Janine Eggert, Superporsition, 2017 |
Abgesehen von der Restnatur tritt uns kaum noch etwas entgegen, das nicht in erster Instanz vom Menschen gestaltet worden ist oder ein entropisches Abfallprodukt menschlicher Tätigkeit darstellt. Der Mensch lebt in einem Kontext, der das Ergebnis einer kulturellen Transformation ist. Allerdings hat der Prozess dieser Transformation inzwischen eine Stufe der unkontrollierten Hypertrophie erreicht, und droht nun, ähnlich einem Krebsgeschwür, den Wirtsorganismus, die natürliche Umwelt, zu überwuchern.
Am Anfang der Kultur sehen wir ein umgekehrtes Kräfteverhältnis: Nicht die umgebende Natur ist bedroht, sondern die kulturelle Sphäre des Menschen scheint ein schützenswertes, hochempfindliches System zu sein. In der Bildsprache des frühen Neolithikums stehen sich immer wieder die gezähmte Welt des Menschen und die todbringende Welt der wilden Natur gegenüber. Alle Aspekte des neolithischen Handelns schienen darauf abzuzielen, das Überleben der menschlichen Kultur in einer furchteinflößenden und übermächtigen Umwelt zu gewährleisten, während auf lange Sicht die Natur in zunehmendem Maße transformiert und in kulturelle Strukturen überführt wurde.
Dieser Prozess setzte sich ungebrochen fort, und die Bewertung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt blieb über die Jahrtausende unverändert. Der große Paradigmenwechsel bahnte sich erst im 18. Jahrhundert an und vollzog sich voll ausgebildet im frühen 19. Jahrhundert. Der entscheidende Impuls war die Entwicklung der Dampfmaschine, die die transformierende Wirkkraft des Menschen um ein Vielfaches erhöhte. Endlich schien der Mensch den Sieg im Kampf mit der Natur errungen zu haben. Endlich schien der biblische Auftrag gelungen, sich die Erde Untertan zu machen.
Gleichzeitig aber erschuf sich der Mensch mit der industriellen Technik ein zweites Gegenüber, das ihm nicht nur die Macht zur Beherrschung der Natur verlieh, sondern das ein eigenes Leben zu entwickeln schien:
In der Literatur tauchten zur selben Zeit die ersten Visionen von autark und bewußt handelnden Maschinen und Robotern auf ( z.B. Die Automate und Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann oder The Steam Man of the Prairies von Edward S. Ellis).
Mit dem „Schachtürken“ wurde ein vorgeblicher Schachspielautomat gebaut, von dem behauptet wurde, er wäre tatsächlich in der Lage selbst zu denken, und schließlich entwickelte Ada Byron Lovelace für die analytische Maschine des Charles Babbage um 1840 die erste Programmiersprache der Welt.
Die unterschwellige Angst, sich eine Gegenwirklichkeit geschaffen zu haben, die sich irgendwann gegen den Menschen auflehnt, wie wir es auch in dem ebenfalls in dieser Zeit entstandenen Roman Frankenstein von Mary Shelley finden, korrespondiert mit der beginnenden Entfremdung des Menschen von seiner Arbeitswelt. In den erbarmungslos laufenden Maschinen begegnet er einem Gegenüber, dem er sich im Arbeitsalltag auf Gedeih und Verderb unterzuordnen hat.
Auf der anderen Seite erleben wir zur selben Zeit in dem Kulturphänomen der Romantik eine erstaunliche Inversion des Naturverständnisses: Nicht mehr die Errungenschaften der Kultur erscheinen als die menschlichen Aspekte der Wirklichkeit, sondern die Natur selbst wird zu der wahren Heimat des Menschen, in der er, aus einer bedrohlichen technischen Umwelt fliehend, Zuflucht nimmt.
So heißt es in Die Automate von Hoffmann, der vollkommene musikalische Ton könne niemals aus einem Automaten kommen, er müsse naturnah sein. Als Beispiel wird die Faszination angeführt, die eine Äolsharfe auf den Zuhörer ausübt. Will man also als Musiker, der E.T.A. Hoffmann ebenfalls gewesen ist, einen vollkommenen Ton erzeugen, der das menschliche Herz tief berührt, ist es notwendig, nicht auf seine technisch-kulturellen Fähigkeiten zu vertrauen, sondern auf die uns innewohnende Natur zurückzugreifen und sie durch uns hindurch sprechen zu lassen.
Der Arzt und Philosoph Gotthilf Heinrich Schubert schrieb in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft von 1808, der Kunsttrieb des Menschen sei nur dann erhaben, wenn er als Organ der Natur fungiere. Und erst dadurch werde er wirklich menschlich.
Die Industrielle Revolution führte also dazu, daß Natur und Technik in ihrer Beurteilung durch den Menschen die Rollen miteinander tauschten.
Eine weitere bahnbrechende geistesgeschichtliche Entwicklung, die sich zu dieser Zeit vollzog, war die Entwicklung des Konzepts der Evolution zunächst durch Lamarck, später durch Darwin. Mit einem mal wurden technoide Mechanismen und funktionale Logik, die zuvor nur Teil der menschlich kulturellen Sphäre gewesen waren, zu den grundlegenden Entwicklungs-impulsen der Natur erklärt, wo man zuvor nur von dem Wunder der Schöpfung gesprochen hatte.
Im Umfeld dieser geistigen Strömung entwickelte sich bald die moderne Kulturtheorie, in deren Zentrum immer wieder die Frage stand und bis heute steht, was schließlich die treibende Kraft hinter der Transformation von Natur in Kultur ist. In diesem Diskurs treten zwei gegensätzliche Positionen zutage:
Die eine wird vor allem vertreten durch den historischen Materialismus und die daraus abgeleiteten Varianten Umweltdeterminismus, Utilitarismus und Funktionalismus. Nach diesen Schulen sind alle Äußerungen der menschlichen Kultur von der Umwelt und der ökonomischen und funktionalen Anpassung an sie bestimmt. Dinge und Beziehungen, die eine kulturelle Bedeutung haben, konnten sie nur dadurch erlangen, daß sie vorher bereits eine ökonomische Bedeutung hatten, die wiederum von den Umweltbedingungen determiniert worden ist.
Die Urheberschaft jeglicher Formgebung geht nach dem Umweltdeterminismus in letzter Instanz also zurück auf die uns umgebende Natur, die sich uns anbietenden Ressourcen und unsere Anpassung daran.
Dem widerspricht die Denktradition des Possibilismus. In ihrem Zentrum steht nicht die Logik der Funktion, sondern die Logik der Bedeutung, wie z.B. im Strukturalismus von Claude Levi-Strauss oder in der Theorie kultureller Ordnung von Marshall Sahlins. Nach ihr erhalten Dinge nicht durch ihre praktische Nützlichkeit Bedeutung, sondern dadurch, daß sie sich im Analogiedenken dazu anbieten Bedeutung aufzunehmen. Sie erhalten dadurch Bedeutung, daß sie sich gut denken lassen. Die so entstehenden Beziehungen der Dinge sind per se ästhetischer Natur und ihr Ursprung liegt in der geistigen Natur des Menschen.
Die Urheberschaft jeglicher Formgebung geht nach dem Strukturalismus in letzter Instanz also auf das uns innewohnende Analogiedenken zurück, auf die uns innewohnende Natur, nicht die Funktionalität einer äußeren, uns umgebenden Natur.
In der Genese der Geisteswissenschaft erleben wir also eine ganz ähnliche Inversion der Begriffe von Natur und Kultur wie im Zuge der Romantik.
Der historische Materialismus sieht unsere Lebenswirklichkeit als ein Produkt der Anpassung an übermächtige Naturkräfte an. Die kulturelle, technische und dem Menschen entfremdete Umwelt der marxistischen Theorie ist entsprechend nichts anderes als die maskierte feindliche und alles beherrschende Natur. So wie der neolithische Mensch der Gewalt von Unwetter, Dürre oder Kälte ausgesetzt war, ist der Mensch des Industriezeitalters der erbarmungslosen Funktion der Dampfmaschine untergeordnet. Er lebt in einer Welt, deren Gestalt dem Primat der Funktionalität unterworfen ist. Auf diesem Wege wird der ästhetische Gestaltungswillen des Menschen unterlaufen. Der Mensch lebt also nicht in einer gestalteten, sondern in einer funktional angepassten Welt.
Diese Argumentation scheint plausibel, wenn man sich z.B. die Gestaltung von Maschinenteilen anschaut. Sie sind Produkte reiner Funktionalität und entsprechend erscheint ihre Form unter ästhetischen Gesichtspunkten absichtslos zu sein, wie auch die Gestalt einer Blume oder eines Schneckengehäuses im Sinne der Blume oder Schnecke zwar funktional, aber ästhetisch absichtslos ist. Dennoch gibt es sowohl industrielle wie natürliche Formen die in hohem Maße ästhetisch ansprechend sind.
Der essentielle Unterschied besteht darin, daß Objekte aus dem industriellen Kontext trotz ihrer rein funktionalen und deshalb fremdartig wirkenden Gestalt, der Sphäre der Kultur, der Sphäre des Menschen entstammen. Und da die Anpassung des Menschen sich immer auch in Form einer ökonomischen Ordnung niederschlägt, sind deren formale Erscheinungen also auch Repräsentationen von Herrschaftsstrukturen.
Janine Eggert setzt sich in ihren Arbeiten schon seit längerer Zeit mit diesem Spannungsfeld zwischen reiner Funktionalität und ästhetischer Bedeutung von Formen auseinander, mit deren sozio-politischer Bedeutung sowie mit Momenten der Superposition, wenn sich also verschiedene dieser genannten Aspekte überlagern.
Die Formen anhand derer sie ihre Arbeiten entwickelt, findet sie in erster Linie in den erwähnten industriellen Kontexten. Sie nimmt sich Getriebeteile zum Vorbild oder Arme von Werkzeugautomaten.
Den meisten von uns ist die Faszination bekannt, die die Formen solcher Maschinenteile ausüben können, und nicht selten zieren sie als „ready mades“ unsere Wohnungen - genau wie es Blumen, Schneckengehäuse oder Muscheln oft tun. Doch neben der ästhetischen Faszination bleibt auch immer der entfremdete, kalte Beigeschmack der reinen, unmenschlichen Funktion und der bereits erwähnten Repräsentation von Herrschaftsstrukturen. Denn schließlich scheint uns ein Strand oder eine Blumenwiese ein menschlicherer Ort zu sein, als eine Maschinenhalle, obwohl es sich eigentlich gerade umgekehrt verhalten sollte.
Diesem Widerspruch begegnet Janine Eggert mit der bereits erwähnten und gegenläufigen Logik des Strukturalismus und seinem Analogiedenken, nach dem die ästhetische Gestaltgebung und Bedeutungszuweisung nicht der Funktion folgt, sondern ihrer Eignung, unsere Vorstellungen und Gedanken aufzunehmen und zu repräsentieren. Dafür unterzieht sie die Objekte einer zweiten Transformation, in der nicht Natur in Kultur, sondern funktionale Kultur in ästhetisch bedeutsame Kultur transformiert wird.
Janine Eggert, Superposition, 2017 |
Durch diese betonte Visualisierung einer neuen, rein ästhetischen Bedeutungs-zuweisung, die durch ihre Zerbrechlichkeit und die handwerkliche Ausführung mit ihren zahllosen kleinen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet ist, wurden sie aus ihrem entfremdeten Zusammenhang errettet und wieder zu Gegenständen, die der Sphäre des Menschen und seiner kulturellen Ordnung zugeordnet werden können.
Janine Eggert, Superposition, 2017 |
Mit diesen beiden Arbeiten korrespondieren die Logos von Computerfirmen aus den 60er Jahren, die sich einer gegensätzlichen Methode bedienen. In ihnen wurden Bauteile früher Computer auf ihre strukturelle Idee zu Piktogrammen reduziert, die mit ihrer fremdartigen Gestaltung und Perfektion den Eindruck der Erhabenheit wecken sollen. Die Art der ästhetischen Überhöhung führt nicht zu einer Rückführung in die menschliche Sphäre, sondern zu einer verbildlichten Festigung der Herrschaftsstrukturen, die sich mit dem Übergang vom industriellen zum digitalen Zeitalter fortgesetzt haben.
Janine Eggert, Superposition, 2017 |
Aus ihnen spricht der teleologische Optimismus des historischen Materialismus, der darauf abzielt, die Technik sei wie die Natur und die Gesellschaft schließlich doch beherrschbar und kontrollierbar. Ist diese Kontrolle einmal etabliert, liegt in dem bedrohlichen Gegenüber, gleich ob Natur oder Technik, das große Heilsversprechen. Denn so wie die Natur des neolithischen Menschen in ihrer wilden Form den Tod bringt und in der gezähmten Form Leben schenkt, so versklavt die Technik den Menschen, wenn sie nicht selbst im Sinne des Menschen beherrscht wird, um ihm den Weg in ein technisches Utopia zu ebnen.
Darauf, daß diese Vorstellung von Kontrolle nicht den Tatsachen entspricht, sondern eine reine Konstruktion ist, scheint der Einbau zu verweisen, auf dem sich die Objekte und Piktogramme befinden. Der Einbau, der ein völlig dem menschlichen Gestaltungswillen unterworfenes Umfeld vorstellt und zu gleichen Teilen von Displays aus Designerläden der 60er Jahre und der Innenraumgestaltung von Containerschiffen inspiriert worden ist, besteht aus einem Modul, das ganz im Sinne industrieller Fertigung seriell hergestellt und bis in die Unendlichkeit verlängert werden kann, wodurch es seine menschliche Dimension wiederum einbüßt.
Gleichzeitig wird der Einbau durch die Offenlegung seines Unterbaus als Konstruktion und ephemere Kulisse entlarvt, die die tatsächliche Umgebung, den faktischen Ort maskieren und unsichtbar machen soll. Die perfekte Kontrolle der Umgebung ist nur eine in hohem Maße fragile Inszenierung.
Janine Eggert, Superposition, 2017 |
Janine Eggert, Video-Still: Beginning of Infinity, 2016 |
Die Ausstellung „Superposition“ veranschaulicht auf eine sehr komplexe und subtile Art und Weise diese Ambivalenz im Verhältnis von Mensch und Technik. An dieser Ambivalenz liegt es, daß wir in den letzten 200 Jahren Kulturgeschichte immer wieder Entwürfen einer Zukunft begegnen, die beständig changiert zwischen Verheißung und Apokalypse, und die sich zu jeder Zeit in ihr Gegenteil verkehren kann.
ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, 2017