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Sonntag, 3. Dezember 2017

Zeit, Illusion und Narration - Eröffnungsrede zu Werner A. Schöffels Ausstellung "Elimar & Mariel“ von Dr. Thomas J. Piesbergen

 Galerie Morgenland, Hamburg, 1.12. - 20.12. 2017

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017


Es gibt eine Grundkonstante der Wirklichkeit, die uns, seit der Mensch begonnen hat über die Welt und seine Bedingtheit in ihr zu reflektieren, mehr Rätsel aufgibt, als alles andere: Die Zeit.

Nichts, das so viele Paradoxa aufwirft, wie die Zeit; nichts, das den Menschen in mehr Verzweiflung stürzen kann, als die Zeitlichkeit aller Dinge; nichts, das mehr Verheißung und Schrecken in sich birgt, als die kommende Zeit; nichts, das mehr Sehnsucht und Grauen auslösen kann, als die vergangene Zeit. Nichts, das außerhalb der Zeit ist.

Selbst in der Physik wird inzwischen diskutiert, ob nicht sogar die uns bekannten Naturgesetze nur zeitlich gebundene Erscheinungen sind, die irgendwann ihre Gültigkeit verlieren werden, und das Universum nicht, wie Newton es beschrieb, absolute Aspekte aufweise, sondern, wie Leibniz es postulierte, nur relationalistisch gesehen und verstanden werden könne.

In nahezu allen Kulturen findet man andererseits die Anschauung, Zeit sei eine reine Illusion. Wir begegnen dieser Vorstellung in den fernöstlichen Lehren, in den antiken Überlieferungen in Form des Glaubens an die schicksalhafte Vorbestimmung oder in den überzeitlichen Urbildern des Aristoteles. Sie begegnet uns wieder im Glauben an die ewige Gültigkeit der Mathematik als das inhärente Gesetz des Kosmos und ebenso in Form von Bewegungsgraphen durch zeitlose Konfigurationsräumen, mit denen die Newton´sche Gesetze bei bekannten Anfangsbedingungen Voraussagen über zukünftige Entwicklungen zulassen. Und schließlich brauchen wir diese Anschauung in den Erklärungsmodellen für die rätselhaften Quanteneffekte, deren Korrelation wir derzeit nur dadurch erklären können, indem wir die Zeit als Illusion auffassen.
Die durch Wiederholung isolierten und als überzeitlich verstandenen Muster gelten als der Urgrund der Erscheinungswelt und dementsprechend als wirklicher, als die Welt selbst, in der sich die Erscheinungen ereignen.

Andererseits kennen wir seit Heraklit das Postulat ewiger Wandlung, „panta rhei“, das schließlich in  der Philosophie Henri Bergsons seinen modernen Widerhall gefunden hat.
In seinem Werk Schöpferische Entwicklung schrieb Henri Bergson 1907:
„Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag. So kehrt sich der Verstand, einzig auf das konzentriert, was sich wiederholt, einzig darin befangen, Gleiches mit Gleichem zu verschweißen, vom Schauen der Zeit ab. Ihn widert das Fließende, und er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Wir denken die reale Zeit nicht. Aber wir leben sie, weil das Leben über den Intellekt hinaus schwillt.“

Hier beschreibt Bergson in seiner phänomenologischen Sprache, was der theoretische Physiker Lee Smolin in seinem Buch Im Universum der Zeit, 2014, postuliert: Daß der rationalistische Mensch isolierte Systeme betrachtet und aus ihnen mathematische Muster ableitet, die er als innewohnende Gesetze begreift, sich aber tatsächlich von der Wirklichkeit abwendet und statt ihrer die erkannten Muster als Wirklichkeit versteht. „Der scheinbar wesentlichste Aspekt unserer Welterfahrung - nämlich dass die Welt sich als eine Abfolge gegenwärtiger Augenblicke darstellt - fehlt in unserem erfolgreichsten Paradigma der Naturbeschreibung.“ - gemeint sind die Newton´schen Bewegungsgesetze.
Er bezeichnet dieses Phänomen als die „Austreibung der Zeit“, deren Symptom es ist, daß wir die Landkarte mit der Landschaft verwechseln. Smolin selbst hingegen postuliert, wie Bergson, daß die Zeit die einzige kosmische Grundkonstante der Existenz schlechthin sei und die von uns erkannten Muster nur Illusion.

So unentschieden der Diskurs über die Zeit über die Jahrtausende geblieben ist, so divergent ist auch unser Erleben in der Zeit und unsere Anschauung des Fließens der Zeit, denn wir selbst sind nur Zeit, gegenwärtig erlebte, verstreichende Zeit.

In Auf der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt Marcel Proust über die Gegenwärtigkeit der Realität: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein Krug, der mit Düften, Lauten, Vorhaben und Atmosphären gefüllt ist. Was wir Realität nennen, ist ein gewisser Zusammenhang zwischen diesen Empfindungen und den Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben.“
Doch diese Erinnerungen, von denen er spricht, sind im Sinne von Bergson zugleich das, was uns möglich macht, das Erlebte sinnvoll einzuordnen und zu beurteilen, in dem wir einen Bezug zwischen dem Erinnerten und dem Gegenwärtigen herstellen und daraus eine Narration entwickeln.

So wird das Gegenwärtige erst relevant durch das Nicht-Mehr-Existente. Gleichzeitig aber wird das Erinnerte, Eingeordnete, Gewesene und deshalb als „wahr“ aufgefasste, erst durch das ungeordnete, akute, formlose Jetzt aus dem Nichts der Vergangenheit hervorgeholt.
In unserer Wahrnehmung ereignet sich also eine ständige Überlagerung von erinnerten Mustern und erlebtem, ungefiltertem Jetzt, die wir unablässig in Abgleich miteinander bringen, und es ist uns nicht möglich, endgültig zu entscheiden, welcher der beiden Aspekte „wahr“ und welcher Illusion ist.
Im 8. Jhd. beschrieb der Zen-Meister Yaoshan Weiyan dieses Dilemma des Geistes, der versucht, das Wesen der Zeit zu erfassen, mit den Worten: „Sein-Zeit ist drei Köpfe und acht Ellenbogen.“

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017

Werner Anton Schöffel beschäftigt sich in den Arbeiten seiner Ausstellung „Elimar & Mariel“ mit zwei Aspekten unserer Lebenswelt, in denen sich diese beiden unterschiedlichen Konzepte der Zeitwahrnehmung auf markante Weise überschneiden:
Das Sujet von Schöffels Arbeiten ist die Stadtarchitektur Eimsbüttels. Doch wie hängt urbane Architektur mit der Zeit zusammen? In dem Titel seines Hauptwerks faßt der Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion die zwei entgegengesetzten zeitlichen Eigenschaften der Architektur ausgezeichnet zusammen mit dem Begriff „Die ewige Gegenwart“.

Einerseits repräsentiert die Architektur einen manifest gewordenen gesellschaftlichen Status Quo. Wir geben unseren Vorstellungen von Hierarchie und sozialer Segmentierung, von Kontrolle, Zugehörigkeit und Abgrenzung mit der Architektur konkrete Formen.  In dieser Gestalt können sich unsere Vorstellungen als Elemente non-verbaler Kommunikation reproduzieren und gewinnen dadurch eine überzeitliche Dimension. Es sind steingewordene Muster unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die durch die Zeit unverändert bleiben und sich den folgenden Generationen mitteilen und ihnen ihren Stempel aufdrücken können.

Andererseits wird die Architektur erst wirksam durch unser konkretes gegenwärtiges Erleben und Handeln sowie durch die Erinnerungskomplexe, die von ihr angetriggert werden. Oft werden deshalb uns überlieferte Elemente der non-verbalen Kommunikation wegen eines gewandelten Kontextes oder der subjektiven Einfärbung unserer Wahrnehmung nicht mehr verstanden oder in einem zeitgenössischen oder subjektiven Sinne umgedeutet. So ragen zwar die manifest gewordenen Muster durch die Zeit, haben aber ihre vormals als überzeitlich verstandene Bedeutung durch die Kollision mit der Gegenwart eingebüßt. Sie wirken zwar fort, aber auf eine andere Art, als ursprünglich konzipiert.

Der andere Aspekt von Werner A. Schöffels Arbeit, in dem sich die beiden Zeitkonzepte überschneiden, ist das Medium der Photographie selbst.
In Die helle Kammer von Roland Barthes heißt es: „Wichtig ist, daß das photographische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und das die Zeugenschaft der Photographie sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht. Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Widergabe.“
In diesem Zitat begegnen wir dem Gedanken Bergsons wieder, der vom menschlichen Geist sagt, er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Denn das von Barthes genannte Bestätigungsvermögen ist nichts anderes, als Bergsons Verknüpfung von Gleichem mit Gleichem, der Abgleich von Mustern und schließlich die Ableitung einer Narration.

Doch was wird durch die Photographie tatsächlich bezeugt? Die Gegenwart kann nur individuell und subjektiv erlebt werden. Aus dieser Quelle speist sich unser Wirklichkeitssinn. Wer noch nicht mit der konstanten digitalen Dokumentation und Inszenierung des Alltags aufgewachsen ist, kennt sicher den Moment, in dem er erstmals eine Photographie von einem lange zurückliegenden Ereignis sieht. Fast immer fällt es schwer, das dichte, vielschichtig Erinnerte mit dem flachen Bild in Einklang zu bringen. Insbesondere gilt das für Erinnerungen aus der Kindheit, die, wie kaum etwas anderes, so wie Marcel Proust es ausdrückte, mit Düften, Lauten, Vorhaben und Atmosphären gefüllt sind, die sich nicht abbilden lassen.
Es stellt sich die Frage: Ist die angesichts einer fließenden Gegenwart ständig neu belebte und überformte Erinnerung, die unser Erleben und Wahrnehmen, und damit ein Bewußtsein unserer Selbst erst ermöglicht, wirklicher, oder ist es das „objektive“ Abbild, das überzeitliche Muster?

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017

Diese beiden Komplexe treten in den Arbeiten der Ausstellung „Elimar und Mariel“ in einen vielschichtigen Dialog und werden um eine konkret dargestellt zeitliche Dimension ergänzt:
In den Exponaten werden jeweils zwei eingefrorene Zeitfenster, die denselben Ort zeigen, einander gegenübergestellt, miteinander verschmolzen oder übereinander geschoben.

So verschieden die Formen des Erinnerns sind, so unterschiedlich sind auch die Formen der In-Bezug-Setzung, die W.A. Schöffel gewählt hat.

Wir kennen z.B. das abstrakte Erinnern, das die verschiedenen Erinnerungsbilder bereits zu einer Karte der Vergangenheit zusammengeschoben hat, das aktive Erinnern, mit dem wir Ereignisse gezielt wieder hervorholen, das surreale Déjà-vu in dem sich nicht zu verortende Erinnerungen über die Gegenwart legen oder den Flashback, der uns unvermittelt mit einer derartigen Intensität in einen vergangenen Moment zurückreißt, daß es uns scheint, wir würden diesen Moment tatsächlich noch ein zweites mal mit all seinen Facetten erleben.

Um dieser Vielfalt Rechnung zu tragen, hat W.A. Schöffel manche Bilder lediglich in räumliche Opposition gebracht, sodaß wir ihre Zugehörigkeit erst entdecken müssen. Andere Bilder sind mit Galgen und größerem Abstand voreinander gehängt, sodaß wir mit dem Doppelbild spielen können, es zur Deckung bringen oder wieder auseinander gleiten lassen können. Andere Bilder wiederum überlagern sich unmittelbar, sodaß ein flimmerndes, transparent anmutendes Gewebe entsteht. Und schließlich gibt es Bilder, in denen fragmentarisch wie unsere Erinnerungen, einzelne Elemente historischer Bilder in die Zeit- und Bildebene der aktuellen Photographie einbrechen und sie ersetzen.

W.A.Schöffel, "Elimar & Mariel", Ausstellungsansicht, 2017


Was W.A. Schöffel in den Arbeiten dieses Werkkomplexes ganz bewußt vermeidet, ist die Narration. Es wäre natürlich sehr gefällig, zwischen dem Vergangenen und dem Heutigen Verbindungen zu knüpfen und die Bilder so zu inszenieren, daß sie geschlossene Entwicklungen und Erzählstränge nahelegen. Doch wie legitim wären solche Narrationen und auf welcher Wirklichkeitsebene spielten sie sich ab?

Wie unterschiedlich empfinden wir die zeitliche Distanz zwischen den Landmarken unserer eigenen Lebensphasen? Welch massiver Qualitätswechsel im Vergleich mit unseren eigenen Erinnerungen findet statt, wenn wir uns Ereignissen zuwenden, die sich vor unserer Geburt abgespielt haben?
Für mich z.B. sind die 70er Jahre ein solches dichtes, traumhaftes Gespinnst Proust´scher Ausprägung, zum Bersten gefüllt mit Farben, Texturen, Formgefühl, Stimmungen, Gerüchen, Empfindungen, Emotionen und imaginierten Welten, die sich in die faktische Lebenswirklichkeit eingewoben haben. Die 60er Jahre sind im Gegensatz bereits ein Sammelsurium von Schwarzweiß-Photographien, Plattengencovern, Kinofilmen und Zeitungsausschnitten. Daß der zweite Weltkrieg kaum 25 Jahre vor meiner Geburt geendet hat, während mein Abitur bereits 28 Jahre zurückliegt, ist für meinen gegenwärtigen Verstand zwar eine schlichte Tatsache, für meinen subjektiven Wirklichkeitssinn aber noch immer kaum vorstellbar.

Diese Zeitfenster miteinander zu verknüpfen würde also bedeuten, zu imaginieren und aus der subjektiven Erfahrungswelt hinauszugreifen in die Konstruktion einer nicht mehr erfahrbaren Geschichte, so zu tun, als gäbe es nicht den Spalt zwischen fließender Gegenwart und erstarrtem Muster. Doch geht es W.A. Schöffel eben nicht um das vordergründige Geschichten erzählen, sondern darum, diese vielfältigen Prozesse des Abgleichs spürbar zu machen und sich dadurch unserer Orientierung in der Zeit zu nähern. Deshalb bleiben alle Imagination, alle Konstruktion möglicher Erzählstränge und alles Zusammenfügen dem Betrachter überlassen.

In diesem Zusammenhang ist auch der Titel der Ausstellung zu interpretieren: Elimar, dem mutmaßlichen sächsischen Namensgeber Eimsbüttels, ist ein Anagramm zur Seite gestellt, Mariel, eine fiktive Frau, ein imaginiertes Gegenüber, durch das Narration überhaupt erst entstehen kann. Doch die Autoren dieser Narration sind wir selbst.

So heißt es schließlich auch in dem Vierzeiler, der der Einladungskarte zur Ausstellung beigefügt ist:

Wie es war,
wie es ist
und es scheint,
wie jeder meint

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VGWort






Montag, 6. November 2017

Begehrlichkeit und Gewalt im Räderwerk der Welt - Eröffnungsrede zu "Elke Mark: FliehKraft" von Dr.Thomas Piesbergen

Im Zentrum der aktuellen Ausstellung „FliehKraft“ von Elke Mark zum Jahresthema Drehmoment des Einstellungsraums steht ein inhaltlich stark aufgeladenes Thema: Flucht und ihre Auswirkung auf die individuelle Identität.

Teil der als performatives Ganzes konzipierten Ausstellung sind die lebendigen Stimmen dreier Zeugen sowie das unmittelbare Gespräch von Agierenden und Besuchern.
Als Kunstvermittler habe ich mich deshalb in Übereinkunft mit Elke Mark dazu entschieden, nicht als Außenstehender zu erläutern und zu kommentieren, sondern meine Rede als einen Baustein in den Ausstellungszusammenhang zu integrieren. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden weniger detailliert als üblich auf die Elemente der Ausstellung eingehen, mich auch nicht so sehr auf den im Ausstellungszusammenhang intensiv behandelten Umgang mit der individuellen Fluchterfahrung konzentrieren, sondern mich darum bemühen, den Zusammenhang von Fluchtursachen mit unserer Alltagswirklichkeit zu untersuchen sowie einen Bezug zu dem Jahresthema herzustellen.

Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht, Einstellungsraum 2017

Wenn wir uns in der Welt umschauen und nach den gestaltenden Kräften fragen, und damit nicht die geologischen und anderen langzeitigen Effekte meinen, die zwar das natürliche Angesicht dieses Planeten geformt haben, aber für uns in keiner Weise beobachtbar und nur über etliche Umwege zu spüren sind, stoßen wir, wohin auch immer wir uns wenden, auf eine omnipräsente und doch unsichtbare, vom Menschen geschaffene Macht: die „Wirtschaft“.

Nachrichten über sie beherrschen die Medien, ihre Strukturen beherrschen unseren Alltag, und wirtschaftliche Entscheidungen bestimmen auf nahezu allen Ebenen unsere Zukunft, sei es bei der Planung des Haushaltsetats der Bundesregierung, sei es bei dem privaten Kauf eines Automobils.
Im vulgärpolitischen Diskurs wird „Die Wirtschaft“ oft in einer Art genannt, als sei sie eine Entität, als hätte sie persönliche Interessen. Stellvertretend für sie werden sog. „Wirtschaftskapitäne“ verantwortlich gemacht, „Wirtschaftsbosse“, oder „Entscheider“.

Die wiederum, die sich als große und verdienstvolle „Macher“ selbst feiern und entsprechend bezahlen lassen, sofern die von ihnen verwalteten sozio-ökonomischen Prozesse positiv wahrgenommen werden, lassen i.d.R., sobald diese Prozesse negativ aufgenommene Konsequenzen zeitigen, alle Verantwortung in den ihnen untergebenen Hierarchien versickern, verweisen auf kaum greifbare Bewegungen der „Weltwirtschaft“, geben regulierenden Eingriffen der Legislative die Schuld oder machen schlicht den sog. „Markt“ und seine angeblich selbstregulierenden Effekte dafür verantwortlich, wälzen also die Schuld auf ihre Befehlsempfänger, den Konsumenten und den Wähler ab.

Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht mit Dr. Th. Piesbergen (l.) und Anwar Alwahran (r.), Einstellungsraum 2017

Diese verschiedenen Zuschreibungen der Verantwortlichkeit entblößen zwei Aspekte unserer sozio-ökonomischen Wirklichkeit: zum einen die Unkontrollierbarkeit der vom Menschen und vom akuten Handeln dissoziierten Macht- und Energieströme der Gesellschaft, also die Eigendynamik des Kapitals, zum anderen das Prinzip des nutznießenden systemischen Opportunismus.

Genau diese Eigenschaften beschreibt der englische Soziologe Anthony Giddens in seiner Strukturationstheorie. Einer ihrer Kernsätze lautet: „Gemäß der Theorie der Strukturation haben soziale Systeme keine Absichten, Zwecke oder Bedürfnisse welcher Art auch immer, nur Menschen haben diese.“

Nach Giddens denken und agieren die Menschen aber fast ausschließlich in ihrer lokalen Alltagswelt; in ihr entfalten sich ihre Absichten, Begehrlichkeiten und Bedürfnisse, die sie nach Möglichkeit befriedigen. Die Summe ihrer Anstrengungen ergibt dabei größere Bewegungen, die ihrerseits zu Strukturen führen, die mit den ursprünglichen Absichten in keinem Zusammenhang stehen müssen.

Wenn verschiedene Individuen regelmäßig eine Abkürzung über eine Wiese nehmen, entsteht auf ihr nach einiger Zeit ein Trampelpfad. Es kann durchaus sein, daß die Absicht der Individuen lediglich darin bestand, morgens rechtzeitig die U-Bahn zu erreichen, und daß der dadurch entstandene Trampelpfad sogar als häßlich und unerwünscht empfunden wird. 
In der Summe jedoch ergeben das Begehren, länger im Bett liegen zu bleiben und die anschließende Absicht, doch noch rechtzeitig ins Büro zu kommen, eine von beiden Aspekten unabhängige und von den verantwortlichen Individuen unbeabsichtigte Konsequenz: eine strukturelle Einschreibung, die das Verhalten anderer Individuen später schließlich formen wird und somit eine Eigendynamik entwickelt hat.

Bereits 70 Jahre vor Giddens formulierte der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad in seinem Roman „Nostromo“ die gleiche Erkenntnis der Diskrepanz zwischen individueller Absichten und dem ökonomischen Ergebnis in größerem Maßstab auf ganz ähnliche Art und Weise. Dort heißt es:
„Es gibt keinen Frieden und keine Ruhe bei der Entfaltung materieller Interessen. Sie haben ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind.“

Sobald sich die Energiepotenziale zahlreicher individueller Begehrlichkeiten zu einer Kapitalkraft summiert haben, koppelt sich diese Kraft von menschlichen Prinzipien ab und folgt nur noch ihrer inhärenten Logik: dem sinnfreien, inhumanen Wachstum, der materiellen Akkumulation

Ich möchte an dieser Stelle ein Sinnbild vorschlagen: Die Welt als ein gewaltiges, sich stets reorganisierendes Räderwerk, und die Menschen darin als kleine, um sich selbst rotierende Zahnräder, die kaum realisieren, zu welchen größeren Bewegungen sich die Summe ihrer individuellen Anstrengungen akkumuliert. Jeder kreist um sich selbst, um die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse, und nimmt nicht wahr, welche größeren Mechanismen und Ereignisverkettungen er in der weltumspannenden Maschinerie dadurch mit in Gang setzt.

Elke Mark, "FliehKraft", Performance A. Alwahran, Einstellungsraum 2017
Doch natürlich gibt es auch Menschen, die diese größeren, sich von den Individuen abkoppelnden Energieströme und Bewegungen wahrnehmen. Hier setzt der systemische Opportunismus an: in dem die vorhandenen Bewegungen erkannt, gebündelt und manipuliert werden, ist es Einzelnen möglich, wiederum ihre persönlichen Begehrlichkeiten zu befriedigen, sei es, um sich zu bereichern, sei es, um das Gefühl der Machtausübung zu spüren, sei es, um neurotischen Ängsten in einer faktischen Form entsprechen zu können.
So z.B. nutzen radikale Kräfte wie die AfD bisher nicht klar artikuliertes Unbehagen, die sog. Politik-Verdrossenheit und irrationale, xenophobe Ängste als Ressourcen für ihre eigenen Zwecke; sie bündeln und kanalisieren sie und nutzen die so kanalisierten gesellschaftlichen Kräfte für ihre neurotischen, menschenfeindlichen Ziele.

Wie und wo die gebündelte und umgeleitete Kraft aber fortwirkt, sobald sie den Horizont dieser systemischen Opportunisten verlässt und in dem großen Räderwerk weitere, meist schädliche Bewegungen in Gang setzt, entzieht sich entweder der Auffassungsgabe oder Aufmerksamkeit der Funktionäre in Politik und Wirtschaft, deren Denken sich meist nur innerhalb des von ihnen gewählten Wirklichkeitsausschnitts abspielt, oder, was moralisch als weitaus bedenklicher zu bewerten ist, sie wird gezielt aus dem Sichtfeld der Allgemeinheit geleitet, um die Negativauswirkung unsichtbar zu machen, wie es der Soziologe Stephan Lessenich in seinen Arbeiten zu „Externalisierungsgesellschaft“ nachdrücklich beschreibt.

Doch in dem Moment, in dem größere gesellschaftliche Bewegungen auf solche Weise zu individuellen Zwecken mißbraucht werden, ergibt sich zwangsläufig, daß die Absichten einzelner sich über die Absichten vieler hinwegsetzen, sie vereiteln, oder sogar auf Kosten von Gesundheit und Leben einzelner durchgesetzt werden. Hier wiederum können Gegenbewegungen entstehen, die ihrerseits von systemischen Opportunisten für ihre persönlichen Zwecke kanalisiert und mißbraucht werden können. Vor diesem Hintergrund kann man den gewalttätigen Islamismus als eine von systemischen Opportunisten kanalisierte Gegenreaktion auf westlichen Kultursuprematismus verstehen, der seinerseits im Kern natürlich vor allem ökonomisch motiviert ist.


Elke Mark, "FliehKraft", Performance E. Mark, Einstellungsraum 2017

Elke Mark, "FliehKraft", Performance A. Alwahran, Einstellungsraum 2017
So sehen wir verschiedene sozio-ökonomische Komplexe, die, manipuliert von systemischen Opportunisten, alles daran setzen, ihre Effektivität zu erhöhen, um weiter zu wachsen, sich gegen andere Komplexe durchzusetzen, ihnen die eigenen Bewegungsmuster und Strukturen aufzuzwingen, um sie sich schließlich einzuverleiben. Jede Seite probiert dabei immer mehr Energie, mehr Kapital, mehr Durchsetzungsvermögen, mehr Kraft in das System einzubringen.

In der Physik wird die Kraft, die Körper in Rotation versetzt als „Drehmoment“ bezeichnet. Je  stärker die einwirkende Kraft, desto höher das Drehmoment, desto schneller die Rotation, desto höher die Fliehkraft, die auf die in Rotation versetzten Körper einwirkt.

Übertragen wir diesen Zusammenhang auf das Bild der Welt als ein sich selbst organisierendes Räderwerk bedeutet das: Je stärker materielle Interessen und Kapital, desto größer wird die Kraft, die unvorhersehbar und unkontrollierbar auf andere Teile des Räderwerks wirkt. Dadurch wachsen die Gefahr der Selbstzerstörung durch Überlastung und Entropie und die Fliehkraft, die in diesen Regionen des Räderwerks zu wirken beginnt.

Übertragen auf reale Zusammenhänge sehen wir Fluchtursachen entstehen: vom Menschen verursachte klimatische Katastrophen, zu Glaubenskriegen transformierte Wirtschaftskriege, Vertreibung, Genozid.

Elke Mark, "FliehKraft", Detail, Einstellungsraum 2017
Waren ehemals die Ursachen für all diese menschlichen Katastrophen noch annähernd offenkundig z.B. als reine machtpolitische Interessen zu erkennen, und ihre Verursacher zu benennen, wie z.B. bei den zahlreichen Erbfolgekriegen seit dem Mittelalter, akkumulieren sich gegenwärtig bereits die simpelsten alltäglichen, individuellen Handlungen, eingebracht als Bewegungen in ein globalisiertes ökonomisches System, zu weitreichenden Effekten und können zu Flucht-, Vertreibungs- und Kriegsursachen werden.

Allein durch den so harmlos erscheinenden Kauf einer Flasche Maggi macht man sich in letzter Instanz mitschuldig an einer der größten sich anbahnenden Katastrophen in Westafrika, wo Nestlé mit staatlichen Subventionen im großen Stil Wasserquellen aufkauft, um sie als Mineralwasser abzufüllen, das für die Einheimischen unerschwinglich ist, während im Umland das Vieh verdurstet, das Getreide verdorrt und die Menschen verhungern.
Denn selbst wenn auf der einen Seite nur eine individuelle Begehrlichkeit besteht, wird sie, kollektiv gebündelt und ausgenutzt von systemischen Opportunisten mit dem Vorsatz persönlicher Bereicherung, zu einer massiven Nachfrage, hinter der schließlich soviel Kapitalkraft und materielles Interesse steht, daß sie an anderer Stelle problemlos, ob mit verdeckter oder offener Gewalt, alle autoritativen oder allokativen Ressourcen unter Kontrolle bringen kann. Und schließlich koppelt sich diese so entstandene Bewegung von den ursprünglich auslösenden Bedürfnissen ab und dient nur noch dem Selbstzweck der Kapitalvermehrung.

Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht, Detail, Einstellungsraum 2017
Wasser wird nicht mehr gepumpt und abgefüllt, um Vieh zu tränken, Äcker zu bewässern und den Durst zu löschen; Häuser werden nicht mehr gebaut, um Menschen zu behausen; Nahrungsmittel werden nicht produziert, um zu ernähren - alles geschieht nur noch, um das dahinterstehende Kapital zu vermehren und materielle Interessen zu befriedigen. „ Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind.“ (Joseph Conrad, Nostromo, 1904)

Und während so auf der einen Seite wie von einem Gravitationsfeld immer mehr geronnene Energie in Form materieller Güter angehäuft wird, die dem postindustriellen Menschen der oberen gesellschaftlichen Schichten schließlich wie ein Mühlstein um den Hals hängen, wirken auf andere Regionen des Räderwerks so massive Kräfte, daß durch Überlastung und die enstandene Fliehkraft individuelles Leben auseinander gerissen und in ein immaterielles Niemandsland katapultiert wird, in dem sich die menschliche Identität nur mehr von Erinnerungen ernährt, die durch die Traumata der Flucht zusehends verschüttet und ersetzt werden.

In der Ausstellung „FliehKraft“ von Elke Marks sind wir vom Niederschlag dieser Immaterialität  und Fragmentierung umgeben.
Im Zentrum ihres Werkkomplexes stehen die Fluchterfahrungen von Barbara Waetzmann nach dem zweiten Weltkrieg und die von Anwar Alwahran, dem erst vor kurzem die Flucht aus Syrien gelang.

Als Barabara Waetzmann mit ihrer Familie floh, war eines der wenigen Dinge, die sie mitnahm, ein Buch mit Balladen, das in verschiedener Form in der Ausstellung auftaucht.
Es gibt kaum etwas, das einerseits so immateriell, andererseits aber so unzerstörbar und verlässlich ist, wie ein Gedicht, dessen Wortklang, Versmaß und Bilderfülle immer wieder aufgesucht werden kann und Halt gibt, als verläßliche Zuflucht in einer Welt, die auseinander bricht.
Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht, Mitte: Dr. B. Waetzmann, Einstellungsraum 2017
Ebenfalls von großer Bedeutung für die Verarbeitung der Fluchterfahrung und das Bemühen, die eigenen Identität vor weiterer Verletzung zu schützen, war ein Adventskalender, den Barbara Waetzmann gemeinsam mit ihrer Schwester gestaltet hat. Ihre Eltern sollten jeden Tag eine Zeichnung aufdecken, auf der eine markante Situation des vorangegangenen Jahres festgehalten war. Interessant dabei ist, daß es sich nicht nur um Szenen aus der Zeit vor der Flucht gehandelt hat, sondern auch um die Wiedergabe von Ereignissen auf der Flucht und aus der Zeit unmittelbar danach.
Hier lehren uns die Resilienz und die Intuition des Kindes, daß die Identität des Menschen sich nicht nur auf die Zeit vor dem Trauma berufen kann, sondern auch die Flucht selbst Teil der Identität werden muß, um ein vollständiges Ganzes zu bilden.

Mit dieser Installation korrespondieren auch die Zeichnungen Anwar Alwahrans, der die Erinnerung an verschiedene Stationen seiner Flucht festgehalten hat, um sie begreifbar und mitteilbar zu machen - einerseits sehen wir darin Momentaufnahmen eines im reißenden Strom der Veränderung befindlichen Zwischenzustands, andererseits sind es bereits Bausteine einer zukünftigen Identität, die sich formieren und festigen wird.

Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht mit Performance A. Alwahran, Einstellungsraum 2017
Was vor allem berührt und Hoffnung gibt, ist der Umstand, daß es zwei Menschen gelungen ist, sich nicht von der gewaltigen, auf sie einwirkenden Fliehkraft zerstören zu lassen, sondern sich einen Teil davon gestalterisch anzueignen und die Intensität der Fliehkraft zu nutzen, um den Individuen, die in Regionen materieller Akkumulation fern der Zentren der Zerstörung  leben, Kunde davon zu bringen, welche tatsächlichen Ereignisse und Lebensschicksale mit ihrem lokalen Handeln in Verbindung stehen, ihnen die Ereignisse vor Augen halten, für die sie schließlich mit jedem alltäglichen Tun mitverantwortlich sind.

Denn setzen wir selbst Kräfte in Gang, die eine solch hohe Fliehkraft erzeugen, daß die von ihr auseinander geschleuderten Lebensfragmente uns erreichen, ist es unbedingt notwendig, daß es Stimmen gibt, die uns diese verlorenen Trümmer von Leben in einer bedeutsamen und uns verständlichen Form ordnen und uns damit begreifbar machen, was in der Welt, die wir miteinander teilen, tatsächlich vor sich geht.

Dr. Thomas Piesbergen, Elke Suhr (Vorstand des Einstellungrsraum e.V.), 2017

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, November 2017

Montag, 9. Oktober 2017

Der Fortschritt und das Innehalten - Eröffnungsrede zur Ausstellung „Yukari Kosakai - Schritte zum Gegenpol“ von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "Schritte zum Gegenpol" von Yukari Kosakai im Einstellungsraum e.V. (4. - 27.10.2017) findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Drehmoment".

Yukari Kosakai, Schritte zum Gegenpol, Detail, 2017

In der Kulturtheorie stehen sich seit jeher zwei unterschiedliche und bisher unvereinbar scheinende Konzepte gegenüber, die heute vor allem in ihren Inkarnationen des Strukturalismus und des historischen Materialismus verbreitet sind:

Im Strukturalismus fungiert die kulturelle Bedeutung als Ordnungsmacht. Alle natürlichen Erscheinungen und Gegebenheiten erlangen ihre Bedeutung erst durch die vom Menschen vorgenommene Zuweisung. Die hervorgebrachte Kultur ist also kein zwangsläufiges Ergebnis einer Adaption, sondern hat die Möglichkeit, sich innerhalb gewisser Grenzen frei zu entfalten, weshalb dieses Verständnis menschlicher Kultur auch als Possibilismus bezeichnet wird.

Dem gegenüber steht der historische Materialismus mit all seinen Ableitungen wie Funktionalismus, Utilitarismus etc. Nach dieser Sichtweise wird die Kultur lediglich als das Ergebnis einer Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten verstanden; dementsprechend erhalten alle Dinge und Erscheinungen nur eine Bedeutung, insofern sie in subsistenziellen und ökonomischen Zusammenhängen eine Rolle spielen. Die Kultur stellt also nichts anderes dar als die biologische Anpassung an eine Lebensumwelt mit anderen Mittel. Sie wird von den Gegebenheiten bestimmt. Aus diesem Grund wird dieses Kulturkonzept auch als Determinismus bezeichnet.

Der Zankapfel des wissenschaftlichen Disputs besteht also in der Frage, ob wir unsere Umwelt nach der Schablone unserer kulturellen Vorstellungen und Werte nutzen und gestalten, oder ob umgekehrt unsere Umwelt unsere kulturellen Vorstellungen und Werte überhaupt erst hervorbringt.
Es liegt auf der Hand, daß diese Frage genauso unbefriedigend beantwortet werden kann, wie die Frage nach Henne oder Ei.

Der große Anthropologe und Kulturtheoretiker Marshall Sahlins schlug in seinem Werk „Kultur und praktische Vernunft“ eine Differenzierung vor, die jeder dieser Perspektiven innerhalb gewisser Grenzen ihre Berechtigung geben sollte:
Der Strukturalismus sei besser geeignet, ahistorische Gesellschaften zu beschreiben, der historische Materialismus hingegen eigne sich besser für historische, „zivilisierte“ Gesellschaften. Damit brachte er einen Aspekt ins Spiel, der im weiteren kulturwissenschaftlichen Diskurs leider viel zu selten aufgegriffen worden ist, der für uns aber von großem Interesse ist, nämlich den des Zeitverständnisses und seiner Bedeutung für das kulturelle Selbstbild.

Die vom Strukturalismus beschriebenen ahistorischen Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, daß sie fest im Mythos verankert sind. Im Mythos ist ihre soziale und ökonomische Struktur eingeschrieben und alle Erscheinungen erhalten ihre Bedeutung, in dem sie im Rahmen des Mythos interpretiert werden und ihre Entsprechung in ihm finden.
Im Sinne des fließenden Bewußtseins ist der Mythos stets gegenwärtig; und wenn die mythologischen Ereignisse im Maskentanz oder anderen Riten nachvollzogen werden, spielen die Darsteller nicht, sie wären die jeweiligen Geister und Gottheiten, sondern für die Dauer des Ritus sind sie die Geister und Gottheiten, ihre realen Verkörperungen, ebenso wie die dargestellten Vorgänge den Mythos nicht nur abbilden, sondern ihn real nachvollziehen.

Es ist ebenfalls von zentraler Bedeutung, daß der Mythos und die in ihm enthaltene Struktur unverändert von Generation zu Generation reproduziert wird, denn erst der zyklische Vollzug der Riten und gesellschaftlichen Routinen gewähren den Erhalt der Zyklen der Natur. Die Natur wird wahrgenommen als ein sich stets erneuernder Kreislauf, die Zeit als kreisförmig sich erneuernd, weshalb es essentiell ist, die Stabilität der Kultur und den entsprechenden Ritus in exakt der tradierten Form zu erhalten.

Die Welt spielt sich also ab in einer ewigen Gegenwart. Das menschliche Handeln kann nicht auf das Erreichen eines fernen oder sich wandelnden Ziels reduziert werden. Zum einen ist das Ziel des kulturellen Handelns  in ahistorischen Kontexten immer das Gleiche. Zum anderen ist die Durchführung des ritualisierten Handelns mindestens ebenso wichtig wie das Ziel selbst.

Ritualisierte Handlungen zielen nicht auf einen zukünftigen, bisher noch nicht da gewesenen Effekt ab, sondern fokussieren sich auf die unmittelbare Beschaffenheit der Gegenwart und deren stete Erneuerung. Alternative, effektivere Wege zum Ziel sind irrelevant, da sie nicht der Struktur des zyklischen, stets gegenwärtigen Mythos entsprechen.

Das Zeitverständnis innerhalb historischer Gesellschaften widerspricht diesen Vorstellungen total. Die Zeit, die menschliche Gesellschaft, der Zustand unserer Welt werden nicht als etwas Zyklisches begriffen, sondern als etwas sich linear und stetig Wandelndes.

Deutliche Beispiele finden wir bereits in den großen Buchreligionen, deren Verständnis der Zeit ein historisches und teleologisches ist: Die Dauer der Welt nimmt ihren Anfang in einem Schöpfungsakt, erstreckt sich über lange Genealogien und Ereignisse, die als faktisch und historisch angenommen werden, und mündet schließlich in einem dann wieder überzeitlichen Paradies.
Thomas von Aquin übertrug dieses Konzept der langsamen Entwicklung vom Sündenfall bis zum Eingang ins Paradies auf den Menschen selbst und begriff ihn erstmals als ein im Wandel befindliches Wesen, das sich auf einer Stufe zwischen Tier und Engel befindet. Hier begegnet uns bereits das Motiv des mangelhaften Menschen, dessen Aufgabe es ist, sich zu einem besseren Selbst hin zu entwickeln.

Den größten und nachhaltigsten Paradigmenwechsel dieses Prozesses der „Historisierung“ hat Charles Darwin mit seiner „Entstehung der Arten“ von 1859 ausgelöst. Mit seiner Theorie hat er das Primat der Anpassung und der damit einhergehenden Optimierung endgültig in die Vorstellung von Mensch und Gesellschaft eingeführt und auf diesem Weg auch die zentrale Bedeutung des „Fortschritts“ bei der Bewertung gesellschaftlicher Sachverhalte etabliert.
Nichts, was der Mensch hervorbringt, gilt uns mehr als vollkommen, alles als verbesserungswürdig und verbesserungsfähig. Schon allein der generell als positiv verstandene Begriff „Fortschritt“ suggeriert, daß der derzeitige Zustand einer Situation auf Dauer nicht befriedigend sein kann. Erst ein Fortschreiten, ein Verlassen des Status Quo, kann Befriedigung bringen.

Das daraus resultierende Verständnis kultureller Handlung kann ohne weiteres als machiavellistisch bezeichnet werden. Denn wenn die Veränderung des Status Quo Ziel der Handlung ist, spielt es keine Rolle, wie das angestrebte Ergebnis erreicht wird.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der Effekt. Solange etwas einfacher, schneller, größer oder kleiner, billiger, lukrativer, bequemer oder schlichtweg moderner wird, ist es als positiv zu bewerten, gleichgültig, welche Mechanismen dafür verantwortlich sind.

Hier jedoch verselbständigt sich der Begriff des Fortschritts und löst sich von allen Bewertungskriterien zugunsten einer eigenen, von menschlichen Interessen unabhängigen Dynamik.
Der Fortschritt an sich wird als erstrebenswert angesehen, egal in welchem Bereich, in welcher Form oder mit welchen möglichen sekundären Konsequenzen er sich vollzieht.
Als plakatives Beispiel sei der Fetisch des „Wirtschaftswachstums“ genannt. Obwohl der Club of Rome bereits 1972 in seiner Studie Die Grenzen des Wachstums dieses Goldene Kalb der Wirtschaftspolitik als Irrweg entlarvte, gilt das zunehmende Bruttosozialprodukt nach wie vor als der unfehlbare Gradmesser des gesellschaftlichen Wohlergehens.
Der Motor der Wirtschaft muß brummen und er muß effektiver werden, mehr leisten, sein „Drehmoment“ muß erhöht werden, die „Performance“ muß immer dynamischer werden.

Dementsprechend muß alles Zyklische, Statische, Gleichbleibende gegebenenfalls auf dem Altar des Fortschritts unter Zuhilfenahme der Schlagworte Mobilität und Flexibilität geopfert werden. Vormals stabile lokale Gemeinschaften werden durch nicht-örtliche sog. „Soziale Netzwerke“ ersetzt, die Familie durch Lebensabschnittspartnerschaften und Patchwork, und der Mensch selbst wird schließlich degradiert zu einem Produkt, das sich der Disziplin stetiger Selbstoptimierung unterwerfen und auf dem Arbeitsmarkt anbieten muß, um damit dem Heilsversprechen des Wachstums zu dienen.
Die Mechanismen und damit die konkrete Qualität der Gegenwart verschwinden zugunsten von anvisierten Effekten und werden ersetzt durch Oberflächen, die diesen Effekten vorausgreifen oder lediglich rein fiktive Effekte suggerieren sollen. Mit den beobachtbaren Mechanismen und erfahrbaren Prozessen verschwinden jedoch auch die definierenden Konstanten des menschlichen Selbstverständnisses und die des gemein-schaftlichen Handelns.

Yukari Kosakai ist einerseits fasziniert von all den verschiedenen Geräten, technischen Oberflächen und Anwendungen, andererseits stellt sie sich immer wieder die Frage nach der grundlegenden Funktion der Dinge, denn in unseren postindustriellen Zusammenhängen sind Form und Funktion, wie gerade dargestellt, schon lange entkoppelt. Der Vorgang selbst ist nicht relevant, nur der Effekt, weshalb auch die inhärente Ästhetik eines Mechanismus keine Rolle mehr spielt. Alles Wesentliche, das Funktion hervorbringt, verschwindet hinter den selbstleuchtenden Oberflächen der Displays und ihren Bildern. Doch eben gerade die Funktion, der physische Mechanismus, soll wieder zu Bewußtsein gebracht werden.

Im Keller des Einstellungsraum sehen wir einen Mechanismus aus einem kleinen Zahnrad und einem größeren Zahnradsegment. Als Antrieb dient ein Gewicht, das zunächst durch ein Gegengewicht gehalten wird. Dieses Gegengewicht besteht aus einem Messgefäß für Niederschlagsmengen. Verdunstet das dort eingefüllte Wasser, kann sich das Gewicht absenken und den Mechanismus in Gang bringen.

Tatsächlich ist die Versuchsanordnung so gewählt, daß der Vorgang zwar nicht unmittelbar beobachtet werden kann, sein Mechanismus aber derart offengelegt ist, daß wir den Vorgang in unserer Vorstellung nachvollziehen können, wie auch der Prozess der Wasserverdunstung etwas Unsichtbares ist, das von uns dennoch als Impulsgeber erkannt wird. Unsere Aufmerksamkeit wird also nicht nur auf den mechanischen Vorgang gelenkt, sondern es wird auch gezielt auf dessen Unsichtbarkeit hingewiesen. Der Effekt hingegen wird bloßgestellt als Etwas, das irrelevant und weitgehend zu vernachlässigen ist. Relevant hingegen ist die Qualität der Gegenwart und die Präsenz des Mechanismus.

Dieser Aspekt wird auch durch die Materialwahl unterstützt. Die Installation ist in leichtem Holz ausgeführt, zwar präzise, aber offenkundig nicht darauf ausgerichtet, unter industriellen Bedingungen zu arbeiten. So erhält die Installation eher etwas Modellhaftes, Veranschaulichendes, das keine akute Arbeit verrichten soll, sondern in erster Linie gedanklich nachvollzogen werden muß.

Auch für die zweite Installation hat sich Yukari Kosakai ein diesem Aspekt entsprechendes Material ausgesucht: Pappe. Durch die Wahl des klassischen Bastelmaterials und die unterlassene Kaschierung der Oberfläche tritt dem Betrachter zuerst nicht die Präzision und Leistungsfähigkeit des Mechanismus vor Augen, sondern der Aufwand und die Sorgfalt, die zu dessen Herstellung nötig waren.  Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf das Objekt selbst gerichtet, das so mit seiner materiellen Präsenz die Erwartung eines beeindruckenden maschinellen Effekts überdeckt.

Yukari Kosakai, Schritte zum Gegenpol, Ausstellungsansicht, 2017

Die Mechanik dieser zweiten Installation ist an der eines Uhrwerks orientiert. Herzstück ist ein Zahnrad mit einer sogenannten Ankerhemmung. Diese Ankerhemmung hält das Gangrad periodisch an und bewirkt dadurch einerseits ein regelmäßiges, stetes Laufen der Uhr, andererseits verhindert sie, daß die in der gespannten Feder gespeicherte Energie sich auf einmal entlädt.

Uhren sind in unserer Gesellschaft omnipräsent und sie dienen vor allem dazu, Arbeitsabläufe zu takten und aufeinander abzustimmen sowie Steigerungen der Effektivität oder der Geschwindigkeit zu überprüfen.
Es gibt zahlreiche Beispiele, vor allem aus den Stummfilmen des frühen 20. Jhd., in dem die Uhr als Symbol der industriellen Knechtung des Menschen fungiert. Sie steht also für die Herrschaft eines historischen  und teleologischen Gesellschaftskonzept, in dem nicht die Qualität der Gegenwart, sondern das Ziel von Bedeutung ist, in dem sich das menschliche Streben bündelt, um den Fetischen Wachstum und Geschwindigkeit zu huldigen.
Doch im Gegensatz zu der linearen digitalen Uhr, deren evolutives Ziel man in der „Sternzeit“ des Star Trek-Universums sehen kann, also einer Zeitangabe ohne Jahres-, Monats- oder Tagesangabe, trägt die mechanische Uhr noch das Erbe der zyklischen Zeit in sich.

Denn das Gangrad der Mechanik ist rund wie das Ziffernblatt der Uhr und wir kehren zyklisch immer wieder zu dem Ausgangspunkt zurück, in „Schritten zum Gegenpol“ - so auch der Ausstellungstitel. Von Mitternacht zu Mittag zu Mitternacht. Von Sonntag zu Mittwoch zu Sonntag. Durch die Jahreszeiten von Sommer- zu Winter- zu Sommersonnenwende.

Noch immer können wir die natürlichen Zyklen unserer Lebensumwelt wahrnehmen, wenn auch immer mehr abgeschwächt durch die Begleiterscheinungen des historisch-materialistischen „Fortschritts“ wie das elektrische Licht, das die natürlich Dunkelheit relativiert, die Schichtarbeit,  die unseren natürlichen Schlaf- und Wachrhythmus zerstört, beheizte Lebens- und Arbeitsumfelder, die uns der akuten Wahrnehmung von Wetter und Jahreszeiten berauben, Agrarindustrie und beschleunigte Handelslogistik, die uns zu jeder Jahreszeit jedes eigentlich saisonale Produkt liefern können etc.pp.

Ein weiterer Aspekt der Uhr, der der Logik der Effektivität zuwiderläuft, ist das Fehlen eines Effekts. Denn die Aufgabe einer Uhr besteht lediglich darin, zu laufen, ohne jemals ein Ziel zu erreichen. Dafür ist die Ankerhemmung von zentraler Bedeutung, ebenso wie für die Installation „Schritte zum Gegenpol“.

Erst das Innehalten, das zyklische Stoppen der Bewegung bringt die Funktion des Uhrwerks hervor. Erst das ausgewogene Zusammenspiel von Bewegung und Stillstand ergibt einen Sinn.

Es ermöglicht ein Bewußtwerden der Qualität der Gegenwart, eine Reflektion des gegenwärtigen Handelns. Denn unser Leben gewinnt nicht durch die angestrebten Effekte und fiktionalen Ziele seine Gestalt, sondern durch unser gegenwärtiges Tun und die Beschaffenheit des Moments, auf den die Arbeiten Yukari Kosakais uns auf so überzeugende wie subtile Art hinweisen.


ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, Oktober 2017




Donnerstag, 7. September 2017

Let the circle be unbroken - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Maria Fisahn: Großer Roter Fleck - Tanz der Teilchen in den Feldern" von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "Großer Roter Fleck - Tanz der Teilchen in den Feldern" von Maria Fisahn im Einstellungsraum e.V. findet statt im Rahmen des Jahresthemas Drehmoment, September 2017

Membran, Maria Fisahn, 2017

Zu den ältesten künstlich geschaffenen Objekten der Vorgeschichte gehören, neben den „Choppern“, den Vorläufern der Faustkeile, die sogenannten Sphäroide. Dabei handelt es sich um Steine von etwa 3 bis 7 cm Durchmesser, die eine nahezu runde Form aufweisen.
Sie werden heute in der Regel als Schlagsteine interpretiert, die dazu dienten, andere Werkzeuge zuzurichten, doch in manchen Fällen bestehen sie aus Materialien, wie z.B. Löss, die eine Verwendung als Werkzeug sehr unwahrscheinlich machen.
Die Archäologin Marie E.P. König sah in ihnen den ersten Versuch, das Numinose, die dem Menschen gegenüberstehende unsichtbare Kraft, in einem manifest gewordenen Begriff zu objektivieren. Nach ihrer Interpretation stellt die Kugel den ersten Elemantargedanken der menschlichen Kultur dar, die erste konkret gewordene ideelle Äußerung, in der alle Beobachtungen und die daraus abgeleiteten Vorstellungen in einem diffusen Begriff zusammengefasst werden konnten: ein erster Ausdruck der Erfahrung universeller Einheit.

Dieser im Kreis ausgedrückten kosmologischen Einheit aller Erscheinungen begegnen wir auch in den Weltkonzepten und Raumordnungsprinzipien der wenigen noch dokumentierten hierarchielosen Gesellschaften wieder, wie z.B. bei den philippinischen Aeta oder den Buschmännern der Kalahari. Ihre bescheidenen Hütten, ihre Dörfer, ihre Tänze, ihre Vorstellung der Welt und die Zyklen des Lebens haben alle die Form des unsegmetierten Kreises.

In der griechischen, ägyptischen und germanischen Mythologie sowie in der Alchimie erscheint der Kreis als Ouruboros, die Weltenschlange, die sich selbst in den Schanz beißt und mit ihrem Leib nicht nur den ganzen Kosmos umschließt, sondern auch die zyklische Natur der Zeit repräsentiert, also ein Symbol für die Raumzeit und damit für die uns vorstellbare Existenz schlechthin ist.

Eine ähnlich universelle Bedeutung kommt dem Kreis auch in der japanischen Kaligraphie zu, in der das Zeichen Enzo für den Gegenwärtigen Moment steht, für die Erleuchtung, das Universum und die Leere, die großen synonymen Begriffe zen-buddhistischer Welterfahrung.

Man kann also das Kreissymbol durchaus berechtigt als die Urform einer „Theorie of Everything“, verstehen, einen Vorläufer der großen vereinheitlichenden Weltformel, die eines der maßgeblichen Ziele der modernen Physik ist.
Dr. Thomas Piesbergen zu: Maria Fisahn, Großer Roter Fleck, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V. 2017

Wenden wir uns der Erscheinungswelt physikalischer Forschungsfelder zu, vor allem denen  der Mikro- und der Makrosphäre, begegnen uns auch dort Kreis und Kugel als formale Grundprinzipien:
Die Wahrscheinlichkeitswolken der Elementarteilchen sind kugelförmig, ihre Bewegungen im atomaren Zusammenhang beschreiben Ringbahnen, alle kosmischen Körper, Sterne, Planeten, Schwarze Löcher oder Quasare haben Kugel-, Ring- oder Kreisgestalt. Und auch in der Mesosphäre, in der wir sonst vor allem mit den vielgestaltigen Phänomenen der Emergenz konfrontiert sind, begegnen uns überall Kugel und Kreis als universelle Form- und Bewegungsprinzipien.
Besonders gut wird das Streben zum Kreis deutlich in der Bildung von Ringen auf der Wasseroberfläche: Egal welche Form ein Objekt hat, das man ins Wasser wirft: die von ihm ausgehenden Wellen sind immer ringförmig.

Dennoch leben wir in einer Welt, in der die Symmetrie der uranfänglichen Einheit so viel zahllose Male gebrochen worden ist, daß sie uns in dem Bereich der Mesosphäre als ein fortwährendes, sich nur unzureichend selbst organisierendes Chaos erscheint.
Denn selbst wenn unser Universum, dessen kleinste und größte Erscheinungen Kugelform haben, sich selbst, ausgehend von einem überall zu verortenden Zentrum, in Form einer n-dimensionalen Kugel ausbreitet und sogar unsere Raumzeit nach einem Modell von Stephen Hawking einer Kugel entspricht, bringt es in unserem Wahrnehmungsabschnitt Myriaden unterschiedlichster Formen und Erscheinungen hervor, die wir seit Anbeginn der Kultur mehr oder weniger verzweifelt versuchen in eine uns verständlich Ordnung zu bringen.

Derzeitiger Endpunkt dieser Bemühungen ist die bereits erwähnte Suche nach einer universellen, vereinheitlichenden Weltformel.
Am Anfang dieser Suche werden mit großer Sicherheit Rituale gestanden haben, in denen sich der Mensch seiner Zugehörigkeit zum Kreis des kosmologischen Ganzen, zum All versichert hat, oder, nach den ersten Symmetriebrüchen im Laufe der Entwicklung kosmologischer Konzepte, der Versuch, die verloren gegangene ursprüngliche Einheit wieder herzustellen, den Weltkreis wieder zu schließen.

Ein Instrument, das dazu weltweit Verwendung gefunden hat, ist die Schamanentrommel, eine schlichte runde Rahmentrommel die von sehr unterschiedlicher Größe sein kann. Sie gilt einerseits selbst als Abbild der kosmischen Ordnung, die sich in der Regel kreisförmig um die Sonne oder den Weltenbaum legt, andererseits ist sie, bzw. ihre Schwingung, das Reittier des Schamanen, auf dem er die ehemals mit der menschlichen Sphäre verbundenen, nun aber davon geschiedenen Regionen der Geister und Götter erreichen kann, um entstandenes Ungleichgewicht zwischen den Sphären wieder herzustellen.

Gleichzeitig erlauben die Schwingungen, die von der Trommelmembran ausgehen und mit der sie auf die Körper der Anwesenden einwirkt, die Überwindung der Individuation. Die Gemeinsame Erfahrung von Schwingung und Rhythmus öffnet einen kollektiven Erfahrungsraum. Die Geschichte dieser auf körperlichem Weg erreichten Überwindung der Vereinzelung des Menschen reicht von den gemeinsamen Tänzen hierarchieloser Gesellschaften aus der Frühzeit der Hominiden bis hin zu Phänomenen wie der Loveparade mit ihren entsprechenden massenpsychologischen Dynamiken.
Musik, Rhythmus und Tanz sind imstande, das Gefühl transpersonaler Einheit auszulösen und damit die vereinende Erfahrung einer universellen menschlichen Bedingtheit.

Das vereinende Moment, ob bei rituellen Tänzen der Altsteinzeit, bei militärischer Marschmusik oder in neuzeitlichen Diskotheken, sind die Effekte von Schwingungen.
Diesen Schwingungen begegnen wir ebenfalls wieder auf der Suche nach der großen vereinheitlichenden Theorie der Physik. Die Stringtheorie z.B. postuliert, stark vereinfacht dargestellt, daß der Materie eindimensionale Saiten zugrunde liegen, deren Vibrationen alle Erscheinungen unserer materiellen Welt hervorbringen.
Auch die nichtlokalen Quanteneffekte lassen sich nach der Stringtheorie durch die Eigenschaft von Schwingungen erklären.

Wenn auf einer Geigensaite ein A angestrichen wird, beginnt es nicht am einen Ende der Saite wandert bis zum anderen fort, sondern die Saite schwingt auf ihrer ganzen Länge in der Frequenz des Kammertons. Durch diese Eigenschaft wiederum werden Paradoxien überwunden, die ausgelöst werden durch die Limitierung menschlicher Vernunft auf ein linear raumzeitliches Ursache/Wirkungs-Denken.
Dinge, die auf der beobachtbaren Oberfläche der Welt nach unserem linearen Verständnis eigentlich keine Wechselwirkung miteinander haben dürften, werden beide von ein und demselben Phänomen ausgelöst, einer schwingenden Superstring, und korrelieren deshalb miteinander.

Alle bisher genannten universellen Phänomene finden in den Arbeiten von Maria Fisahn ihre Entsprechungen.

Der große rote Fleck des Jupiters

Schon der Titel der Ausstellung: „Großer Roter Fleck - Tanz der Teilchen in den Feldern“ verweist sowohl auf die Dimensionen planetarischen Ausmaßes, speziell auf den Jupiter und seinen gewaltigen roten Fleck, einen Wirbelsturm, der die doppelte Größe der Erde hat, als auch auf die Teilchen der subatomaren Ebene; er verweist auf den Mikro- und den Makrokosmos.
Die Hängung der Membranen ruft ebenfalls die Assoziation mit Planeten wach. Auch die darauf aufgebrachten Farbspuren lassen an kosmische Phänomene denken, wie interstellare Nebel und ähnliche Erscheinungen. Gleichzeitig ähneln sie stark den Spuren, die zerfallende Elemtarteilchen  wie Baryonen oder Neutrinos auf Photoplatten hinterlassen.

Bereits auf dieser augenscheinlichen Ebene begegnet uns die grundlegende Opposition von der ursprünglichen Symmetrie des Kreises und dem scheinbar unentwirrbaren Chaos unserer Welt.

Doch wie kommen die bunten Spuren, in denen wir unsere mesosphärische Wirklichkeit gespiegelt sehen können, überhaupt zustande? Mit dieser Frage wird ein Prozess in den Blickwinkel gerückt, der essentieller Bestandteil des Werkkomplexes ist.

Die Materialien, mit denen Maria Fisahn arbeitet sind zunächst die bereits genannten Membrane, die in der Art von Schamanentrommeln auf kreisförmige Rahmen gespannt werden. Darauf werden verschiedene Samen und Kerne ausgebracht. Ihre symbolische Bedeutung liegt auf der Hand: sie verkörpern das noch ruhende Potenzial, die anfänglich noch ungebrochene Symmetrie, aus der etwas Vielgestaltiges, sich Wandelndes, Emergentes hervorgehen wird.
Durch rhythmisches Trommeln wird die Membran in Schwingungen versetzt, wodurch die Kerne wiederum in ihrer Form entsprechende Bewegung versetzt werden. Sie beginnen, über die Membran zu wandern, zu tanzen und sich um sich selbst zu drehen.
Vorher jedoch, um ihre Bewegungsspuren aufzuzeichnen, werden sie mit farbigen Pigmenten eingestäubt.
Maria Fisahn, Großer Roter Fleck, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V. 2017

Durch dieses Vorgehen wird uns auf verschiedenen Ebenen vor Augen geführt, wie aus einem einzigen, allen Entitäten zugrunde liegenden Impuls, in diesem Fall dem monotonen Trommelrhythmus, eine chaotisch anmutende Vielzahl von Erscheinungen hervorgehen kann.
Die Kerne und Samen entwickeln durch ihre Form zwar mitunter ähnliche Bewegungsmuster, doch jeder Einzelne weicht davon ab soweit es nötig ist, um seine Bewegung von denen der anderen zu unterscheiden. So sehen wir sie ungeordnet und eigenwillig durcheinander tanzen, wie auf einem Ameisenhaufen, wohl wissend, daß hinter dem vordergründigen undurchschaubaren Chaos der Ameisen eine strenge, minimalistische Grundordnung steckt, so wie auch das Chaos der tanzenden Teilchen von den gleichförmigen und eintönigen Schwingungen hervorgebracht wird; so wie auch die nach Regeln und Grundkonstanten geordnete Welt der Menschen aus der Ferne wie ein absurdes Durcheinander anmuten muß.

Maria Fisahn, Großer Roter Fleck, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V. 2017

Doch neben dieser abstrakten Ebene erleben wir den Verweis auf ein vereinendes ursächliches Prinzip auch auf einer unmittelbaren sinnlichen Ebene:
Wie in einem schamanistischen Ritual erleben wir die Wirkung des monotonen Trommelns auf unseren Körper und können, dadurch fokussiert, uns der transpersonalen Erfahrung öffnen, die uns der gemeinsam erlebte Rhythmus anbietet.

Gleichzeitig erleben wir bei der Betrachtung der tanzenden Teilchen eine psychologische Übertragung menschlicher Impulse: Unwillkürlich nehmen wir die Dattelkerne, Kichererbsen oder Linsen wahr, als wären es kleine, eigenwillige Tiere, die nach einem unterstellten Willen handeln oder etwas erdulden. Die menschliche Natur ist so beschaffen, daß sie anthropomorphisiert, und so sehen wir uns selbst in den tanzenden Teilchen  gespiegelt und fühlen uns mit ihnen verbunden.

Dieses vorbewußte Gefühl einer Verbindung, verstärkt durch die Wirkung des hypnotischen Trommelrhythmus, kann sogar soweit gehen, daß sich Erfahrungsräume öffnen, in denen unsere linearen Wahrnehmungsroutinen suspendiert werden, und das Gefühl dafür verloren geht, ob man einem Kern mit den Augen folgt oder ihn dadurch nicht vielleicht sogar lenkt. Hier fügt der Logos schnell die Fußnote des beobachterabhängigen Universums ein, das sich seit den Forschungen des Quantenphysikers Erwin Schrödinger als Erklärung für das Zustandekommen der Wirklichkeit als relevante Alternative anbietet.

Maria Fisahn, Großer Roter Fleck, Ausstellungsansicht, Einstellungsraum e.V. 2017
Und tatsächlich gib es diese Interaktion zwischen dem Betrachter und dem Geschehen auf der Membran - allerdings auf ganz anderen Wegen. So haben z.B. Wärme und Luftfeuchtigkeit einen großen Einfluß auf die Eigenschaften der Pigmente und damit auf die Bewegung der Kerne. Diese Aspekte werden ihrerseits beeinflußt durch die Menge des anwesenden Publikums, durch die Nähe der Beobachter oder durch Luftbewegungen, die von ihnen ausgelöst werden.

Wir erleben also im Vollzug des ritualisierten künstlerischen Prozesses eine seltsame Durchdringung von Ursache und Wirkung, von dem Gefühl für eine zugrundeliegende Einheit und einer damit scheinbar unvereinbaren Diversität, von Eigensinn und Gemeinschaft, und werden  uns dadurch dem durch alle Zeiten wirkenden Grundimpuls des Menschen bewußt, das empfundene Geworfensein in eine chaotische Wirklichkeit überwinden zu wollen; den geahnten Verlust einer vormaligen universellen Einheit wieder gut zu machen, und die erste, vereinende Ursache aller Erscheinungen zu suchen, sei es in Form einer Unio Mystica, sei es in Form der großen vereinheitlichenden Theorie der modernen Physik.

Das Ziel der Suche und das Bedürfnis nach einem Verständnis der menschlichen Bedingtheit ist seit Anbeginn der Menschheit dasselbe geblieben. Das einzige, was sich fortwährend verändert hat, sind unsere Mittel, danach zu suchen.

ⓒ Thomas Piesbergen / VGWort, September 2017








Sonntag, 23. Juli 2017

Der Akteur im Archiv - Eröffnungsrede zur Ausstellung „Arne Lösekann - arch_IV“ im Rathaus Schenefeld von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "arch_IV" von Arne Lösekann wurde ermöglicht durch den Kunstkreis Schenefeld im Rathaus Schenefeld, Juli/August 2017


Unsere Gesellschaft sowie unsere subjektive Realität definieren sich durch die Art und Weise, wie innerhalb ihres Wirkungsbereichs einzelne Ereignisse und Aspekte miteinander verknüpft sind; durch ein Bezugssystem, das den verknüpften Elementen Bedeutung zuweist. Diese Bezugs- und Bedeutungssysteme lassen eine jeweilig spezifische Struktur entstehen, die wir auf phylogenetischer Ebene als unsere Kultur begreifen, auf ontogenetischer Ebene als unser Selbst, unsere Identität.

In einem Zitat der buddhistischen Überlieferung heißt es, wir wären die Summe all dessen, was wir gedacht haben. Hier wird der gleiche Gedanke zu Ausdruck gebracht, doch kaum merklich durch etwas Entscheidendes ergänzt: durch die Tätigkeit des Denkens, durch eine Handlung.
Denn natürlich ist der Mensch nicht nur eine assoziative Struktur und die Kultur nicht nur eine Ansammlung von Bedeutungsmustern. Beide nehmen erst Gestalt an durch akute Handlung.

In seinem theoretischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ unterschied Jean Paul Sartre zwischen bloßen Gegenständen und Menschen, in dem er den Gegenständen ein „An-sich-sein“ zubilligte, den Menschen hingegen ein „Für-sich-sein“. Dieses menschliche „Für-sich-sein“ definierte er zunächst recht paradox als „das, was es nicht ist und nicht das, was es ist.“

Was er damit ausdrücken wollte ist der Umstand, daß der Mensch nicht aufgehen kann in dem, was er aus der Vergangenheit in sein gegenwärtiges Dasein getragen hat, also in der Sammlung dessen, was er erlebt und in Zusammenhang gebracht hat. Mensch zu sein bedeutet einen Bruch in der fugenlosen Existenz, denn der Mensch hat keine ihn konstituierende Essenz wie die Dinge. Er muß sich sein Wesen durch Handlung erst erwerben. Der Mensch muß sich in jedem Augenblick neu entscheiden und sein zukünftiges Leben entwerfen. Erst dieser Akt der Handlung in die Zukunft hinein macht ihn zum Menschen, erst darin kann er aufgehen.

Doch wer ist es denn, der in der Gegenwart auf dem Fundament all dessen, was er gedacht hat, agiert? Ist es überhaupt möglich, daß die Summe all dessen, was wir gedacht haben, in der Gegenwart präsent ist und zum Wirken gebracht werden kann? Oder sind es immer nur einzelne Bewegungen in dem Bezugssystem unserer Erinnerungen, die sich auf unsere Handlungen und damit auf unsere Wirklichkeit und gegenwärtige Identität auswirken?

Der tschechische Schriftsteller Karel Capek schrieb 1934 in seinem Roman Ein gewöhnliches Leben:
„Wie viele Lebensgeschichten sind es nun: vier, fünf, acht. Acht Leben, die mein Leben bilden; und ich weiß, wenn ich mehr Zeit und einen klaren Kopf hätte, fände ich noch eine ganze Reihe, völlig zusammenhangslose, solche, die nur einmal existierten und nur einen Augenblick währten (…)
Das Leben eines Menschen ist eine Menge verschiedener möglicher Leben, von denen nur eins, oder einige verwirklicht werden, während die anderen sich nur spärlich, nur für eine Weile oder überhaupt nicht offenbaren. So ungefähr stelle ich mir die Geschichte eines jeden Menschen vor.“

Aufgrund ähnlicher Überlegungen bezeichnete der portugiesische Dichter Fernando Pessoa das menschliche Sein als eine Kolonie verschiedener Selbste, und Michel Montaigne bemerkte in seinen Essays, es gebe zwischen uns und uns selbst eben so viele Unterschiede, wie zwischen uns und den anderen.

Für das Alltagsleben der meisten Menschen haben diese Überlegungen nur eine geringe Bedeutung, da sie sich meist in Kontexten bewegen, in denen Aufgaben und Betätigungsfelder von außen an sie herangetragen und gewisse Entscheidungen und Ergebnisse von ihnen erwartet werden. Dadurch, daß ihr Umfeld vorgegeben ist und ihre Handlungen und Entscheidungen nur in einem klar abgegrenzten Rahmen stattfinden können, sind etliche Parameter ihrer Identität festgelegt und nur unter erheblichen Mühen und Verwerfungen zu ändern.

Für den Künstler allerdings ist die Frage nach den Entscheidungen und Handlungen, mit denen er sich sein Wesen und seine Identität erwirbt, stets akut und essentiell, denn mit jedem abgeschlossenen Projekt stellt sich ihm die Frage von neuem: Was gilt es jetzt zu tun und wer werde ich sein? Welche Emanation der Kolonie meines Selbsts tritt in dem nächsten Projekt hervor?
Denn wenn sich unser Selbst durch das „Für-sich-sein“ Sartres definiert, treten unsere Persönlichkeit und Identität in unseren Entscheidungen zutage, durch das, was wir tun und wie wir es tun; im Falle des Künstlers also durch seine Kunst. In ihr manifestieren sich seine Wahrnehmungs-routinen, seine Haltung gegenüber der Welt, sein Selbstbild, seine Motive und seine Gestaltungsabsichten.

Auch auf einer anderen Ebene ist die Frage nach der temporären Identität für den Künstler relevanter als für die meisten anderen Menschen. Denn während sich jene lediglich mit erinnerten, verschwommenen und changierenden Bildern auseinandersetzen und sich daraus eine Vorstellung ihrer Vergangenheit und ihrer Identität auf der Folie der Gegenwart machen, die zu steter, unmerklicher Wandlung fähig ist, sind Künstler mit ihrem Werk konfrontiert, in dem vergangene, temporäre Selbste eine konkrete und unwandelbare Gestalt angenommen haben.

Aus diesem Grund beschäftigen sich Künstler nur selten intensiv mit ihrem Gesamtwerk, da es sie vor die Aufgabe stellt, ihr gegenwärtiges Selbst stets mit einem temporären vergangenen Selbst abzugleichen und sie dadurch den nötigen freien Denkraum verlieren, neue Projekte zu entwickeln und veränderte oder neue Versionen ihrer Persönlichkeit in Erscheinung treten zu lassen. Dementsprechend befolgen sie meist Sartres Forderung, das Vergangene zu negieren und sich selbst in eine mögliche Zukunft hinein zu entwerfen.

In seiner Ausstellung „arch_IV“ versucht Arne Lösekann hingegen sich genau dieser Aufgabe des Abgleichs zu stellen und in einen aktiven und schöpferischen Dialog mit diesen vergangenen Emanationen seines künstlerischen Selbst zu treten.

Arne Lösekann, Installationsansicht Arch_IV, Rathaus Schenefeld, 2017

Doch um überhaupt in einen solchen Handlungsprozess einzusteigen, ist es notwendig, sich ein Archiv zu schaffen, das ein Agieren erlaubt. Das erfordert bereits nach jeder abgeschlossenen Installation die Entscheidung, welche Elemente nötig sind, um die Installation zu einem späteren Zeitpunkt nachvollziehbar zu machen. Denn im Gegensatz zu Bildern, deren Bedeutung in der Regel immanent und vom Kontext unabhängig ist, sind Installationen immer abhängig von den spezifischen Gegebenheiten des Ausstellungszusammenhangs.

In ihnen kommen Haptik, Gerüche und Geräusche zum tragen, sie interagieren mit dem Betrachter und dem Raum und haben mitunter zeitliche Aspekte, in vielen Fällen sind sie sogar nur für einen speziellen Ort oder einen bestimmten Zusammenhang entwickelt worden, ohne den sie nicht zu entschlüsseln sind.

Zuerst muß also eine Auswahl stattfinden: Welche Elemente sind imstande, den ganzen Installationskomplex in der Vorstellung eines Betrachters wieder zum Leben zu erwecken? Welche Elemente transportieren das Konzept, die Idee am schlüssigstens?
In dem Moment, in dem die Auswahl getroffen wird, tritt die Installation in eine nächste Phase und ordnet sich der Logik eines nächsten, übergeordneten Werkprozesses unter, nämlich dem Werden eines Archivs, das nicht nur die Funktion des Aufbewahrens erfüllen soll, sondern als Ausgangsmaterial für das weitere künstlerische Handeln gedacht ist. Es soll die archivierten Fragmente bereithalten, es soll dem Künstler auch angesichts seines vergangenen Werks die Möglichkeit geben, sich selbst nicht zum Betrachter zu degradieren, sondern Akteur zu bleiben.

Arne Lösekann, Performance zu Arch_IV, Rathaus Schenefeld, 2017

Es ist inzwischen hinlänglich bekannt, daß unsere Erinnerungen keinesfalls so verläßlich sind, wie wir gerne glauben möchten. Wir reduzieren sie, wir füllen die Lücken zwischen den Fragmenten, wir glätten sie, in dem wir sie in unseren Nacherzählungen glaubwürdiger machen, wir verdrängen die unbequemen Ereignisse, wir begründen irrationale Entscheidungen im Nachhinein, wir rechtfertigen uns, und wir machen Fehler, vertauschen Gesichter, Orte, Zeiten.
Diese nicht-intentionellen und oft unerwünschten Charakteristika unseres Erinnerungsvermögens, mit denen wir sehr großzügig die Vergangenheit überformen und neu ordnen, versucht Arne Lösekann ganz gezielt und bewußt auf den Umgang mit seinem künstlerischen Oeuvre zu übertragen, um sich einen Handlungsspielraum zu schaffen.

So wie wir einzelne Erinnerungen und Eindrücke einer akuten Gegenwart miteinander in Verbindung bringen, um darin vielleicht einen roten Faden unseres Selbsts zu entdecken oder wenigstens vereinzelte Überein-stimmungen und Entsprechungen, so nähert sich Arne Lösekann seinen archivierten Installationen.

Arne Lösekann, Performance zu Arch_IV, Rathaus Schenefeld, 2017

Er wählt intuitiv einzelne Komplexe aus, die vergangene künstlerische Emanationen seines Selbst repräsentieren, und beginnt mit ihnen zu agieren, beginnt, sie spontan in Zusammenhang zu bringen mit anderen Komplexen, oder er isoliert jeweils einzelne Elemente auf der Suche nach neuen möglichen Zusammenhängen, die Aufschluß darüber geben können, wer er damals gewesen ist, oder darüber, welche Bewegungen sich über seine akuten Handlungen an den Objekten in die Zukunft fortsetzen könnten und, wie Sartre es fordert, ihm ermöglichen, sich selbst, ein mögliches Selbst, in die Zukunft hinein zu entwerfen.

Dieser Arbeit an der subjektiven Vergangenheit und künstlerischen Identität stellt er in einer Reihe von Transferdrucken die Auseinander-setzung mit einer Vergangenheit entgegen, zu der er nur mittelbaren Zugang hat.

Dort wo sonst die Portraits der ehemaligen Bürgermeister von Schenefeld zu sehen sind, hängen Transferdrucke historischer Fotografien auf Glasplatten. Sie stammen aus der Zeit von 1910 bis 1950 und zeigen Alltagsmotive aus dem Hamburger Stadtteil Barmbek. Im Rahmen seines Projektes „Zeitgeister“ ging Arne Lösekann immer wieder mit diesen Bildern um und sah schließlich die Notwendigkeit, daß auch dieses Handeln an den Bildern in einen zweiten Werkprozess überführt werden müsse.

Arne Lösekann, Zeitgeist_Fetzen, 2017


Historische Photographien werden von uns in der Regel als dokumentarisch gewertet, als authentisch. Doch was sagen sie uns tatsächlich, wie viel der Information, die sie möglicherweise transportieren, ist für uns überhaupt entschlüsselbar? Denn wenn ein erlebtes und erinnertes Bezugssystem fehlt, wie kann es möglich sein, sie in unsere Vorstellung der Vergangenheit einzufügen, einer Vergangenheit, die sich ohne Bruch aus den von uns durchlebten Regionen fortsetzt in die Zeiten vor unserer Geburt, vor der Geburt unserer Eltern und so fort bis sie schließlich in den Nebeln der Vorgeschichte nicht mehr zu fassen ist?

Das einzige, was uns bleibt, ist der Versuch, sie mit dem Ausschnitt der Wirklichkeit, den wir erfahren haben, in Zusammenhang zu setzen, auf dieser Basis neu zu konstruieren, oder sie in Narrationen einzubetten, deren Grundmuster uns als universell gelten. Diese Assoziationen und Überschreibungen der phantomhaften und erodierenden Bilder seiner „Zeitgeister“-Serie hat Arne Lösekann mit einem roten Permanentmarker und roter Latexfarbe aufgebracht.
Die Wahl der Farbe und die formale Erscheinung der Kommentare, die an Korrekturen am Rande von Klassenarbeiten erinnern, machen ein weiteres mal die unüberbrückbare Kluft zwischen unserer erlebten Gegenwart und der nur noch geisterhaft zu erahnenden Vergangenheit deutlich.

Gleichzeitig versinnbildlichen sie das Bedürfnis des Menschen, sich auch mit einer ihm entrückten Wirklichkeit, mit einer ihm fernen Zeit in Bezug zu setzen, sich durch die Haltung, die man ihr gegenüber einnimmt, und durch ein Nachspüren möglicher historischer Bewegungen, die bis in die von uns erlebte Gegenwart hinein wirken, die eigene Identität im Strom der Zeit besser verorten und umreissen zu können.

Und schließlich setzen sich diese roten Kommentare und Notizen fort auf den Fenstern des Ausstellungsraums und machen deutlich: Selbst diese Gegenwart wird sich uns irgendwann entziehen und versinken in einer nur noch mittelbar zu rekonstruierenden Vergangenheit. Selbst diese Gegenwart kann von uns nie derart durchdrungen werden, daß wir nicht doch möglicherweise die entscheidenden Ereignisse und Zusammenhänge übersehen und sie stattdessen mit nur subjektiv relevanten Bedeutungen und imaginierten Narrationen überschreiben.

Arne Lösekann, Künstler und Ausstellungsansicht Arch_IV, Rathaus Schenefeld, 2017

Doch gleichgültig, ob wir in das Archiv der subjektiven Erinnerungen eintauchen oder uns mit einer vermeintlich objektiven Vergangenheit beschäftigen, beide werden erst lebendig und erlangen für uns erst Bedeutung, wenn wir sie in die Gegenwart unserer akuten Handlung einbeziehen, genauso, wie wir erst zu unserem Wesen finden und unsere Identität erschaffen, in dem wir Bewegungen aus der Vergangenheit aufgreifen, sie abwägen, uns zu ihnen in Bezug setzen, und anhand ihrer unser Selbst in eine mögliche Zukunft projizieren.

ⓒ Thomas Piesbergen / VG Wort, Juli 2017