliche Frage, ob eine Geschichte an den Charakteren oder dem Plot orientiert sei. Dahinter verbergen sich zwei stark voneinander abweichende, aber keinesfalls unvereinbare Herangehensweisen an das Erzählen. Die Polarität der beiden Ansätze mag Europäern vielleicht übertrieben schematisch erscheinen, dennoch schadet es nicht, sich im Lichte dieser Frage einige Gedanken zu dem eigenen Ansatz zu machen.
Unter „charaktergestützt“ versteht man Geschichten, deren Logik sich aus der charakterlichen Veranlagung ihrer Figuren ergibt. In ihnen steht der menschliche Konflikt in all seinen unendlichen Facetten an erster Stelle. Fast die ganze sogenannte Hochliteratur, von Dostojewskij bis Max Frisch, von Kleist bis Kerouac wird am Leben und Laufen gehalten von den Charakteren, die in ihren Zeilenschicksalen leben, streben, leiden, hoffen, begehren und sterben.
Der „Plot“ hingegen ist unumschränkter Herrscher über das Reich der Genreliteratur. In Krimi, Science Fiction, Fantasy, Horror, Lovestory und Thriller steht und fällt alles mit dem vertrackten Rätsel, der überraschenden Wendung, der furchteinflößenden Verwicklung, der brillanten Intrige, der unmenschlichen Bedrohung, der kunstvollen Architektur der Handlungsstränge, der unlösbaren Aufgabe und der Auflösung in letzter Sekunde.
Natürlich kommt das eine niemals ganz ohne das andere aus, dennoch sollte man sich genau überlegen, welchem der beiden Prinzipien man den Vorrang einräumen möchte. Gerade bei Schreibanfängern kommen sich diese beiden Ansätze häufig so sehr in die Quere, daß sie sich gegenseitig neutralisieren. Der Text bleibt unentschlossen und verreckt auf halber Strecke, ohne daß man weiß, weshalb. Es hätte doch alles so schön werden können...
John Banville, der Booker Prize-Gewinner und Autor von „Athena“, „Die See“ und „Sonnenfinsternis“ schrieb über sich selbst: „I am not good at plotting.“
In seinem Roman „Der Unberührbare“ schildert er die Lebens- und Leidensgeschichte des ruhelosen Kunstliebhabers Victor Maskell, der im zweiten Weltkrieg zum Doppelagenten geworden ist und dessen vielschichtige Lebenslüge erst im hohen Alter in ihrer ganzen Abgründigkeit offenbar wird.
Zwar bildet die verzwickte Intrige um sein Doppelagentendasein den Handlungshintergrund, von Bedeutung ist aber nur die Erlebniswelt des Protagonisten mit all ihren Anmaßungen und Selbstzweifeln, mit ihrer Täuschung und Selbsttäuschung. Eine Betonung des Plots, also des Ränkespiels im Hintergrund mit all seinen politischen Aspekten, den verschachtelten Intrigen, dem Aufwand der Inszenierung eines fiktiven Lebens, hätte den ohnehin umfangreichen Roman nicht nur schwerfällig und verstiegen gemacht, er hätte ihn mit Sicherheit gänzlich zerstört. Denn das zentrale Thema des Buches ist der Charakter Victor Maskells mit seinem grundlegenden Dilemma.
Wie sehr eine Betonung der Charaktere eine Plot-basierte Geschichte zerstören kann, sei am Beispiel des Herrn der Ringe von Tolkien illustriert.
Tolkiens Figuren sind zwar mit markanten Merkmalen ausgestattet, doch es sind eher Typen als Charaktere. Sie sollen vor allem Gefäße für archaische Konzepte sein. Gandalf ist der „weise alte Vater“, Sam die „treue Seele“, Frodo „der in Versuchung geführte Märtyrer“, Aragon der „edle Held“, Gimli und Legolas zeichnen sich nur dadurch aus, daß sie Zwerg und Elb sind und dementsprechend Archetypen repräsentieren. Doch glaubwürdige Charaktere sind weit und breit nicht zu finden - und das aus gutem Grund.
Man stelle sich vor, Tolkien hätte auf realistische persönliche Probleme und die inneren Konflikte seiner Figuren Wert gelegt. Der Leser fände sich in einem grundverschiedenen Buch wieder - und zwar in einem, das dem typischen Tolkien-Fan ein Graus wäre!
Was für Auswirkungen hätte wohl Aragorns Liebe zu Arwen, von der er 20 Jahre lang geglaubt hat, sie wäre seine Schwester? Wäre er je in der Lage, sich von dem inzestuösen Beigeschmack der Liaison zu befreien?
Was für Probleme hatte Sam mit seinem Vater, daß es ihm ein so dringendes Bedürfnis ist, sich Frodo mit nahezu hündischer Unterwürfigkeit anzudienen? Oder spielen hier unterdrückte homoerotische Aspekte eine Rolle?
Was hat die narzistische Persönlichkeitsstörung und den Größenwahn von Boromir verursacht, daß er sich anmaßt, er können es mit der Macht des Ringes aufnehmen?
Während des Kampfes um Minas Thirit machen Legolas und Gimli einen Wettkampf daraus, wer mehr Orks enthaupten kann. Wie kommt es, daß zwei sonst sozial aufgefangene Individuen sich auf derart psychopathische Spiele einlassen? Wo bleibt der post-traumatische Schock? Die Entrüstung ihrer Freunde über solche unmenschlichen Späße?
Was ist der Grund dafür, das alle Frauen wie unberührbare Heilige erscheinen? Ihre Frigidität? Die Impotenz oder Homosexualität der Männer?
Und was ist eigentlich dem armen Sauron angetan worden, daß er zu nichts anderem mehr imstande ist, als körperlos und von Hass zerfressen in seinem Turm zu hocken? Frühkindliche Bestrafung durch Liebesentzug? Kastration?
Und warum hat sich niemals jemand über die Orks Gedanken gemacht? Vielleicht wäre ihnen ja schon mit etwas plastischer Chirurgie und einer Gesprächstherapie geholfen? Hat denn niemand Bedenken, sie wie Schlachtvieh umzubringen? Sind die „Guten“ im Herrn der Ringe nicht doch einfach nur ein Bande seelisch verkrüppelter Krypto-Faschisten?
Fragen über Fragen.
Natürlich kommt man beim Erzählen von Geschichten weder ohne Plot, noch ohne Charaktere aus. Jede charaktergestützte Geschichte braucht einen Plot, denn schließlich müssen die Figuren handeln, in Bewegung sein, etwas erleben. Genauso braucht jede plot-orientierte Geschichte konsistente Figuren, deren Motivation glaubwürdig ist und die zur Identifikation taugen, denn sonst hat der Leser kein Interesse an ihnen und nimmt nicht an ihrem Schicksal teil. Dennoch ist es wichtig, das richtige Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen der Geschichte zu finden. Nur dann steht ein Text sich nicht selbst im Wege.
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