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Montag, 9. November 2015

Vom Walten dunkler Mächte - Eröffnungsrede zur Ausstellung: Angela Anzi "Hilfestellung an Objekten 2" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "Hilfestellung an Objekten 2" fand statt im Rahmen einer Ausstellungsreihe des Einstellungsraum e.V. zum Jahresthema "Wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß".

Der Ratschlag, den Matthias Claudius 1799 seinem Sohn gab, nämlich die Orte, wo Geräusch auf der Gassen ist, zu meiden, war dem väterlichen Bedürfnis geschuldet, den Sohn vor schädlichen Einflüssen zu schützen: vor politischen Schwadroneuren und Agitatoren, vor dem politisierenden Mob. Gleichzeitig war es ein Hinweis darauf, sich seiner eigenen Handlungsweise bewußt zu werden, auf die innere Stimme zu hören, sich den freien Willen zu bewahren und ihn in autarken Entscheidungen zur Geltung kommen zu lassen. Das war 1799.

Der Glaube an den freien Willen, der in der Art, wie wir ihn definieren, vor allem ein Produkt der Aufklärung ist, wurde erstmals und nachhaltig erschüttert durch die Arbeiten Sigmund Freuds, der uns den Abgrund des Unterbewußten öffnete und den freien Willen zunächst zu einer Marionette frühkindlicher Erfahrungen und den daraus abgeleiteten Routinen machte.
Doch die Psychoanalyse schaffte den freien Willen nicht gänzlich ab. Es blieb noch immer die Möglichkeit, die uns bestimmenden Muster des Unterbewußten durch eine Analyse ans Licht zu holen und sie zu durchdringen, um uns in unseren Handlungen wieder zu befreien.

Heute, im frühen 21. Jahrhundert, müssen wir uns widerstrebend der Erkenntnis der kognitiven Neurowissenschaften beugen, daß uns auch die Psychoanalyse den freien Willen nicht zurück geben kann, da es so etwas wie einen freien Willen nach derzeitigen Kenntnisstand objektiv nicht gibt, daß er eine Konstruktion unseres Bewußtseins ist, mit der wir versuchen, unsere bereits getroffenen Entscheidungen zu rechtfertigen, indem wir ihnen eine subjektiv begründete Ursache zuschreiben.

Unser Ich, das wir wider besseres Wissen im Alltag noch immer frei wähnen, scheint tatsächlich zu einem Spielball mehr oder minder bewußt gemachter dunkler Kräfte geworden zu sein, aber keinesfalls mehr der potenzielle Herr im Haus, der seit den Tagen der Aufklärung mit Hilfe der Vernunft für Ordnung sorgen konnte.

Weisen in der inneren Welt das Unterbewußte und das Clusterverhalten der Dendrone dem freien Willen seine Grenzen auf, so tun es in der Außenwelt andere, viel konkretere Dinge, denen wir unseren Willen unterordnen müssen. Zunächst wären die Grenzen unserer körperlichen Bedingheit zu nennen: Wir können nicht durch Wände gehen, da unser Körper leider nicht feinstofflich genug ist. Genauso wenig können wir eine stark befahrene Autobahn überqueren, da unser Körper nicht robust genug gebaut ist, um es zu überleben.

Vernissage: A. Anzi, "Hilfestellung an Objekten 2", Einstellungsraum 2015, Foto: E.Suhr


Weniger unmittelbar, aber nicht weniger wirkmächtig, sind die gesellschaftlichen Regeln, Zwänge und Machthierarchien, denen wir uns unablässig beugen müssen, die uns unseren sozialen und faktischen Ort in der Gesellschaft zuweisen.

Diese beiden Bereiche und ihre einschränkenden Mechanismen scheinen offensichtlich zu sein und unsere Vernunft gibt unserem Handeln klare Direktiven. Wir wissen, was wir tun dürfen und was nicht; wo wir uns aufhalten dürfen und wo nicht; was uns gehört und was nicht.

Wenn wir diese Mechanismen nicht beachten und ihre Grenzen überschreiten sind die Konsequenzen eine zunehmend körperlicher werdende Einschränkung unseres Handeln bis hin zum völligen Stillstand; im Falle der körperlichen Grenzen bedeutet dieser Stillstand den Tod, im Falle gesellschaftlicher, juristisch definierter Grenzen die Isolationshaft.

Doch auch auf diesen Ebenen gibt es Mechanismen, in erster Linie auf der körperlichen Ebene, die im Verborgenen auf uns einwirken und uns Stimmungen aufzwingen oder uns gewisser Fähigkeiten berauben und uns auf diesem Wege in einer freien Willensbildung oder -ausübung behindern.

Hier wären verschiedene Umweltbelastungen zu nennen, wie z.B. die Belastung durch Schadstoffe, die sich in nahezu allem befinden, einschließlich unserer Ernährung und natürlich die Ernährung selbst.  In jüngster Zeit wurde auch der Lärm, vor allem subfrequenter Lärm und seine Wirkungen auf Körper und Psyche verstärkt untersucht. Alle diese Aspekte, von deren Wirken wir meist nichts wahrnehmen, haben eine z.T. erschreckend heftige und determinierende Wirkung auf unser Verhalten, die wir, wenn überhaupt, vor allem an anderen wahrnehmen, an uns selbst selten, gar nicht oder zu spät.

Dr. Thomas Piesbergen, Einstellungsraum 2015, Foto: E.Suhr

Doch neben diesen inneren und äußeren Bedingungen, die unseren freien Willen in Frage stellen, gibt es noch ein Tertium Quid: unseren kulturellen blinden Fleck, der uns überhaupt ermöglicht, Unterscheidungen zu treffen, Dinge zu benennen und zu erkennen.

Er besteht aus einem Set kultureller Strukturen, die vollständig internalisiert sind, weshalb wir sie nicht wahrnehmen. Es sind habituelle Muster, die die Art determinieren, wie wir Menschen und Dinge wahrnehmen und beurteilen. Sie sind bedeutender Teil unserer Identität, bestimmen den Ort, von dem aus wir die Welt betrachten, weshalb wir uns nicht vorstellen können, daß sie nur eine zeitlich und örtlich bedingte Gültigkeit haben.

Sie kommen nur zu Bewußtsein durch einen massiven Kulturschock, der uns ermöglicht, unsere Perspektive auf die uns umgebende Welt als nur eine von vielen möglichen Perspektiven zu erfahren. In der Regel führt diese Erfahrung zu einer vorübergehenden, oft durchaus heftigen Desorientierung und Erschütterung der individuellen Identität, weshalb sie oft stark angstbehaftet ist. Und selbst wenn sie bestenfalls zu einer seelischen Reifung führt, kann uns diese Erfahrung der Relativität unseres Konzepts der Wirklichkeit niemals ganz frei machen von dem Umstand, daß da immer ein blinder Fleck sein muß, der uns ermöglicht zu sehen.

Wie es scheint, ist also der Mensch dazu verdammt, in einer gegebenen Wirklichkeit zu leben, die ihm einen nur sehr bescheidenen freien Handlungsspielraum läßt. Und wenn er es wagt, eine der bedrohlichen Säulen der Wirklichkeit zu stürzen, läuft er durchaus Gefahr, unter ihnen begraben zu werden. Es stellt sich die Frage, ob es angesichts dieser respekteinflößenden und zunächst weitgehend unwandelbaren Gegebenheiten unserer psychischen Bedinghtheit und des gesellschaftlichen Habitats es doch noch sinnvoll und möglich ist, sich nicht defätistisch in die Bedingungen zu fügen.

Wenden wir uns an dieser Stelle der Arbeit Angela Anzis zu.

Vernissage: A. Anzi, "Hilfestellung an Objekten 2", Einstellungsraum 2015, Foto: E.Suhr

Wir stehen zwischen schwarzen, wuchtigen säulenartigen Objekten, die wie antike Tempelsäulen aus einzelnen Säulentrommeln zusammengesetzt sind. Sie überragen uns. Die auskragenden, kapitelartigen Elemente scheinen ihr Gewicht im Raum spürbar zu machen. Die schwarze, mattglänzende Oberfläche verstärkt den Eindruck ihrer Masse und erweckt gleichzeitig unangenehme Assoziationen an Teer oder Öl.
Sie erscheinen unverrückbar, sakral und halten den Raum besetzt, zwingen den Menschen, der ihn betritt, ihnen auszuweichen. Sie geben die Bewegungsmuster vor, strukturieren den Raum.

In den obersten Segmenten befinden sich jeweils Subwoover, also tieftönende Lautsprecher, die Sinustöne von sich geben, die sich am Rande des hörbaren Spektrums befinden und eher fühlbar als hörbar sind. Es ist inzwischen bekannt, daß solche Töne im unteren Frequenzbereich z.T. massive körperliche Wirkungen haben können. Die Effekte reichen, bei entsprechender Lautstärke, von Übelkeit und Schwindel bis hin zu Sehstörungen und Panikattacken. Der Raum wird also mit etwas geflutet, das unsichtbar und immateriell ist und dennoch eine unmittelbare und starke Wirkung auf den menschlichen Körper hat.

Diese Installation von Objekten und Tönen kann gelesen werden als eine Metapher für die vorher genannten dunklen Mächte, die unsere Handlungen determinieren und trotz ihrer Immaterialität eine massive und unmittelbare körperliche Wirkung zeitigen können. Eine Durchdringung findet statt.

Vernissage: A. Anzi, "Hilfestellung an Objekten 2", Einstellungsraum 2015, Foto: E.Suhr
An diesem Punkt könnte man die Arbeit für in sich geschlossen erklären, doch Angela Anzi macht hier nicht halt.

Die Elemente der Installation in ihrer Massivität und einschüchternden Wirkung bleiben unverrückbar, doch die Künstlerin agiert in dieser Konstellation der Objekte. Mit ephemeren Materialien macht sie die immateriellen Phänomene sichtbar und bringt dadurch ihre physische Wirkung zu Bewußtsein. Denn im Gegensatz zu den wuchtigen Säulen, die immun gegen die körperlichen Effekte des Schalls zu sein scheinen, beginnen Papiere, Folien und andere leichte Materialien zu schwingen, zu zittern, zu rascheln und verweisen so auf die materiellen Aspekte des prinzipiell immateriellen Schalls.

Vernissage: A. Anzi, "Hilfestellung an Objekten 2", Einstellungsraum 2015, Foto: E.Suhr

Durch ihre „Hilfestellung an den Objekten“ zeigt Angela Anzi, wie man selbst in einem Kontext agieren kann, dessen grundlegende Struktur zu verändern weit über die menschlichen Kräfte hinaus geht. Durch eine Veränderung der Haltung, durch das Spiel, durch eine Veränderung der Interpunktion zeigt sie, wie man die sichtbar gemachten Phänomene umdeuten kann, sie spielerisch erforschen und ihre bedrohliche Wirkung in ein anderes Licht tauchen kann.

Vernissage: A. Anzi, "Hilfestellung an Objekten 2", Einstellungsraum 2015, Foto: E.Suhr

Denn auch wenn man in Kontexten agiert, die dem Einzelnen unveränderbar erscheinen, muß unser Handeln keiner Zwangsläufigkeit unterworfen sein. Keine Handlungsweise ist alternativlos. Jede Struktur, so furchteinflößend und unveränderbar sie auch wirkt, kann umgedeutet und zu einem Spielraum werden, solange man sich von ihr nicht einschüchtern läßt. 

"Nicht der Determinismus, sondern der Fatalismus ist das Gegenteil der Freiheit." Jean-Paul Sartre

ⓒ by Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, November 2015

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