Die Schreibwerkstatt "Das Textprojekt" bietet in regelmäßigem Rhythmus neue Kurse an.
März-April: Kursabschnitt 1 / Mai-Juni: Kursabschnitt 2 / August - Oktober: Kursabschnitt 3
Oktober-Dezember: Kursabschnitt 1 / Januar-Februar: Kursabschnitt 2
Anmeldung unter: thomas.piesbergen (at) gmx.de


Freitag, 4. Januar 2013

Texte der Lesung "Fremdkörper" 5, Silke Tobeler "Chinesisches Marzipan"

Silke Tobeler
CHINESISCHES MARZIPAN


Alfreds Geist hatte sich in einem Keller des Café Niederegger manifestiert. Verwirrt blickte er auf den steifgefrorenen Körper des Mannes vor ihm, während sich die Gedanken formten: „Warum bin ich hier? Was habe ich getan?“ Antworten konnte Alfred sich selbst nicht mehr. Der Mund des Gestorbenen war halb geöffnet. An den Zähnen klebten Schokoladenreste, die nicht mehr weggeputzt werden mussten.

Vor einem Monat noch, saß er kurzatmig, aber quicklebendig Frau Dr. Haller gegenüber. Wie immer schaute sie streng und leicht gereizt über ihre randlose Brille, während sie rhythmisch mit ihrem Kugelschreiber auf dem Tisch pochte.
„Herr Nusseck“, begann sie das Gespräch in scharfem Ton. „machen wir uns nichts vor – Sie sind süchtig!“
Alfred zog ein Stofftaschentuch aus seiner Cordhose und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Er räusperte sich: „Es ist nur wegen Weihnachten, Frau Doktor.“ Bittend blickte er seine Internistin an. „Seit zwei Jahren schon reiße ich mich zusammen, nur um Ihren Anweisungen zu folgen.“ „Herr Nusseck“, die Ärztin rollte ihre Augen zur Decke, „Blutwerte lügen nicht. Wir haben so hart daran gearbeitet, dass Ihre Diabetes mehr oder weniger zufriedenstellend eingestellt ist, und was machen Sie? Wenn Sie schon keinen Sport treiben, müssen Sie umso mehr auf ihre Ernährung achten. In ihrem Zustand können Sie sich einfach keine Ausnahmen leisten!“
Alfreds Augen füllten sich mit Tränen. „Es ist die Hölle! Jedes Jahr sehe ich die Familien auf dem Weihnachtsmarkt glücklich gebrannte Mandeln essen -  und was bleibt mir? Natreen!“ 
Ungerührt fuhr Frau Dr. Haller fort: „Herr Nusseck, sie sind fett! Und wenn Sie so weitermachen, dann wird das Ihr letztes Weihnachtsfest gewesen sein!“
Sie seufzte. „Halten Sie sich doch um Gottes Willen an die Diät! Und sollte sich ihre Wahrnehmung trüben, oder wenn Sie einen merkwürdigen Geruch, wie zum Beispiel von Nagellackentferner bemerken, dann begeben Sie sich sofort in die Klinik!“

Mutlos verließ Alfred die Arztpraxis. Aus seiner Jackentasche zog er das Päckchen zuckerfreien Kaugummi und stopfte sich gleich drei Stück in den Mund. Ein billiger Ersatz für das krosse, karamellige Knacken von gebrannten Mandeln zwischen seinen Zähnen. Missmutig stolperte er in den Lübecker Weihnachtsmarkt. All die Erinnerungen vom Duft des nelkendurchzogenem Glühpunsches und auch die herrliche Erfahrung von fettigem, mit Puderzucker bestäubtem Schmalzgebäck, wurden in Alfred wieder wach. Er spuckte den Kaugummi auf die Straße und stellte sich an die Bude mit Printen. „500 Gramm , bitte!“ Sobald er die Tüte in der Hand hielt, riss er sie auf und stopfte sich das längliche Gebäck gierig in den Mund.
Alfred stöhnte, denn die Strafe folgte auf dem Fuß. Da war er wieder: Der schreckliche, quälende Durst, der ihn nach jedem Zuckerkonsum peinigte. Er musste nach Hause, um sich ins Bett zu legen, literweise Wasser zu trinken und zu beten, dass Morgen ein anderer Tag käme.

Der Schneeregen durchmatschte die herrenlosen Blätter auf den Gehwegen. Als er in den Hausflur trat, war er trotz der Kälte schweissgebadet. Missmutig öffnete er den Briefkasten. Es fiel ihm die übliche Post entgegen: eine Telefonabrechnung, ein Werbeprospekt des neuen Pizzaservices, zuletzt ein rotbunter Umschlag. Mit einem Seufzer fischte er ihn aus der Schmelzwasserpfütze. Er blickte auf die Adresse: Albert Netzer – Alfred stöhnte und schloss die Wohnungstür auf. Immer wieder lagen Briefe an Herrn Netzer in seinem Kasten. Jedesmal strich er den Namen durch und schickte die Briefe retour. Aber diesmal weckte der Umschlag  in seiner karminroten Pracht Alfreds Interesse. An seinem Schreibtisch angekommen, legte er das Kuvert vor sich und strich das verwaschene Reispapier glatt . Die Klebung an seinem Rand hatte sich durch das Schmelzwasser gelöst. Vorsichtig wendete Alfred den Umschlag in seinen Händen. Plötzlich flatterte ihm ein Bündel Geldscheine auf den Schoß. Er fragte sich wie man in Peking so doof sein konnte, so viel Geld mit der Post zu versenden und wie viel Geld es schon gekostet haben musste, dieses Schriftstück mit wertvollem Inhalt an den wachsamen Augen der  chinesischen Beamten vorbeizumogeln. Er wollte die Zeilen auf dem Brief wirklich nicht lesen und er hatte auch gar nicht damit gerechnet, dass der Inhalt tatsächlich auf Deutsch geschrieben sei. Doch schon war er mittendrin: „Herre Netzer“, stand da, „wir sined vorzüglich erfreut, dass Sie Ihres Dienste der Volksrepublik of China widmen wollen und schickken Ihnes eine Geld für die Aufwand. Eines Frage wir haben noch: Nicht nur Nougat isset interssant. Auch die Marsipan. Sie heben die Marsipan inne Lübeck? Bitte Sie shcreiben uns nach Erhalt von die Geld als Dankeschön fürr die Nougat oder Sie rufen Herre Lim Kim Chi an. Tel: 0086/162 346567.
Viel Grüße und Gesundheit an Sie und Familie, Lee Xiao Bin.“

5000,- EURO... Alfreds Mund war trocken wie Papier. Er konnte nicht widerstehen. Er schob die Schreibtischschublade auf und schob sich eine Marzipankartoffel in den Mund - 5000- EURO! Was für ein schlüpfriger Auftrag konnte das sein, der mit Nougat und Marzipan zu tun hatte? Alfred seufzte und versuchte das Geld und den Brief in den durchgeweichten Umschlag zurückzustopfen. Seine Finger hinterließen klebrige, hellbraune Abdrücke auf dem zerlesenen Papier.

Nachts konnte Alfred nicht schlafen. Sein Herz raste, seine Beine kribbelten. Er musste unendlich viel trinken, um seinen Blutzucker wieder auf ein normales Maß zu reduzieren. In seinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell.: Sollte er dort anrufen? Er ahnte den Hintergrund der chinesischen Suche nach echtem Marzipan. Alfred schmeckte die Illegalität auf seiner Zunge - ein Hauch von Bitterschokolade mit einer kräftigen Prise Chilli.
Am nächsten Morgen ging es ihm nach seiner ausschweifenden Zuckerorgie denkbar schlecht. Nachdem er den ganzen Vormittag in seinem Bademantel vertrödelt hatte, nahm er wieder den Brief zur Hand und studierte ihn eingehend. Marsipan inne Lübeck... Ganz klar, es konnte sich hier nur um das sagenumwobene Haus Niederegger handeln. Alfred nahm das Telefon und wählte die ausländische Telefonnummer. Es klingelt, dann sprach eine Stimme am anderen Ende der Leitung: „Wei?“ Alfred räusperte sich: „Hallo? Hier ist Albert Netzer aus Lübeck.“ „Ah, de Herre Netzer... Sie habe die Brief bekomme?“ Alfred nickte und die hohe Stimme am anderen Ende der Leitung fuhr unbeirrt in ihrem PidginSingsang fort: „Das mitte die Nougat isset von Ihnen gut gelaufen. Nun wir brauchen die Resept für die Marsipan von Fabrik in Lübeck. Sie könne helfen?“ Alfred schluckte und krächzte: „Ja...“ „ Dann wir machen wie letzte Mal. Sie finde exakte Zutaten und dann unsere Mann komme in swei Wochen fürre Originalresept. Danke und gutte Glück!“ Es klickte in der Leitung und Alfred blickte fassungslos auf den Hörer in seiner Hand. Er strich noch einmal den Brief auf seinem Küchentisch glatt und suchte nach dem Briefkopf. Die chinesischen Schriftzeichen konnte er nicht entziffern. „Marzipan. Niederegger“ - schoss es durch seinen Kopf.
Jedes Kind, das in Lübeck aufwuchs, wusste, dass der echte Herr Niederegger vor zweihundert Jahren ein Rezept für Marzipan entwickelt hatte, das in seiner Einzigartigkeit von keinem Konditor nachgekocht werden konnte. Aber er kannte doch jede geschmackliche Nuance. Konnte das echte Lübecker Marzipanbrot unter drei Dutzend Sorten mit geschlossenen Augen spielend herausschmecken! Wenn es einen Fachmann für den richtigen Geschmack gab, dann doch ihn! Ja, seine Erfahrungswerte würden gebaucht. Endlich würde sich die jahrelange, leidenschaftliche Mühe an der Zuckerfront auszahlen. Wer, wenn nicht er, Alfred Nusseck, wäre in der Lage das Unmögliche zu schaffen: das Marzipan des Hauses Niederegger so zu durchschmecken, dass er es nachkochen konnte.

Schon am nächsten Morgen saß Alfred im Marzipan Salon des Café Niederegger mit seinen feinen Konditortischchen, vor sich ein großes Stück Nusstorte. Alfred nahm seine Aufgabe ernst. Er stach die Gabel in das Kuchenstück und beobachtete die Geschwindigkeit dieses Vorgangs, kalkulierte den Widerstand und die Reibung der Marzipanschicht an seiner Gabel. Aufgrund seiner Erkrankung, ließ Alfred Vorsicht walten und aß immer nur so viel, wie er später mit seinen Insulinspritzen ausgleichen konnte. Es fiel ihm relativ leicht, so dosiert zu schlemmen und zu verzichten, da die Auseinandersetzung mit dem Zuckergehalt der edelsten Pralinen dieser Welt, ihm wahrhaft intellektuelle Orgasmen vermittelten. Er testete: Edelbitter Mousse, Vanilletrüffel auf Pistazie (eine ganz feine sich ergänzende Würze durch die aromatischen Nüsse), rustikale Marzipanbrote (ehrlich, aber etwas einfallslos), Baumkuchen und so fort. Sorgfältig notierte Alfred die Ergebnisse in seinem Notizbuch und übertrug diese Manuskripte zu Hause in seinem Notebook. Der nächste Schritt bestand darin, die Zutaten zu recherchieren.  Hier konnte er einen Hauch Zitronenschale und dort eine Prise Sternanis erkennen.
Alfred schmunzelte, als er an seine Kämpfe der letzten Jahre mit all dem süßen Weihnachtsklimbim dachte. Was hatte er sich zusammengerissen, nur um nachts von all den sündigen Milkaschokonikoläusen zu träumen.

Frau Dr. Haller war alles andere als erfreut über die Blutzuckerwerte ihres Patienten: „Geben Sie´s zu – Sie naschen doch heimlich! Herr Nusseck, ich habe es Ihnen schon vor wenigen Wochen gesagt: Sie spielen um Leben und Tod!“
Alfred nickte und kochte zu Hause unbeirrbar die Ergebnisse seiner hingebungsvollen Recherche zusammen.
So verging die erste Woche seines erschlichenen Auftrags aus China und Alfred war so glücklich, wie schon lange nicht mehr in seinem Leben.
Der Lübecker Weihnachtsmarkt war in vollem Schwung. Überall dröhnten, bummerten und klingelten Band Aid, Wham! und Frank Sinatra. Alfred machte es nichts aus. Er tänzelte neidlos an Familien vorbei, die Weihnachtsmandeln und Lebkuchen in sich hineinstopften und den Jahresendstress mit Glühwein ersäuften. Er hingegen schwelgte in einem Kosmos aus Aromen, balancierte mit unendlicher Geduld das Verhältnis von süßen und bitteren Mandeln aus, probierte mit Zitronenschale, Bourbonvanille, Zimt und Rosenwasser dem Geheimnis des Hauses Niederegger auf die Spur zu kommen. Danach kostete er zum Vergleich die Originalwaren im Café, notierte, was noch fehlte und kochte zu Hause weiter.

Sein Durst war unstillbar. Er trank eimerweise Wasser und sein Atem war kurz. Aber es war schon Samstag, der 17. Dezember. In vier Tagen sollte die ominöse Übergabe des Rezeptes an Herrn Lim am Holstentor stattfinden. In seinen kurzen Telefonaten hatte Alfred diesen historischen Platz ausgewählt, da er dachte, das Ambiente mit den Türmen würde seiner Mission als Niedereggerspion Glück bringen.

Doch wie er sich auch abmühte, Alfreds Pralinen mundeten  nie so, wie sie  sollten. Er hatte alles versucht. Dennoch schmeckte alles was er mühevoll in langen Stunden am Tag und in der Nacht zubereitete,  entweder zu fad, zu süß oder im schlimmsten Fall: es zerfiel einfach auf dem Teller.

Am 19. Dezember sah Alfred ein, dass er es nicht ohne Hilfe schaffte. Es ging kein Weg daran vorbei, er musste an das Expertenwissen herankommen, an die Quelle vordringen. Am frühen Nachmittag eilte Alfred in die Breite Strasse 76 und spritzte sich schon Mal vorsorglich, eine minimale Dosis Insulin - zur Sicherheit.

Es war kalt geworden in Lübeck.  Seine Nasenspitze fühlte sich taub an. Die Finger liessen sich trotz der Fellhandschuhe kaum bewegen. Alfred fragte sich, ob Herr Lim solche Temperaturen gewohnt sei und ob in China der Winter auch spätestens im Januar allen den letzten Nerv rauben würde.
Er duselte am Weihnachtsmarkt, mit all seinen Märchenfiguren und der in Holz geschnitzten heiligen Familie, vorbei. Sein Atemhauch umwolkte ihn wie ein Dickens’scher Geist. Da lag es wieder vor ihm: das Café Niederegger.

Die Bedienung hatte bereits auf Alfred gewartet: „ Ich dachte schon Sie kommen gar nicht mehr.“ Alfred erwiderte ihr Lächeln. „Ich hätte gerne einen Tee.“ Schwerfällig ließ er sich auf dem zierlichen Mobiliar nieder. Trotz allen Insulins fiel ihm das Atmen schwer und er spürte wieder diesen quälenden Durst.
Er versuchte sich abzulenken und betrachtete die im Weihnachtsrausch dahindümpelnden Touristen: Amerikaner mit schirmmützigen Männern, deren Frauen mit rotlackierten Fingernägeln das süße deutsche Kulturgut befühlten und Japaner, die entzückt mit ihren Smartphones Fotos von sich in putziger Zuckerbäckeratmosphäre machten. Alfred schwitzte und keuchte. Sein Herz schlug die Sechzehntel von Rolf Zuckowskis „Weihnachtsbäckerei“. Er wartete auf den Augenblick, um in das Allerheiligste hinter den verführerischen Auslagen vorzudringen, um die Rezeptur zu finden, die seit zweihundert Jahren wohlgehütet wurde. Die Bedienung brachte ihm den Tee und liess sich dann nur allzugern in ein Gespräch mit dem in Rockstarkluft gekleideten Japaner verwickeln, der sie charmant um ein Foto bat. Alfred nutzte den Moment um auf der Toilette zu verschwinden und in das Headquarter des Hauses Niederegger zu gelangen.

Alfred war sich selbst nicht darüber im Klaren, wonach er eigentlich suchte. Glaubte er, ein vergilbtes Blatt Papier zu finden, auf dem in Sütterlin das Geheimnis des Niedereggerschen Marzipans stand? Beispielsweise: Johann Georg Niederegger 1842, Marzipan: „ Man nehme 1500g Mandeln aus Persien, 350g Honigh aus Lüchow“, womöglich mit einer Anmerkung „(Lotte meint man solle den Honigh mit Zucker vermängen...)“? Oder wollte Alfred rotgesichtige Köche beim Zartbitterschokoladerühren beobachten und hören wie sie ihren Eleven erklärten: „Nur 8 Zesten einer unbehandelten Zitrone aus Sienna, jedes weitere Stück würde die Creme verfälschen..“?
Ja, wahrscheinlich schlug Alfreds Phantasie genau solche romantischen Blasen.

Nach seinem vorgeschobenen Toilettengang, ging Alfred nicht zurück in den Cafébereich, sondern öffnete die Tür neben der Herrentoilette, auf der ein Schild mit der Aufschrift: „Privat“ hing. Doch dahinter verbarg sich nichts anderes als eine gewöhnliche Besenkammer. Gerade wollte Alfred enttäuscht umkehren, als er hinter einem vollgerümpelten Regal eine silberne Türklinke hervorschimmern sah. Aha – es geht also weiter: Alfred schob sich mit seinem massigen Leib an einem Staubsauger vorbei und drückte die Türklinke hinunter. Blindlings griff er nach einem Handlauf und fand auf halber Treppe sein Gleichgewicht wieder. Er atmete tief durch. Doch anstatt der erhofften paradiesischen Düfte, schlug ihm nur feuchtkalte, modrige Luft entgegen. Er starrte in die Dunkelheit, fluchte über seine Naivität und wollte sich gerade umdrehen, da hörte er mit Entsetzen, wie die eiserne Tür in seinem Rücken ins Schloss fiel. Mit den Händen voran tastete er sich Stufe um Stufe hinauf, bis er die kalte Oberfläche der Tür unter den Fingerkuppen spürte. Erleichtert schloss sich seine Hand um den Türknauf – Er rührte sich keinen Millimeter. Alfred versuchte es erneut, doch es hatte keinen Sinn. Er war gefangen! Nichts mit Zuckerbäckern mit hohen Mützen oder geheimnisvollen zweihundertjährigen Briefen – er war gefangen! Sein Kopf schmerzte. Seine Kehle war ausgedörrt. Aber um seinen Durst konnte er sich jetzt nicht kümmern – er musste einfach raus!
Es gab weitere Stufen und von unten strömte der Luftzug herauf, den er bitter nötig hatte. Denn inzwischen hatte sich ein Ring um seine Brust gelegt und zog sich mit jedem Atemzug fester zu. Er versuchte ruhig zu atmen. Doch je mehr er sich bemühte, desto bedrohlicher wurde das Gefühl zu ersticken. Seine Hände tasteten sich an den rauen Kellerwänden abwärts. Er spürte, dass es kälter wurde. Raus – an die Luft – zu irgendeinem Getränk! Er kletterte die Stufen weiter hinunter.
Endlich war er am Fuße der Treppe angekommen. Hier war es kälter und zugiger als an jedem Ort, den er zuvor in seinem Leben betreten hatte. Er stieß gegen eine scharfe Kante. Mit steifen Fingern folgte er den Umrissen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Werkstatttisch handeln musste.

Alfreds Zunge klebte an seinem Gaumen. Er konnte nicht anders: Er musste in die Tasche greifen, um sich eine Lindorkugel zu holen und in seinen Mund zu schieben. Während er nervös kaute, machte sich der scharfe Geruch von Aceton in seiner Nase breit. Welche Frau entfernte sich hier wohl ihren Nagellack? Ihm wurde schwindelig. Ein weisser Strudel begann sich um ihn zu schließen, dann erlosch sein Bewusstsein.

Bekümmert blickte Alfred Nusseck auf seinen leblosen Körper herab. „Alfred – was hast Du getan? Was wolltest Du hier?“
Doch der Körper regte sich nicht mehr. Es sollte tatsächlich drei Wochen dauern, bis man Alfreds Leiche fand. Kalt, grau und schlaff lag sie auf dem nackten Beton vor dem Kellerfenster.

Das wabernde Grau seiner Seele strömte zum Lübecker Holstentor und umstrich den bibbernden chinesischen Mann, der vergeblich mit seinem fest umschlossenen Geldköfferchen auf und ab trippelte. Neben Herrn Lim glomm eine andere fahle, ätherisch anmutende Gestalt. Alfred´s Geist konnte einen Mann mit Zylinder, weißen Haarlocken und einem Backenbart erkennen, dessen Frack im Nordwind flatterte. Spöttisch blickte die Erscheinung auf den kleinen Asiaten, der von einem Bein aufs andere trat. Dann richtete der frackbemantelte Geist  seine betongrauen Augen auf  das, was von Alfred übrig geblieben war „Du hättest die Mandeln rösten und salzen sollen!“ Und vor Alfred´s Augen wedelte der Geist des Herrn Niederegger das vergilbte Rezept in seiner aschfahlen Hand.
„Rösten... und salzen...“

Überarbeitung: Thomas Piesbergen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen