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Donnerstag, 14. April 2016

Annäherungen an das Unwägbare - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Almut Middel - Atom" von Dr. Thomas Piesbergen


In einem Aufsatz über den Determinismus stellte Carl Popper einmal die Metaphern der Uhr und der Wolke gegeneinander. Die Uhr stand für das deterministische Prinzip der Vorherbestimmung, die Wolke hingegen für das nicht-deterministische Prinzip des Zufalls (1)
Die Gegenüberstellung dieser Bilder, übertragen auf unsere Wirklichkeit, wirft die Frage auf, wie es eigentlich kommt, daß aus einem sehr kleinen Kontingent determinierender Naturgesetze, die in unserem Realitätsausschnitt wirksam sind, eine unüberschaubar große Zahl und Vielfalt der Naturerscheinungen hervorgehen kann? 
Wie kann aus den einfachen, determinierenden Gesetzen der Physik etwas so hochkomplexes, amorphes, scheinbar nicht-determiniertes wie ein Wolke entstehen?

In den 70er und 80er Jahren des 20. Jhd.wurde diese Dichotomie zwischen dem Determinierten und dem Nicht-Determinierten durch die Einführung des Paradigmas der Komplexität aufgehoben, in der Populärwissenschaft auch gerne als Chaos-Theorie bezeichnet. 
Dieser Sichtweise folgend wird die Erscheinungswelt als eine Entfaltung von Algorithmen beschrieben, deren Funktion zwar determiniert ist, deren Entwicklung sich aber nicht linear, sondern fraktal vollzieht. Aufgrund der unabdingbaren Unschärfe der Ausgangssituation, auf die wir später noch zurückkommen werden, sind die Resultate der Prozesse nicht vorhersagbar, obwohl die Abläufe determiniert sind. Selbst bei Ausgangsbedingungen, die für unser Verständnis „gleich“ erscheinen, können unüberschaubar viele Erscheinungsformen realisiert werden, die ihrerseits wiederum nur eine kleine, durch das Milieu begrenzte Auswahl von unendlich vielen möglichen, aber nicht realisierten Erscheinungsformen darstellen. 
Aus beliebig ähnlichen Anfangszuständen können sich - auch bei ganz einfachen deterministischen nichtlinearen Systemen - nach längerer Zeit völlig unterschiedliche Endzustände entwickeln.(2)
Der Widerspruch zwischen dem Determinierten und dem Nicht-Determinierten entpuppte sich also als eine Scheindebatte. Statt dessen stehen sich jetzt das Lineare, Geschlossene und Vorhersehbare auf der einen Seite und das Fraktale, Offene und Unvorhersehbare auf der anderen Seite gegenüber. Die Bildung von Wolken ist also ein determinierter Prozess, dessen Ergebnis sich aber aufgrund seiner Komplexität und seines fraktalen Charakters dennoch der Vorhersagbarkeit entzieht.
Neben der Komplexität ist ein weiteres Schlüsselwort der modernen Systemtheorie in diesem Zusammenhang von Bedeutung,  das aus der Thermodynamik in die Informationstheorie und von dort in die Systemtheorie überführt wurde: die Entropie.
In der Thermodynamik bezeichnet man mit Entropie die Umwandlung geordneter Energie in ungeordnete Energie, vor allem die in isolierten Systemen langsam zunehmende Unregelmäßigkeit, die den linearen Prozessen des Systems zuwiderläuft und schließlich dazu führt, daß das geschlossene System zusammenbrechen oder sich auf einer höheren Stufe der Ordnung reorganisieren muß. (3)
In der Informationstheorie ist die Entropie gleichbedeutend mit dem Informationsgehalt (4)In dem Moment, in dem etwas aus der geschlossenen und vorhersagbaren Form ausbricht, wird etwas Neues mitgeteilt: eine Information entsteht. 
Auf Herz reimt sich Schmerz.
Der Hut steht mir gut. 
Im Haus wohnt die Maus. 
Die Kuh, die macht Muh.“ 

Dieser Vers weist einen sehr geringen Informationsgehalt auf. Die Wortfolge bleibt im geschlossenen System von Reim und Versmaß und ist entsprechend vorhersagbar.

Auf Herz reimt sich Schmerz.
Der Hut steht mir gut. 
Im Haus wohnt die Maus. 
Die Kuh, die mag Prosa lieber als Lyrik.

Dieser Vers hingegen kann mit einem deutlich höheren Informationsgehalt aufwarten, denn er bricht spielerisch und selbstreflexiv mit der vorher geschlossenen Gedichtform und den entsprechenden Erwartungshaltungen. 

Tatsächlich ist das Prinzip der Entropie universell und in jedem dynamischen System gültig (5).
Doch was steht am Anfang und was am Ende der eskalierenden Desintegration der Ordnung? Am Anfang aller Unordnung muß, nach den in unserem Ausschnitt der Raumzeit gültigen Gesetzen, die Ordnung stehen, eine mutmaßlich absolute Ordnung. 

In den Beginn der Entwicklung eines jeden Systems projizieren wir also eine Symmetrie ohne Abweichung, ein Equilibrium, das erst durch die Zunahme der Entropie in markante, benennbare Elemente zerbricht, die wiederum in ihrer Symmetrie gebrochen werden und immer wieder und wieder gebrochen werden, bis das System schließlich am Ende seiner Entwicklung soweit zerfallen ist, das nichts anderes mehr übrig bleibt als eine Art chaotischer Suppe, ein weißes Rauschen unendlich kleiner Teilchen, die zusammen schließlich wieder eine gleichförmige Homogenität endloser, sich selbst aufhebender Divergenz bilden, ein neues Equilibrium. In der Kosmologie bezeichnet man diesen Endzustand als den Wärmetod des Universums (6)

Der beobachtende Mensch, der wie immer dazu verdammt ist, in der durch seinen Standpunkt definierten Mesosphäre zu verharren, und auf die Extreme des Mikro- oder Makrokosmos schaut, auf das unendlich Kleine und unendlich Große, auf den Anfang und das Ende, auf die ungeteilte Einheit und die unendliche Vielfalt, wird, egal zu welchem Pol der Existenz er blickt, beschlichen von einem Unbehagen, das dem Horror Vacui vergleichbar ist: Denn in der einen Richtung ist er konfrontiert mit der unfaßlichen, sich selbst genügenden Einheit, der Singularität, dem Unteilbaren, in der anderen Richtung mit der unendlichen, unvorhersehbaren Vielfalt und Komplexität, die sich schließlich in ein eintöniges Rauschen auflösen wird. Und gerade das reizt den Menschen, die Wirklichkeitssphären, die sich ihm entziehen, mit seinen Projektionen zu überdecken, die ihm dienen sollen, sie allen Widrigkeiten zum Trotz dennoch für sein beschränktes Vermögen begreifbar zu machen.

Eines der ältesten Spiele der frühesten Menschheitsgeschichte sowie der frühen Kindheit ist das Erkennen-Wollen von bekannten Mustern im Gestaltlosen: 
Der paläolithische Mensch sieht in zufällige und amorphe Gesteinsformationen die Tiere hinein, die in seiner mythologischen Welt von Bedeutung sind, sowie das Kind in Wolken Gesichter und Tiere hineinsieht. Die Ereignisse in der Umwelt, die sich in einem unendlich komplexen Wechselspiel aller Elemente vollziehen, werden durch mythologische Narrationen willkürlich in eine Ordnung gebracht, die dem sonst absurden Leben einen anthropischen Sinn entgegensetzt. Und darin hat sich seit der Altsteinzeit nichts geändert: unverdrossen sucht der Mensch in der unüberschaubaren Komplexität der Wirklichkeit nach sinnvollen und vorhersagbaren Mustern und generiert sie im Vollzug dieses Suchprozesses selber.
Schaut der Mensch in die andere Richtung, zum Anfang der Zeit, zu der sich selbst genügenden, ungebrochenen Symmetrie oder zum Unteilbaren, unendlich Kleinen, beginnt er ebenfalls etwas in diesen unfasslichen Ausgangspunkt hinein zu sehen, etwas zu konstruieren: Im Anfang war das Wort, das Tao, das kosmische Ei, in dem alle Erscheinungen des kommenden Universums bereits gespeichert sind, der kosmische Ur-Riese, aus dessen zerteilten Gliedmaßen die Welt geformt wurde, im Urgrund der Materie das „unteilbare“ Atom - und schließlich die Gottheit als Prime Mover der Existenz schlechthin.

Der Mensch versucht immer wieder sich dem Unwägbaren zu nähern, das Unnennbare zu benennen und das Unfaßliche zu begreifen. 
Einen analogen Prozess vollzieht Almut Middel mit den Arbeiten der Ausstellung „Atom“.

Auch bei Ihr stoßen wir auf das Motiv der Wolken, die sich einerseits zu massiven Gebilden von gewaltigen Ausmaßen und unglaublicher Komplexität ballen können, andererseits aber Sinnbild des ständig sich Wandelnden und Ephemeren sind, das weder in seiner Form noch in seiner Substanz fasslich ist.
Sie nähert sich ihrem Sujet, diesen Akkumulationen von kondensierten Wassertröpfchen, aber nicht mit einer Technik, die der Flüchtigkeit des Gegenstands entspricht oder wenigstens entgegenkommt. Ganz im Gegenteil: Sie wählt dazu mit einer deutlich aufscheinenden Ironie einen breiten schwarzen Comic-Strich. Es wird nicht der Versuch unternommen, die Formen realer Wolken nachzubilden, sondern die symbolhafte, dem menschlichen Maß angepasste Vorstellung einer Wolke. Ihr Comic-Chiffre wird in einem fraktal anmutenden Rapport multipliziert und in die Tiefe des Bildes gereiht, so daß ein Tunnel entsteht, der den tiefen illusionistischen Bühnenprospekten barocker Theater ähnelt.

Doch wohin führt dieser Tunnel, welche Erkenntnis bringt die Wiederholung der fraktalen Akkumulation? Es ist nicht absehbar. Die Inszenierung des beherzten Zugriffs auf das Unfassliche mittels der klaren, fetten Pinselführung führt uns vor allem eines vor Augen: wie vergeblich das Bemühen ist, die unüberschaubare Komplexität in die Grenzen des Mesosphäre zu zwingen und dort zu ergründen.
Der Weg in das Wesen der Wolken führt zu: mehr Wolken, zu immer „mehr desselben“, wie Paul Watzlawick es ausdrückt, wenn der Mensch nicht imstande ist, sinnlose Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungsroutinen zu durchbrechen. Er produziert immer nur „mehr desselben“ (7).

Dem Blick in das unendlich Vielgestaltige, sich Ballende und Selbstorganisierende, das nicht nur durch die Wolken, sondern auch durch die Objekte aus Bauschaum repräsentiert wird, ist der Blick in das unendlich Kleine gegenübergestellt, der Blick auf den Ur-Anfang, die ungeteilte Symmetrie, die am Beginn jeder Entwicklung steht: Das Unteilbare, die Singularität, die sich in die Vielfalt auflösen wird.
Schon in der Vorstellung der antiken Vorsokratiker war das Atom der kleinste, unteilbare Baustein aller Materie. Diese Vorstellung hielt sich über 2500 Jahre, bis schließlich Joseph John Thomson 1897 nachweisen konnte, daß die vorher schon bezeugten Elektronen Bausteine des Atoms sind. Sukzessive wurde das Atom in immer weitere Teilchen zerlegt, in Neutronen, Elektronen und Protonen, in Leptonen, Baryonen und Bosonen und weiter in Quarks, Gluonen und Gravitonen.

Doch bereits auf der Ebene der Elektronen vollzieht sich eine Zäsur, die für unser Verständnis der Wirklichkeit traumatisch ist: 
Mit einem mal stößt der forschende Mensch auf die Grenze des Beobachtbaren. Sie wird beschrieben durch die Heisenbergsche Unschärfe-Relation, die besagt, daß wir niemals zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens gleichzeitig beobachten können. Wir kennen entweder seinen Impuls oder seinen Ort, niemals beides. Daraus ergibt sich, daß die Elementarteilchen für uns nur in Form von Wahrscheinlichkeitswolken bestehen. Sie existieren jenseits unserer Begriffe von Materie und selbst der Terminus „Teilchen“ ist ein höchst unzureichender und irreführender Notbehelf.

Hinter der erhofften kleinstmöglichen Einheit, in der der Mensch lange ein sicheres Fundament einer deterministisch beschreibbaren Welt wähnte, lauert einmal mehr eine verwirrende Vielheit und - noch viel schlimmer - eine unüberwindliche Unbestimmtheit: die Unschärfe, die Quantenfluktuation, die unendlich komplexe Verschränkung auf der Ebene der Quantenwirklichkeit.

Almut Middel, Atom, 2016 (Ausstellungsansicht im Einstellungsraum)

Vor diesem Hintergrund können wir die Schraffuren von Almut Middel lesen: als atomare Wahrscheinlichkeitswolken - oder als die erste Expansion der uranfänglichen Singularität. Es sind kaum wahrnehmbare, äußerst feine Gespinste, die in eine runde Fläche beschreiben, in deren Zentrum sie sich verdichten. Was zunächst homogen grau wirkt, erweist sich aus der Nähe betrachtet als bunt, analog dem Weißen Rauschen oder dem weißen Licht, in dem sich alle Töne bzw. alle Farben verbergen. Denn der erste Symmetriebruch hat sich bereits ereignet.
Versucht man jedoch die einzelnen Elemente, die einzelnen Buntstiftstriche mit dem Blick zu fassen, beginnt das Gewebe der feinen Linien zu flimmern, zu verschwimmen und entzieht sich unserem Zugriff, analog der Unschärfe der subatomaren Regionen.
Und obwohl wir diese vermeintliche Einheit vor unseren Augen wieder in eine unwägbare Vielheit zerfallen sehen, ist sie doch der einzig denkbare, da materiell faßbare Ausgangspunkt der formativen Prozesse, die von der Mikrosphäre bis in die unwägbar komplexe Makrosphäre führen, um sich dort erneut zu verlieren.
Auf dem Weg von dem einen zum anderen Extrem streifen wir noch einmal die Mesosphäre: für sie steht ein bescheidenes pilzartiges Objekt aus Bauschaum. Auch bei diesem Objekt stand zu Beginn der sich selbst überlassene Vorgang des Aufschäumens der ausgespritzten Masse, die wolkige Selbstorganisation. Doch diesem Spiel mit dem Zufall wurde anschließend der Gestaltungswille des Menschen gegenüber gestellt: die gezielte Überformung, der schnitzende Eingriff, das Modellieren. 
Nur in diesem Zwischenbereich der Mesosphäre ist das menschliche Agieren und Begreifen-Wollen möglich, sinnvoll und relevant. An den extremen Polen der Wirklichkeit verliert es jeden Halt, jede Relation; es greift ins Leere und wirft uns schließlich auf uns selbst zurück.

(1) Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg, 1973, S. 229 
(2) Gert Eilenberger,  Komplexität, in: Mannheimer Forum 89/90, Mannheim, 1990, S. 71 
(3) Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek bei Hamburg, 1988, S. 132 ff.
(4) C.E. Shannon, The Mathematical Theory of Communication, Illinois, 1961
(5) Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek bei Hamburg, 1988, 185 ff.
(6) John D. Barrow, Die Entwicklung des Universums, in: Am Fluß des Heraklit, Frankfurt a.M. 1993, S. 44
(7) Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, München, 1983

ⓒ Dr. phil Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2016

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