Im Zentrum der aktuellen Ausstellung „FliehKraft“ von Elke Mark zum Jahresthema Drehmoment des Einstellungsraums steht ein inhaltlich stark aufgeladenes Thema: Flucht und ihre Auswirkung auf die individuelle Identität.
Teil der als performatives Ganzes konzipierten Ausstellung sind die lebendigen Stimmen dreier Zeugen sowie das unmittelbare Gespräch von Agierenden und Besuchern.
Als Kunstvermittler habe ich mich deshalb in Übereinkunft mit Elke Mark dazu entschieden, nicht als Außenstehender zu erläutern und zu kommentieren, sondern meine Rede als einen Baustein in den Ausstellungszusammenhang zu integrieren. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden weniger detailliert als üblich auf die Elemente der Ausstellung eingehen, mich auch nicht so sehr auf den im Ausstellungszusammenhang intensiv behandelten Umgang mit der individuellen Fluchterfahrung konzentrieren, sondern mich darum bemühen, den Zusammenhang von Fluchtursachen mit unserer Alltagswirklichkeit zu untersuchen sowie einen Bezug zu dem Jahresthema herzustellen.
Teil der als performatives Ganzes konzipierten Ausstellung sind die lebendigen Stimmen dreier Zeugen sowie das unmittelbare Gespräch von Agierenden und Besuchern.
Als Kunstvermittler habe ich mich deshalb in Übereinkunft mit Elke Mark dazu entschieden, nicht als Außenstehender zu erläutern und zu kommentieren, sondern meine Rede als einen Baustein in den Ausstellungszusammenhang zu integrieren. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden weniger detailliert als üblich auf die Elemente der Ausstellung eingehen, mich auch nicht so sehr auf den im Ausstellungszusammenhang intensiv behandelten Umgang mit der individuellen Fluchterfahrung konzentrieren, sondern mich darum bemühen, den Zusammenhang von Fluchtursachen mit unserer Alltagswirklichkeit zu untersuchen sowie einen Bezug zu dem Jahresthema herzustellen.
Wenn wir uns in der Welt umschauen und nach den gestaltenden Kräften fragen, und damit nicht die geologischen und anderen langzeitigen Effekte meinen, die zwar das natürliche Angesicht dieses Planeten geformt haben, aber für uns in keiner Weise beobachtbar und nur über etliche Umwege zu spüren sind, stoßen wir, wohin auch immer wir uns wenden, auf eine omnipräsente und doch unsichtbare, vom Menschen geschaffene Macht: die „Wirtschaft“.
Nachrichten über sie beherrschen die Medien, ihre Strukturen beherrschen unseren Alltag, und wirtschaftliche Entscheidungen bestimmen auf nahezu allen Ebenen unsere Zukunft, sei es bei der Planung des Haushaltsetats der Bundesregierung, sei es bei dem privaten Kauf eines Automobils.
Im vulgärpolitischen Diskurs wird „Die Wirtschaft“ oft in einer Art genannt, als sei sie eine Entität, als hätte sie persönliche Interessen. Stellvertretend für sie werden sog. „Wirtschaftskapitäne“ verantwortlich gemacht, „Wirtschaftsbosse“, oder „Entscheider“.
Die wiederum, die sich als große und verdienstvolle „Macher“ selbst feiern und entsprechend bezahlen lassen, sofern die von ihnen verwalteten sozio-ökonomischen Prozesse positiv wahrgenommen werden, lassen i.d.R., sobald diese Prozesse negativ aufgenommene Konsequenzen zeitigen, alle Verantwortung in den ihnen untergebenen Hierarchien versickern, verweisen auf kaum greifbare Bewegungen der „Weltwirtschaft“, geben regulierenden Eingriffen der Legislative die Schuld oder machen schlicht den sog. „Markt“ und seine angeblich selbstregulierenden Effekte dafür verantwortlich, wälzen also die Schuld auf ihre Befehlsempfänger, den Konsumenten und den Wähler ab.
Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht mit Dr. Th. Piesbergen (l.) und Anwar Alwahran (r.), Einstellungsraum 2017 |
Diese verschiedenen Zuschreibungen der Verantwortlichkeit entblößen zwei Aspekte unserer sozio-ökonomischen Wirklichkeit: zum einen die Unkontrollierbarkeit der vom Menschen und vom akuten Handeln dissoziierten Macht- und Energieströme der Gesellschaft, also die Eigendynamik des Kapitals, zum anderen das Prinzip des nutznießenden systemischen Opportunismus.
Genau diese Eigenschaften beschreibt der englische Soziologe Anthony Giddens in seiner Strukturationstheorie. Einer ihrer Kernsätze lautet: „Gemäß der Theorie der Strukturation haben soziale Systeme keine Absichten, Zwecke oder Bedürfnisse welcher Art auch immer, nur Menschen haben diese.“
Nach Giddens denken und agieren die Menschen aber fast ausschließlich in ihrer lokalen Alltagswelt; in ihr entfalten sich ihre Absichten, Begehrlichkeiten und Bedürfnisse, die sie nach Möglichkeit befriedigen. Die Summe ihrer Anstrengungen ergibt dabei größere Bewegungen, die ihrerseits zu Strukturen führen, die mit den ursprünglichen Absichten in keinem Zusammenhang stehen müssen.
Wenn verschiedene Individuen regelmäßig eine Abkürzung über eine Wiese nehmen, entsteht auf ihr nach einiger Zeit ein Trampelpfad. Es kann durchaus sein, daß die Absicht der Individuen lediglich darin bestand, morgens rechtzeitig die U-Bahn zu erreichen, und daß der dadurch entstandene Trampelpfad sogar als häßlich und unerwünscht empfunden wird.
In der Summe jedoch ergeben das Begehren, länger im Bett liegen zu bleiben und die anschließende Absicht, doch noch rechtzeitig ins Büro zu kommen, eine von beiden Aspekten unabhängige und von den verantwortlichen Individuen unbeabsichtigte Konsequenz: eine strukturelle Einschreibung, die das Verhalten anderer Individuen später schließlich formen wird und somit eine Eigendynamik entwickelt hat.
Bereits 70 Jahre vor Giddens formulierte der polnisch-britische Schriftsteller Joseph Conrad in seinem Roman „Nostromo“ die gleiche Erkenntnis der Diskrepanz zwischen individueller Absichten und dem ökonomischen Ergebnis in größerem Maßstab auf ganz ähnliche Art und Weise. Dort heißt es:
„Es gibt keinen Frieden und keine Ruhe bei der Entfaltung materieller Interessen. Sie haben ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Gerechtigkeit. Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind.“
Sobald sich die Energiepotenziale zahlreicher individueller Begehrlichkeiten zu einer Kapitalkraft summiert haben, koppelt sich diese Kraft von menschlichen Prinzipien ab und folgt nur noch ihrer inhärenten Logik: dem sinnfreien, inhumanen Wachstum, der materiellen Akkumulation
Ich möchte an dieser Stelle ein Sinnbild vorschlagen: Die Welt als ein gewaltiges, sich stets reorganisierendes Räderwerk, und die Menschen darin als kleine, um sich selbst rotierende Zahnräder, die kaum realisieren, zu welchen größeren Bewegungen sich die Summe ihrer individuellen Anstrengungen akkumuliert. Jeder kreist um sich selbst, um die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse, und nimmt nicht wahr, welche größeren Mechanismen und Ereignisverkettungen er in der weltumspannenden Maschinerie dadurch mit in Gang setzt.
Elke Mark, "FliehKraft", Performance A. Alwahran, Einstellungsraum 2017 |
So z.B. nutzen radikale Kräfte wie die AfD bisher nicht klar artikuliertes Unbehagen, die sog. Politik-Verdrossenheit und irrationale, xenophobe Ängste als Ressourcen für ihre eigenen Zwecke; sie bündeln und kanalisieren sie und nutzen die so kanalisierten gesellschaftlichen Kräfte für ihre neurotischen, menschenfeindlichen Ziele.
Wie und wo die gebündelte und umgeleitete Kraft aber fortwirkt, sobald sie den Horizont dieser systemischen Opportunisten verlässt und in dem großen Räderwerk weitere, meist schädliche Bewegungen in Gang setzt, entzieht sich entweder der Auffassungsgabe oder Aufmerksamkeit der Funktionäre in Politik und Wirtschaft, deren Denken sich meist nur innerhalb des von ihnen gewählten Wirklichkeitsausschnitts abspielt, oder, was moralisch als weitaus bedenklicher zu bewerten ist, sie wird gezielt aus dem Sichtfeld der Allgemeinheit geleitet, um die Negativauswirkung unsichtbar zu machen, wie es der Soziologe Stephan Lessenich in seinen Arbeiten zu „Externalisierungsgesellschaft“ nachdrücklich beschreibt.
Doch in dem Moment, in dem größere gesellschaftliche Bewegungen auf solche Weise zu individuellen Zwecken mißbraucht werden, ergibt sich zwangsläufig, daß die Absichten einzelner sich über die Absichten vieler hinwegsetzen, sie vereiteln, oder sogar auf Kosten von Gesundheit und Leben einzelner durchgesetzt werden. Hier wiederum können Gegenbewegungen entstehen, die ihrerseits von systemischen Opportunisten für ihre persönlichen Zwecke kanalisiert und mißbraucht werden können. Vor diesem Hintergrund kann man den gewalttätigen Islamismus als eine von systemischen Opportunisten kanalisierte Gegenreaktion auf westlichen Kultursuprematismus verstehen, der seinerseits im Kern natürlich vor allem ökonomisch motiviert ist.
So sehen wir verschiedene sozio-ökonomische Komplexe, die, manipuliert von systemischen Opportunisten, alles daran setzen, ihre Effektivität zu erhöhen, um weiter zu wachsen, sich gegen andere Komplexe durchzusetzen, ihnen die eigenen Bewegungsmuster und Strukturen aufzuzwingen, um sie sich schließlich einzuverleiben. Jede Seite probiert dabei immer mehr Energie, mehr Kapital, mehr Durchsetzungsvermögen, mehr Kraft in das System einzubringen.
Elke Mark, "FliehKraft", Performance E. Mark, Einstellungsraum 2017 |
Elke Mark, "FliehKraft", Performance A. Alwahran, Einstellungsraum 2017 |
In der Physik wird die Kraft, die Körper in Rotation versetzt als „Drehmoment“ bezeichnet. Je stärker die einwirkende Kraft, desto höher das Drehmoment, desto schneller die Rotation, desto höher die Fliehkraft, die auf die in Rotation versetzten Körper einwirkt.
Übertragen wir diesen Zusammenhang auf das Bild der Welt als ein sich selbst organisierendes Räderwerk bedeutet das: Je stärker materielle Interessen und Kapital, desto größer wird die Kraft, die unvorhersehbar und unkontrollierbar auf andere Teile des Räderwerks wirkt. Dadurch wachsen die Gefahr der Selbstzerstörung durch Überlastung und Entropie und die Fliehkraft, die in diesen Regionen des Räderwerks zu wirken beginnt.
Übertragen auf reale Zusammenhänge sehen wir Fluchtursachen entstehen: vom Menschen verursachte klimatische Katastrophen, zu Glaubenskriegen transformierte Wirtschaftskriege, Vertreibung, Genozid.
Elke Mark, "FliehKraft", Detail, Einstellungsraum 2017 |
Allein durch den so harmlos erscheinenden Kauf einer Flasche Maggi macht man sich in letzter Instanz mitschuldig an einer der größten sich anbahnenden Katastrophen in Westafrika, wo Nestlé mit staatlichen Subventionen im großen Stil Wasserquellen aufkauft, um sie als Mineralwasser abzufüllen, das für die Einheimischen unerschwinglich ist, während im Umland das Vieh verdurstet, das Getreide verdorrt und die Menschen verhungern.
Denn selbst wenn auf der einen Seite nur eine individuelle Begehrlichkeit besteht, wird sie, kollektiv gebündelt und ausgenutzt von systemischen Opportunisten mit dem Vorsatz persönlicher Bereicherung, zu einer massiven Nachfrage, hinter der schließlich soviel Kapitalkraft und materielles Interesse steht, daß sie an anderer Stelle problemlos, ob mit verdeckter oder offener Gewalt, alle autoritativen oder allokativen Ressourcen unter Kontrolle bringen kann. Und schließlich koppelt sich diese so entstandene Bewegung von den ursprünglich auslösenden Bedürfnissen ab und dient nur noch dem Selbstzweck der Kapitalvermehrung.
Wasser wird nicht mehr gepumpt und abgefüllt, um Vieh zu tränken, Äcker zu bewässern und den Durst zu löschen; Häuser werden nicht mehr gebaut, um Menschen zu behausen; Nahrungsmittel werden nicht produziert, um zu ernähren - alles geschieht nur noch, um das dahinterstehende Kapital zu vermehren und materielle Interessen zu befriedigen. „ Aber sie gründen auf Nützlichkeit und sind inhuman; sie sind ohne Aufrichtigkeit, ihnen fehlt die Beständigkeit und die Kraft, die nur im moralischen Prinzip zu finden sind.“ (Joseph Conrad, Nostromo, 1904)
Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht, Detail, Einstellungsraum 2017 |
Und während so auf der einen Seite wie von einem Gravitationsfeld immer mehr geronnene Energie in Form materieller Güter angehäuft wird, die dem postindustriellen Menschen der oberen gesellschaftlichen Schichten schließlich wie ein Mühlstein um den Hals hängen, wirken auf andere Regionen des Räderwerks so massive Kräfte, daß durch Überlastung und die enstandene Fliehkraft individuelles Leben auseinander gerissen und in ein immaterielles Niemandsland katapultiert wird, in dem sich die menschliche Identität nur mehr von Erinnerungen ernährt, die durch die Traumata der Flucht zusehends verschüttet und ersetzt werden.
In der Ausstellung „FliehKraft“ von Elke Marks sind wir vom Niederschlag dieser Immaterialität und Fragmentierung umgeben.
Im Zentrum ihres Werkkomplexes stehen die Fluchterfahrungen von Barbara Waetzmann nach dem zweiten Weltkrieg und die von Anwar Alwahran, dem erst vor kurzem die Flucht aus Syrien gelang.
Als Barabara Waetzmann mit ihrer Familie floh, war eines der wenigen Dinge, die sie mitnahm, ein Buch mit Balladen, das in verschiedener Form in der Ausstellung auftaucht.
Es gibt kaum etwas, das einerseits so immateriell, andererseits aber so unzerstörbar und verlässlich ist, wie ein Gedicht, dessen Wortklang, Versmaß und Bilderfülle immer wieder aufgesucht werden kann und Halt gibt, als verläßliche Zuflucht in einer Welt, die auseinander bricht.
Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht, Mitte: Dr. B. Waetzmann, Einstellungsraum 2017 |
Hier lehren uns die Resilienz und die Intuition des Kindes, daß die Identität des Menschen sich nicht nur auf die Zeit vor dem Trauma berufen kann, sondern auch die Flucht selbst Teil der Identität werden muß, um ein vollständiges Ganzes zu bilden.
Mit dieser Installation korrespondieren auch die Zeichnungen Anwar Alwahrans, der die Erinnerung an verschiedene Stationen seiner Flucht festgehalten hat, um sie begreifbar und mitteilbar zu machen - einerseits sehen wir darin Momentaufnahmen eines im reißenden Strom der Veränderung befindlichen Zwischenzustands, andererseits sind es bereits Bausteine einer zukünftigen Identität, die sich formieren und festigen wird.
Elke Mark, "FliehKraft", Ausstellungsansicht mit Performance A. Alwahran, Einstellungsraum 2017 |
Denn setzen wir selbst Kräfte in Gang, die eine solch hohe Fliehkraft erzeugen, daß die von ihr auseinander geschleuderten Lebensfragmente uns erreichen, ist es unbedingt notwendig, daß es Stimmen gibt, die uns diese verlorenen Trümmer von Leben in einer bedeutsamen und uns verständlichen Form ordnen und uns damit begreifbar machen, was in der Welt, die wir miteinander teilen, tatsächlich vor sich geht.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, November 2017
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