Seine zentrale Aufgabe, ausgehend von dem primären Riechhirn, ergänzt durch taktile, visuelle und auditive Sinnesorgane, besteht darin, Reize der umgebenden Wirklichkeit aufzunehmen, zu verarbeiten und angemessene Reaktionen daraus abzuleiten.
Im Laufe der Evolution neuraler Strukturen entstanden aus den ersten miteinander korrespondierenden Sinneszellen immer komplexere Systeme, die zunehmend zu Rückkoppelungen und irgendwann sogar zu Gedächtnisleistungen imstande waren.
Unter diesen Vorraussetzungen entwickelte sich als höchst effektive Anpassungsstrategie höherer Lebewesen die spielerische Neugier. Sie veranlaßt das Gehirn sich zunächst in zweckfreiem Spiel und ohne existentielle Notwendigkeit mit der umgebenden Wirklichkeit auseinander zu setzen. Erfahrungen mit der Umwelt werden nicht mehr erlitten, sondern gezielt provoziert.
Die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, können später in Situationen, in denen unter existentiellem Druck rasch gehandelt werden muß, abgerufen und angewendet werden. Durch das Vermeiden des Trial and Error-Prozesses in bedrohlichen Situationen, erhalten Lebewesen, die mit spielerischer Neugier ausgestattet sind, einen deutlichen evolutiven Vorteil gegenüber Spezies, die in Untätigkeit verharren, bis sie durch existentiellen Druck dazu gezwungen werden, zu agieren.
Beim Menschen, dessen Gehirn mit seinen etwa 100 Billionen Synapsen das komplexeste bekannte System überhaupt darstellt, das wir bisher kennen, hat sich diese spielerische Neugier in einen Wissensdurst und einen Drang nach Erkenntnis gesteigert, der beispiellos ist. Er geht soweit, daß der Mensch sich mit kaum weniger zufrieden geben möchte, als der Antwort auf die Frage nach dem Urgrund allen Seins, der Frage nach der Beschaffenheit der Wirklichkeit.
Seit der Antike haben sich dazu vor allem zwei entgegengesetzte Strategien durchgesetzt, um diese Frage zu beantworten: die eine ist der nach innen gerichtete Erkenntnisweg der Mystik, der andere der nach außen gerichtete, empirische Erkenntnisweg Wissenschaft.
Die Kunst, also die Hervorbringung von Bildwelten mit eigener Dynamik und implizierter Bedeutungslogik, hat ihre Wurzeln in einer Zeit, in der diese beiden Strategien noch nicht voneinander getrennt gedacht wurden. Seit der Trennung von Religion und Wissenschaft, die sich in der Antike vollzog, blieb sie allerdings vor allem der Sphäre der Religion verhaftet.
Im europäischen Kontext emanzipierte sie sich erst während der Renaissance von religiösen Inhalten und bildete auch Profanes ab: Portraits aus der bürgerlichen Lebenswelt, Naturstudien und schließlich auch, jedoch als Ausnahmeerscheinungen, Zeichnungen im Dienste wissenschaftlicher Überlegungen, wie z.B. die berühmten Skizzen Leonardo DaVincis.
Eine zielgerichtete Bewegung der Kunst auf die Wissenschaft zu wurde erst im Laufe des 20. Jhds. verstärkt vorgenommen, seit sich die Kunst von ihrer Rolle als bloßer Träger von Bild- und Bedeutungsinhalt emanzipiert hat und sich vornehmlich mit den allgemeineren Mechanismen der Wahrnehmung auseinandersetzt, Sehgewohnheiten aufbricht, Rezeptionsroutinen transzendiert und sich in transmediale Kommunikationsstrukturen fortsetzt, d.h. ihre Funktion und Wirksamkeit auch jenseits von Bild oder Objekt entwickelt, wie z.B. in der Prozess- oder Konzeptkunst.
Der Imperativ des uns konstituierenden Anpassungsorgans blieb aber auch hier ungebrochen fortbestehen: die Frage nach den primären Gegebenheiten unserer Wirklichkeit; so ist es auch in dem künstlerischen Ansatz von Tan Bartnitzki und Uwe Kraft.
Sie richten den Blick auf die grundlegenden physikalischen Vorgänge, die uns ständig und unmittelbar umgeben, die unsere physische Existenz bestimmen und deshalb für uns nahezu unsichtbar sind - weshalb es viele hunderttausend Jahre gedauert hat, bis der Mensch in der Lage war, sie zu erkennen und zu formulieren.
Da wir sie als unwandelbare Konstanten des Seins hinnehmen, nehmen wir meist nur ihr ausbleiben oder die Abweichung von ihnen wahr. Man könnte sie fast im Sinne von Niklas Luhmann und John Spencer Brown als den blinden Fleck oder die selektive Blindheit bezeichnen, die uns überhaupt erst möglich macht, Unterscheidungen vorzunehmen und Beobachtungen anzuzeigen.
Um diese Rezeptionsroutinen aufzubrechen, die verhindern, daß wir das Wirken grundlegender physikalischer Gegebenheiten wahrnehmen, nutzen Bartnitzki und Kraft die erwähnte spielerische Neugier des Menschen und locken ihn in Räume des zweckfreien Spiels, das eine neue und überraschende Perspektive auf die natürlichsten und grundlegendsten Gegebenheiten unseres Seins ermöglicht.
Diesen Ansatz spiegelt auch die Wahl des Ausstellungstitels wieder: „Physiopark“. Unter einem Park versteht man heutzutage vor allem einen Ort des Ausruhens, der Zerstreuung, des Spiels, auch einen Ort der Attraktionen - in diesem Fall einen Ort physikalischer Attraktionen.
Doch sind diese Attraktionen eben keine Bestandteile eines physikalischen Kuriositätenkabinetts, keine Phänomene, die scheinbar von den „unwandelbaren“ Konstanten abweichen, sondern es sind diese Konstanten selbst, die uns ohne ihre alltägliche Maskerade vorgeführt werden! Ganz im Sinne eines Zitats des vietnamesischen Zen-Lehrers Thich Nhat Hanh: „Im gegenwärtigen Augenblick zu leben ist ein Wunder. Über das Wasser zu schreiten ist es nicht.“
Eine dieser Konstanten ist die Gravitation, die wir zwar immer und überall spüren und beobachten, über deren Wesen und ihre vielfältige Wirkung wir uns aber so gut wie nie Gedanken machen. Tatsächlich ist Gravitation nichts anderes als Bewegung und Beschleunigung.
Selbst wenn wir vermeinen, still zu stehen, ist dieser Stillstand eigentlich nichts anderes, als ein aufgehaltener Sturz auf den Erdmittelpunkt zu; gleichzeitig natürlich auch die rasende Rotation um diesen Mittelpunkt herum; und gemeinsam mit dem Erdball eine noch schnellere Bewegung um das Gravitationszentrum der Sonne herum, die sich mit unserem ganzen Sonnensystem wiederum in rasender Fahrt um den Mittelpunkt unserer Galaxie bewegt, die schließlich unvorstellbar schnell, angetrieben von der Gewalt des Urknalls, durch das expandierende All saust.
Um die Gravitation auf simpelst mögliche Weise erfahrbar zu machen, wählten Bartnitzki und Kraft in ihrer Arbeit „1 durch r Quadrat“ die schiefe Ebene, mit der es bereits Galileo 1594 gelungen war, die Erdbeschleunigung zu ermitteln.
Bartnitzki & Kraft, 1 durch r Quadrat, 2014 |
Auf einem Video der Apollo 15 Mission erleben wir die Erfüllung einer Voraussage, die Newton auf der Basis von Galileos Erkenntnis formuliert hat, nämlich daß ein Hammer und eine Feder, wenn da nichts ist, das ihren Fall bremst, wie z.B. die Luft, die gleiche Fallgeschwindigkeit entwickeln.
Wiederum ein deutlicher Verweis auf unsere Wahrnehmungsroutinen, deren Bedingtheit und Beschränktheit wir im Alltag weder wahrnehmen noch in Frage stellen.
Ein nächster Komplex beschäftig sich mit dem Urknall und dessen Echo, der kosmischen Hintergrundstrahlung, in deren Strukturen erst vor kurzem Gravitationswellen entdeckt worden sind, die aus der (gerade entstandenen!) Zeit kurz nach dem Urknall stammen und damit das Modell des Inflationären Universums bestätigt haben.
Als Verweis auf diese uns stets umgebende Hintergrundstrahlung und die darin enthaltene Information wird der Raum durch die Klanginstallation „Nachhallgerät“ beschallt, die die Gravitationswellen des Urknalls in ein hörbares Spektrum übersetzt.
Ein Teil des Ausstellungsraums wird beherrscht von einer visuellen Umsetzung des Urknalls mit dem Titel „Big Bäng 1, 2, 3“ in Form dreier Schaukästen und einer chaotisch anmutenden Explosion von allerlei merkwürdiger Materie, eingewoben in Klopapier-Superstrings; eine kleine Erinnerung daran, das alle Materie „kosmisch“ ist, nicht nur Dinge, die von Hubble beobachtet werden, sondern auch die Dinge, die in den Regale der Drogerien stehen.
In einem der Schaukästen fliegen Atome und Steinbrocken auseinander, in einem zweiten die Tiere der Arche Noah - Verweis darauf, daß nicht nur die unbelebte Materie des Universums dem Prozess gehorcht, der durch den Urknall ausgelöst worden ist, sondern auch die Evolution der Organismen: die stete Zunahme von Vielfalt und Komplexität bei einer gleichzeitigen Expansion.
Bartnitzki & Kraft, Big Bäng 1, 2, 3, 2014 |
Natürlich stellt sich dem an seiner Alltagstauglichkeit gewachsenen Verstand die Frage: was habe ich denn mit dem Urknall zu schaffen? Die Antwort darauf liegt wiederum in der Frage nach dem Zentrum des Urknalls verborgen. Denn die Expansion des Universum ist derart beschaffen, das sich alles in gleicher Geschwindigkeit von allem anderen fort bewegt. Das bedeutet: das ehemalige Zentrum des Urknalls ist überall, auch genau an dem Ort, an dem ich mich jetzt befinde - oder an dem sie gerade stehen. Sie selbst befinden sich genau jetzt und ihr ganzes Leben lang genau an dem Ort, an dem die allererste Quantenfluktuation stattgefunden hat, die unser Universum hervorgebracht hat!
Der Mittelpunkt ist überall: eine Erkenntnis, in der sich moderne empirische Kosmologie und mystische Einsicht wieder begegnen!
Ein dritter Themenkomplex der Ausstellung beschäftigt sich mit der zyklischen Natur der meisten, möglicherweise sogar aller Vorgänge innerhalb des Universums.
Das Zyklische erleben wir auf zwei, von unserem Verstand künstlich getrennten Ebenen: im Raum und in der Zeit: Die Elektronenwolken kreisen um den Atomkern, die Erde um ihre eigene Achse, der Mond um die Erde, die Planeten um die Sonne, die Sonnensysteme um das galaktische Zentrum etc., während alle lebendigen Organismen sich in dem zeitgebundenen Zyklus der physischen Reproduktiuon befinden, in der stets wiederkehrenden Abfolge von Geburt und Tod, möglicherweise auch von Tod und Wiedergeburt, im Kreislauf der Jahreszeiten, selbst angetrieben vom Blutkreislauf, eingebunden in den Kreislauf des Wassers, des Sauerstoffs etc., und dabei gedanklich meistens kreisend um sich selbst.
Das Symbol dieser Idee der ewigen Wiederkehr finden wir in der liegenden 8, dem Unendlichkeitszeichen, hier in der Arbeit „Lemniskatenoperator“ von einem motorisierten Gelenkmodell, in das eine Leuchtdiode eingebaut ist, mit Licht in den Raum gezeichnet wird, sowie in den Multiple-Objekten „Das Allgestaltende“, zwei ineinander geschobene Scheiben, in deren Umlauf auf die vierte Dimension verwiesen wird.
Bartnitzki & Kraft, Lemniskatenoperator, 2014 |
Auch eines der Urknallmodelle greift die Idee des zyklischen Charakters der Raumzeit auf, das sogenannte „geschlossene“ Universum, das sich nach einer Zeit der Expansion wieder zusammenzieht, um schließlich in einer Singularität wieder in sich zusammen zu fallen - hier als eine Implosion von Wollfäden inszeniert.
Eine weitere Arbeit, in der zyklisches Verhalten im Raum und in der Zeit ineinander fallen, ist die „Vollmonduhr“, die die Erdumdrehung und die Umlaufzeit des Mondes als Drehung einer Scheibe und Umlauf einer daran hängenden Kette darstellt.
Angesichts dieser allgewaltig wirksamen und in ihrem ganzen Ausmaß unvorstellbaren Kräfte, Zusammenhänge und Bewegungen stellt sich natürlich die Frage nach dem Standort und Stellenwert des Menschen.
Und hier kommen wir wieder zu dem eingangs erwähnten Blinden Fleck zurück.
Wie wir gesehen haben, gibt es keinen Stillstand im Universum. Ebensowenig scheint es Anfang und Ende zu geben, wenigstens nicht auf eine zeitlich determinierte Art und Weise, die wir zu erfassen imstande wären, - unabhängig von der Frage, ob das Universum nun „offen“ oder „geschlossen“ ist - denn wie soll man sich schließlich etwas vorstellen, was vor der Zeit gewesen ist?
Dennoch denken wir Zustände wie „Stillstand“ oder letztlich metaphysische Begriffe wie „Anfang“ und „Ende“!
Die Physik hat Jahrhunderte gebraucht, bis sie auf dem Feld der Quantenphysik endlich auf die möglicherweise wichtigste Größe überhaupt gestoßen ist: den Beobachter! Plötzlich wurde offensichtlich, daß gewisse Dinge erst in dem Moment in eine beobachtbare Wirklichkeit übergehen, in dem sie tatsächlich beobachtet werden. Denn bis dahin verharren sie lediglich in einem Zustand der Möglichkeit.
Und das trifft nicht nur auf quantenphysikalische Vorgänge zu. In einem sich permanent bewegenden Universum ohne einen zu verortenden Mittelpunkt kann nur dann gemessen werden, wenn von einem Ort aus gemessen wird, den man mit dem Begriff des Stillstands, des Anfangs oder des Endes kennzeichnet: der ruhende Pol, der Bezugspunkt, zu dem man die Dinge in Relation setzt. Und dieser ruhende Punkt ist der Mensch selbst, unser blinder Fleck der Beobachtung.
Hier begegnen wir ein weiteres mal dem zyklischen Charakter der Wirklichkeit: selbst wenn das Universum laut dem aktuellen Forschungsstand offen und nicht geschlossen ist, erleben wir die Inversion in der Wahrnehmung des Universums! Denn schließlich ist unser Bewußtsein nichts vom Universum Unabhängiges. Das Universum hat das Bewußtsein hervorgebracht und blickt durch unsere Augen auf sich selbst zurück! Und in diesem Blick begegnen sich auf kognitiver Ebene auch die nach außen gerichtete Wissenschaft und die nach innen gerichtete Mystik in der Entsprechung ihrer Erkenntnisse und schließen damit den Kreis unserer Erkenntnisfähigkeit.
Um in den Begrifflichkeiten des Jahresthemas „Park & Ride“ zu bleiben, könnte man also den Beobachter, das menschliche Bewußtsein als Parkplatz des Universums bezeichnen, an dem es innehält, um einen Blick auf sich selbst zu richten und seine eigenen Bewegungen zu ermessen.
Im Physiopark von Tan Bartnitzki und Uwe Kraft wird diese Inversion, dieser Punkt, unser Standort, markiert durch das Objekt „Ontologischer Spiegel“, das aus nur drei mit einem Laser aus schwarzem Plexiglas geschnittenen Buchstaben besteht: „I am“. Das ist der Mittelpunkt des Universums, der Mensch, Gott, der Ort an dem der Urknall stattgefunden hat, der Anfang, das Ende - unser fleischgewordener Parkplatz, zu dem wir immer wieder zurückkehren müssen, egal in welche kosmischen Bereiche unser Bewußtsein uns hat blicken lassen.
Bartnitzki & Kraft, Ontologischer Spiegel, 2014 |
Bartnitzki & Kraft, Kraft/Sterkte,Power, 2014 |
Ein Zen-Schüler fragte einmal seinen Meister: „Und was kommt nach der Erleuchtung?“
Der Meister antwortete: „Wasser holen und Holz hacken.“
© VG Wort / Dr. Thomas Piesbergen, Mai 2014
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