Hatten die Vorsokratiker die Welt vielleicht noch als einen ruhig, aber stetig dahinfließenden Strom begreifen können, befinden wir uns heute inmitten sich stets beschleunigender Stromschnellen. Die Ereignisse überschlagen sich, jeder versucht den Kopf über Wasser zu halten, und es ist kaum absehbar, was uns hinter der nächsten Biegung des Flußes erwartet. Und wir alle haben die mehr oder weniger starke Gewißheit, daß wir auf einen Wasserfall zutreiben.
In dieser sich stets beschleunigenden Welt, in der sich die zu bewältigen Probleme täglich zu potenzieren scheinen, müssen wir schmerzlich beobachten, wie das politische System, die parlamentarische Demokratie, zum einen immer weniger in der Lage ist, angemessen und zeitnah zu reagieren, zum anderen, daß sie den Eindruck erweckt, sie würde sich am liebsten selbst abschaffen. Die von uns legitimierten Akteure scheinen immer weniger Willens zu sein, ihren demokratischen Auftrag zu erfüllen, und lassen sich statt dessen bereitwillig vor den Karren der großen Konzerne spannen, die durch einen staatlich sanktionierten Lobbyismus omnipräsent scheinen.
Die entsprechenden Schlachtpläne wie z.B. TTIP, CETA und TISA sollten hinlänglich bekannt sein.
Vernissage, BBK: Position. 2015, Fabrik der Künste, Foto: Monika Schröder |
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß sich das politische Handeln nicht nur darauf beschränken darf, alle vier Jahre als Stimm-Vieh die sogenannten Volksvertreter zu wählen, sondern daß es notwendig ist, politische Entscheidungen und Handlungen in die Sphäre der individuellen Verantwortlichkeit zu überführen.
Das zeigt sich z.B. in der aktiven Solidarität, die derzeit den Flüchtlingen von weiten Teilen der Bevölkerung entgegengebracht wird.
Gleichzeitig läßt sich seitens der Bürger überall ein stetig wachsender Willen zu einer stärkeren Demokratisierung unserer Gesellschaft beobachten: Kaum ein innerstädtisches Bauvorhaben, in dem keine Bürgerbeteiligung gewährt wird, oder, sofern das nicht der Fall ist, von den Anwohnern, der Versuch unternommen wird, sie zu erzwingen.
Bürgerbegehren und Petitionen schießen wie Pilze aus dem Boden, während große Teile der Berufspolitiker auf der anderen Seite versuchen, die einmal gewährten Möglichkeiten einer basisdemokratischen Beteiligung so schnell wie möglich wieder aus der Welt zu schaffen, um unbehelligt vom Volk regieren zu können.
Bezeichnend dafür ist auch die gestern veröffentlichte Shell Jugendstudie, die ein deutlich steigendes Interesse Jugendlicher an der Politik verzeichnen konnte, gleichzeitig aber eine Abkehr von den Parteien zugunsten eines persönlichen Engagements.
Das Bewußtsein für die politische Relevanz des Handelns dehnt sich bei einer immer größer werdenden Zahl von Menschen auf solche alltäglichen Entscheidungen aus, ob man Äpfel aus Neuseeland oder lieber von regionalen Erzeugern kauft, Schokolade von Unilever und Nestlé oder aus dem Fairtrade-Handel.
Wenn also das Gestalten von politischer Realität immer mehr in die Sphäre des Alltags und der Verantwortlichkeit des Einzelnen tritt, läßt die Frage nicht auf sich warten, wie es um die politische Verantwortung der Kunst bestellt ist. Darf, kann, sollte oder muß Kunst politisch sein?
Vernissage, BBK: Position. 2015, Fabrik der Künste, Foto: Monika Schröder |
Blickt man auf die historische Beziehung von Kunst und Politik zurück, fällt zunächst die lange Tradition der staatstragenden Kunst ins Auge. Die Kunst ist seit alters her der stetige Begleiter der Mächtigen und Reichen, die sie nutzen, um hierarchische Strukturen zu rekapitulieren, um die eigene Macht zu repräsentieren, sich verherrlichen zu lassen oder um lediglich das eigene Lebensumfeld mit ihr zu schmücken.
Zu einem offen artikulierten politischen Selbstbewußtsein fand die Kunst erst in den Demokratien des frühen 20. Jhd., in dem sie begann, sich als politische Kraft zu verstehen, tagespolitische Kritik zu üben und sich aktiv gegen die Machteliten zu wenden.
Seitdem gibt es immer wieder Bewegungen und Schulen, mal mehr, mal weniger präsent im Diskurs, deren Agenda ganz offenkundig eine politische ist.
In den letzten Jahren hat eine ganze Reihe von international agierenden Künstlern sich die eben gestellte Frage nach einem möglichen politischen Imperativ der Kunst wieder einmal mit einem deutlichen „Ja“ beantwortet - und das entsprechende Label wurde ihnen ebenfalls schon aufgedrückt:
Mit der Bezeichnung des „Artivismus“ werden Künstler und Künstlerinnen bezeichnet, die sich die Mittel des politischen Aktivismus angeeignet haben, um auf die für sie unerträglichen Zustände aufmerksam zu machen und neue Denkräume für Lösungen zu öffnen.
Im Rahmen der Ausstellung und des Forums Position wird es eine ganze Reihe von Veranstaltungen zu dem Thema der ausdrücklich politischen Kunst geben, bei denen die Fragen nach ihrer Notwendigkeit genauso umfassend diskutiert werden, wie die möglichen Gefahren, die sie birgt, und die Fallen, in die die Künstler geraten können.
So werden am Samstag, den 17. Oktober der Journalist Hanno Rauterberg und die Direktorin des Kunstvereines Bettina Steinbrügge sich über das Spannungsfeld zwischen Ethik und Ästhetik auseinandersetzen.
Am Montag, den 19. Oktober gestaltet die Künstlerinnengruppe CALL eine Installation mit Lecture-Performance zu der Frage, ob Feminismus in der Kunst politische Folgen habe.
Und am Freitag, den 23. Oktober wird André Leipold vom Zentrum für politische Schönheit erläutern, warum Kunst Widerstand leisten muß.
Zu diesem Themenbereich also wird in den nächsten Tagen von berufener Seite bereits eine Menge gesagt werden, weshalb ich diesen Aspekt des Politischen in der Kunst an dieser Stelle nicht weiter vertiefen möchte.
Wie sieht es aber aus mit den Künstlern, die keine gezielt politische Aktions- oder Darstellungsform nutzen, die keine erklärt politische Gestaltungsabsicht haben? Was ist mit Künstlern, die sich ihrer Arbeit in erster Linie über ästhetische Kategorien nähern? Sind sie dazu verdammt, unpolitisch zu bleiben?
Gibt es überhaupt so etwas wie unpolitische Kunst?
Dr. Thomas Piesbergen, BBK: Position. 2015, Fabrik der Künste, Foto: Monika Schröder |
Am Mittwoch, den 21. Oktober werden die Kunstkritikerin Belinda Grace Gardner, der Kurator Florian Waldvogel und der Galerist Ralf Krüger darüber diskutieren, wer heutzutage eigentlich bestimmt, was Kunst ist und was nicht.
Um die vorher gestellte Frage zu beantworten, möchte ich dieser sicher sehr interessanten Podiumsdiskussion etwas voraus greifen und aus kulturanthropologischer Perspektive den Versuch einer Definition wagen.
Es ist, denke ich, legitim, über die Kunst unter den Gesichtspunkten ihrer Informationsmuster nachzudenken, und sie als Mittel der Kommunikation zu begreifen.
Desweiteren kann man sie wohl näher einkreisen, um sie vom Kunsthandwerk abzugrenzen, in dem man ihr das Charakteristikum zuweist, sie repetiere nicht nur bereits bekannte Informationsmuster, sondern breche sie, erweitere sie, füge Ihnen etwas Neues hinzu. Kunst als Entropie, die dem Status Quo entgegen tritt.
Auch wenn ein Werk kein klar artikuliertes inhaltliches Anliegen zum Ausdruck bringen soll, keine auf Anhieb greifbare Botschaft hat, kann es durch dieses entropische Element auf den Betrachter und dessen Wahrnehmungsroutinen und Vorstellung der Wirklichkeit einwirken und so zu einer Veränderung des Status Quo beitragen.
Kunst ist Kommunikation. Kommunikation setzt die Intention voraus, bewußt oder unbewußt auf eine Gemeinschaft einzuwirken, und indem sie die gemeinschaftlichen Informationsmuster und Wahrnehmungsroutinen überprüft, verändert oder erweitert, gestaltet sie gesellschaftliche Strukturen mit, die rückwirkend wiederum die Kommunikationsvoraussetzungen verändern. In diesem Sinne ist Kunst eine strukturierende Struktur, also eine gesellschaftsformende und somit politische Kraft.
Ich habe in den letzten Jahren mit zahlreichen Künstlern zusammengearbeitet, die, selbst wenn sie nie von sich behauptet hätten, sie wären politische Künstler, in diesem Sinne politisch hochbrisante Positionen vertraten. Sie handelten intuitiv aus einem tiefen Unbehagen und entwickelten daraus kraftvolle und formal-ästhetisch überzeugende Positionen, die im Sinne Marshall McLuhans auf den Status Quo der Rezeption einwirken, auf diese Weise Bedeutung generieren und so indirekt ihre „Botschaft“ vermitteln.
Indem die Künstler mit ihrer Arbeit unsere Wahrnehmungsroutinen überprüfen und aufbrechen, indem sie Auswege aus den kontinuierlichen Reproduktionskreisläufen einer Mainstream-Wirklichkeit öffnen, ermöglichen sie die Bildung individueller Wahrnehmung, Haltung und Persönlichkeit. Dadurch leisten sie einen bedeutenden Beitrag zu einer freiheitlichen Gesellschaft. Nicht umsonst gibt es auf der ganzen Welt nicht ein totalitäres Regime, das die Freiheit der Kunst unangetastet läßt! Denn die Kunst ist nicht nur abhängig von der Gesellschaft, die ihr künstlerische Freiheit gewährt, auch die Gesellschaft ist abhängig von der Kunst, die gesellschaftliche Unfreiheiten entlarven kann und dadurch einen bedeutenden Beitrag zum Erhalt der individuellen Freiheit leistet.
Aus dieser Betrachtung möchte ich ableiten, daß es keine unpolitische Kunst gibt, lediglich Künstler, die sich der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Kunst noch nicht zur Gänze bewußt geworden sind.
Eine freie Kunst ist also ein bedeutender Aspekt einer freiheitlichen Gesellschaft. Wie steht es aber um die Freiheit der Künstler? Unter was für Rahmenbedingungen arbeiten sie, in welchen von der Politik determinierten sozialen Strukturen und ökonomischen Hierarchien müssen sie agieren, um von ihrer Kunst leben zu können, wenn das überhaupt möglich ist?
Am augenscheinlichsten sind die Gegebenheiten des Kunstbetriebes selbst. Zum einen steht die Frage im Raum, wer überhaupt die Deutungshoheit im Reiche der Kunst inne hat, (was während der erwähnten Podiumsdidkussion am 21. Oktober sicher sehr viel eingehender als an dieser Stelle behandelt werden wird.)
Die Deutungshoheit wird ausgeübt von nur weniger Machtpositionen, die in fester Hand sind: die Professoren an den Hochschulen, die Kuratoren an den Museen, Galeristen, wenige einflußreiche Kunstkritiker und finanzstarke Sammler, deren Urteile und Ankäufe in der öffentlichen Wahrnehmung in der Regel als Qualitätsmerkmal der Kunst gelten, die aber selbst mal mehr mal weniger Spielball der künstlerischen Mode und des Diskurses oder der Wertschöpfungsentwicklung sein können.
Ihnen muß der bildende Künstler gefallen, will er als Künstler überleben - ganz im Gegensatz zu dem Schriftsteller oder Musiker, der erfolgreich ist, wenn er nicht wenigen Entscheidungsträgern, sondern den Massen gefällt.
Um das zu erreichen, unterwirft sich der Künstler mal mehr, mal weniger freiwillig den Spielregeln dieser kleinen und elitären Öffentlichkeit, die weltanschaulich nicht selten die gegnerische Seite vertritt, die nicht selten den Wert eines Kunstwerks nur an dessen Verkäuflichkeit mißt, und der Künstler erfüllt mal mehr, mal weniger freiwillig, das von ihm Erwartete oder Geforderte und trägt, in dem er sich notgedrungen bis zu einem gewissen Maß anpaßt, zu einem Erhalt dieser Strukturen bei. Denn schließlich will er als Künstler überleben.
An dieser Stelle muß ich ein Thema anschneiden, über das im Kunstkontext gar nicht oder nur sehr ungern gesprochen wird: die prekäre Lebensituation, die ein großer Teil der Künstler zu erdulden hat.
Denn welchen Künstlern gelingt es überhaupt ohne das Prinzip konsequenter Selbstausbeutung zu agieren? Wie viel der in Hamburg aktiven Künstler sind abhängig vom ALG II? Wie viel kommen kaum dazu, sich ihrer Kunst zu widmen, weil sie zu zeitraubende Brotjobs gezwungen sind? In welchen Häuser und Institutionen ist es üblich, Ausstellungshonorare zu bezahlen? Wie häufig verdient das Aufsichtspersonal einer Ausstellung mehr als die ausgestellten Künstler, die doch eigentlich Dreh- und Angelpunkt der Kunstwelt sein sollten, nicht nur das produzierende Kunst-Proletariat?
In unserer Gesellschaft können wir eine konstante Atomisierung beobachten, die das Individuum zu einem unendlich flexiblen, verfügbaren Teilchen machen möchte.
Die Mechanismen der Kunstwelt haben zu aller Leidwesen leider häufig eine ähnliche Wirkung. Es gibt nur wenige Plätze an der Sonne und jeder, der in die inneren Zirkel vorgedrungen ist, teilt seine guten Verbindungen nur mit wenigen Auserwählten. Und natürlich bringt dieser Konkurrenzdruck als Nebenwirkung wiederum die Bereitschaft zur Selbstausbeutung hervor, denn lieber trägt man unentgeltlich seine Haut zum Markt, um als Künstler sichtbar zu werden, als daß man allein und unerkannt im Atelier hocken bleibt und über den Zynismus der Kunstwelt schimpft.
Um die Ohnmacht des Individuums zu überwinden und ihm eine Handlungsmöglichkeit zu geben, haben sich auf der allgemeinen politischen Bühne NGOs gebildet, die versuchen, die isolierten Individuen wieder zusammen zu führen, um gemeinsam Bürgerrechte und Verbraucherinteressen zu schützen. Ihre Effektivität zeigt sich in den jüngsten Demonstrationen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA, die ohne die NGOs zudem niemals ans Licht der Öffentlichkeit gekommen wären.
Auch auf dem gesellschaftlichen Feld der Kunst gibt es die Möglichkeit, die Atomisierung und die Isolation des Individuums zu überwinden: Zu derselben Zeit, in der sich die Kunst ganz offen zu politischen Inhalten bekannte, entstanden mit den sog. wirtschaftlichen Verbänden seit 1913, zusammengefasst 1921 als Reichswirtschaftsverband Bildender Künstler, ihre ersten Interessenvertretungen. Diese Organisationen sind die Vorläufer des 1971 gegründeten BBK und seiner Landesverbände.
Dank dieser Verbände haben auch Künstler die Möglichkeit, die individuelle politische Ohnmacht zu überwinden und sich für eine aktive Solidarität zu entscheiden, damit sie nicht nur die eigene Arbeit haben, um politisch sichtbar zu werden, sondern gemeinschaftlich für ihre Rechte und für bessere Arbeitsbedingungen eintreten können.
Denn die Freiheit des Einzelnen kann nur durch gemeinschaftliches Handeln vieler Einzelner geschaffen und gewährleistet werden.
Es ist ausgesprochen erfreulich, daß sich in den letzten Jahren nicht nur zahlreiche Künstler, die schon seit längerem erfolgreich und sichtbar arbeiten, dazu entschieden haben, dem BBK beizutreten, sondern auch die nachrückende Generation im Berufsverband eine relevante Vertretung ihrer Interesse sieht.
Vernissage, BBK: Position. 2015, Fabrik der Künste, Foto: Monika Schröder |
In diesem Jahr sind es folgende Künstler, die durch ihren Beitritt dazu beitragen, der Stimme des Hamburger Berufsverbands noch mehr Gewicht zu verleihen:
Christian 3 Rooosen.
Peter Boué.
Christiane Bruhns.
Andrea Cziesso.
Barbara Dévény.
Arielle Drouard.
Errkaa.
Sibylle Hauswaldt.
Michael Heine.
Katja Hirschbiel.
Brigitta Höppner.
Katharina Holstein-Sturm.
Burglind Jonas.
Thomas Klockmann.
Johannes Koch.
Ines-Irene Llosent y Gall.
Hanna Malzahn.
Martin Meiser.
Martina Palm.
Erdmute Prautzsch.
Claus Sautter.
Peter Schindler.
Maren Simon.
Kim Annika Welling.
Johanna Wunderlich.
Es bleibt zu hoffen, daß nicht nur durch die aktuelle Re-Politisierung der Kunst, sondern auch durch ein zunehmendes Bewußtsein für die Relevanz der auf den ersten Blick unpolitisch erscheinenden Kunst, ihre generelle Bedeutung für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft erkannt und wieder zunehmend wertgeschätzt wird.
Und dafür sind Ausstellungen wie POSITION. mit dem diesjährigen thematischen Schwerpunkt unbedingt notwendig.
ⓒ by Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Oktober 2015
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