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Montag, 6. März 2017

Transformation und Realitätskompost - Einführungsrede zu der Ausstellung "Silja Ritter - Every Cloud Has a Silver Lining" im Kulturforum Buxtehude von Dr. Thomas Piesbergen


Silja Ritter, Nose-Bear

Es gibt die landläufige Redewendung, „Kunst kommt von Können“. Diese reichlich abgenutzte Phrase geht in der Regel einher mit einem Kunstverständnis, das es nicht zu leisten vermag, zwischen Kunsthandwerk und freier Kunst zu unterscheiden.

Der Kunsthandwerker stellt schöne und praktische Gegenstände auf bestenfalls hohem handwerklichen Niveau her und bedient sich dabei überlieferter Techniken und einer bereits vorgefundenen Formensprache, die er lediglich variiert, wenn auch mitunter sehr ansprechend. Er integriert sich in ein bestehendes System.
Die Aufgabe des freien Künstlers jedoch besteht darin, dieses System zu transzendieren, zu transformieren und es schließlich neu zu erschaffen.

Die künstlerische Laufbahn Silja Ritters begann hier in Buxtehude mit einer Ausbildung zur Photographin, einem Beruf, den man im weiteren Sinne dem Kunsthandwerk zuschlagen kann. Während ihres anschließenden Studiums der Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg verließ sie bereits dieses klar abgesteckte Terrain und begab sich damit in einen künstlerischen Bereich, in dem sich die Sphären von Kunsthandwerk und freier Kunst überlagern. In dieser Sphäre also sind Übergänge von dem einen in den anderen Bereich künstlerischer Tätigkeit latent. Im Fall von Silja Ritter vollzog sich dieser Übergang zu Gänze spätestens mit ihrem darauf folgenden Studium an der Ecole Beaux-Arts in Paris, wo sie als DAAD-Stipendiatin schließlich Freie Kunst studierte.

Thomas Piesbergen (l.), Sila Ritter (m.), Vernissage, Photo: Thorsten Laß

Natürlich stellt jedes Ende eines Entwicklungsabschnitts den Anfang eines neuen dar. Und damit komme ich zurück zu der bereits angesprochenen Aufgabe, der Arbeit des freien Künstlers: Was bedeutet es, Systeme zu überwinden und sie zu transformieren? Es bedeutet, zu erschaffen, neu zu schöpfen, eigene Bildwelten und eine eigene Formensprache zu entwickeln.

In alle großen Schöpfungsmythen der Welt geht dem ersten Akt der Gestaltwerdung die universelle Formlosigkeit voran. In Ägypten war es der Ur-Ozean. In Babylonien das Ur-Chaos, das manchmal auch mit der ozeanischen Ur-Göttin Tiamat identifiziert wurde. In den hinduistischen Veden schwimmt das goldene Ei des Brahma, bevor es sich öffnet, 1000 Jahre im Ur-Chaos des Nicht-Seins.
In den orphischen Schöpfungsmythen erschafft Chronos, das personifizierte dunkle Ur-Chaos, aus dem Äther das silberne Weltenei. Auch im pelasgischen Schöpfungsmythos steht am Anfang der chaotische Ur-Ozean. Selbst in der finno-ugritischen Kalevala begegnen wir dem Ur-Ozean, in den eine Taucherente das Weltenei legt.

Und natürlich begegnen wir dem Ur-Ozean, diesem Sinnbild des formlosen, ur-anfänglichen Chaos, auch in der Bibel. Bevor Gott mit dem eigentlich Schöpfungsakt beginnt, schwebt sein Geist über der Urflut, in der Licht und Dunkelheit, Himmel, Wasser und Erde noch nicht voneinander geschieden sind. Er ist konfrontiert mit einer Formlosigkeit, einer Grenzenlosigkeit, die noch keine Anhaltspunkte bietet und in der doch alle Möglichkeiten bereits vorhanden sind.

Die Situation des freischaffenden Künstlers ist durchaus mit diesem Bild zu vergleichen. Natürlich ist kein Künstler dazu genötigt, und zudem auch gar nicht in der Lage, selbst wenn er wollte, eine Creatio ex Nihilo zu bewerkstelligen, denn er ist bereits von einer Formen- und Dingwelt umgeben. Aber um etwas Neues zu schaffen und eben nicht nur innerhalb des gegebenen Systems zu agieren, muß der Künstler hinter diese Dingwelt schauen, sie dadurch relativieren oder ihre Strukturen auflösen und sie wieder in das ur-anfängliche, grenzen- und formlose Chaos zurückführen können, um daraus eine eigenständige Bildwelt und Formensprache zu erschaffen.

Diese Bedingtheit erfordert es, sich in ununterbrochener Auseinandersetzung zu befinden mit den überlieferten Bildern und den inneren Strukturen, die mit diesen Bildern korrespondieren - und natürlich mit den Auflösungsprozessen, die den künstlerisch arbeitenden Geist mal in elysische, entgrenzte Gefilde führen können, mal in die dunklen und furchteinflößenden Abgründe des formlosen Chaos.

Silja Ritter, Be

Mit nichts Geringerem als genau diesen Phänomenen, dieser Arbeit, diesem Kampf an der Grenze zwischen bekannten Strukturen, der Formlosigkeit und dem Aufdämmern einer neuen Welt voll neuer, eigenständiger Formen, Beziehungen und Erscheinungen, beschäftigen sich die Arbeiten von Silja Ritter.

Um das zu veranschaulichen, möchte ich versuchen, einzelne wiederkehrende Bildelemente oder Motive zu isolieren, die sich in den Malereien in vielen Schichten immer wieder überlagern, miteinander um die Vorherrschaft ringen oder einander stützen.


Silja Ritter, And You Do Nothing Wrong

Da Silja Ritter das gegenständliche Malen schon vor langer Zeit hinter sich gelassen hat, sehen wir auf fast allen Bildern, meist den Grund bildend, mal aus anderen Formen wieder hervorbrechend, das grenzenlose, amorphe Ur-Chaos, meist in dunklen, schwer benennbaren Farbverläufen. Darin scheinen entweder viele Farben zu einem undefinierbaren Schlamm zusammengefallen zu sein, oder sie scheinen sich noch nicht aus einer Art latenter Ursuppe gelöst zu haben. Sie können also verstanden werden einerseits als die Bedrohung durch Verfall und Depravation, andererseits als ein Substrat, das zwar selbst aus seinem amorphen, grenzenlosen Zustand nicht hervortreten, aber als Nährboden für andere Erscheinungen dienen kann, eine Art kompostierte Wirklichkeit, die als Dünger für Zukünftiges dienen kann.

Ein nächstes Element wären die klaren und deutlich erkennbaren Formen, Symbole, Buchstaben, die aus einer uns allen geläufigen Symbolsprache stammen. Sie wirken in dem um Ordnung ringenden Chaos der Bilder wie Verankerungen in einer alltäglichen Gegenwart.

Silja Ritter, Fragmichnichichweißesauchnich

Mal sind es Zeichen, die den entdeckenden und gestaltenden Geist aus dem schöpferischen Chaos zurück in den Alltag rufen und an Verpflichtungen erinnern, wie z.B. ein Telefonsymbol oder ein einzelner, strenger Buchstabe, der an die strikten Konventionen unserer Kommunikationssysteme gemahnt.

Andere Elemente wiederum wirken wie eine ersehnte Zuflucht zu vertrauten und haltgebenden Konzepten, die uns vor der dunklen Nacht der Seele bewahren können, wie schlichte Herzen, Blumen oder Sterne.

Silja Ritter, All I Want

Die einen stehen also für Strukturelemente, die von Außen an uns herangetragen werden und uns zurück in den Alltag rufen. Die anderen stehen für solche Formen, Vorstellungen und Routinen, die aus uns selbst, nach den in uns gespeicherten Mustern, gezielt erzeugt werden, da sie uns eine Rückkehr in die mitunter wohltuenden Verhaltensnormen des Alltags ermöglichen.

Denn schließlich können wir nicht ohne diese äußeren Strukturen, ohne die alltägliche Welt und ihre Übereinkünfte und Beziehungen leben. Diese Abhängigkeit erläutert sehr anschaulich eine kleine Anekdote aus der Zen-Buddhistischen Tradition: Ein Schüler fragt seinen Meister: „Sensei, was kommt nach der Erleuchtung?“ Der Meister antwortet: „Wasser holen und Holzhacken.“


Silja Ritter, Flying to You

Als drittes auffälliges Element der Malerei Silja Ritters fallen Formen ins Auge, die wirken, als seien es organische Rohlinge, alchimistische Halbfabrikate, die sich noch im Prozess ihrer Entstehung befinden. Manche organischen Strukturen scheinen gerade der Ursuppe entwachsen zu sein, andere wirken, als wären es hybride Zufallsprodukte, entstanden aus sich überlagernden Erinnerungen oder Echos bekannter Formen. Man meint mal Augenwimpern erkennen zu können, mal fischartige Umrisse oder Gebilde, die an altsteinzeitliche Frauenidole erinnern. Diese Bildelemente können vielleicht als erste, werdende Schöpfungen einer eigenständigen Wirklichkeit gelesen werden, als geistige Homunculi, die, wenn sie schließlich zu einer endgültig festen, autarken Form gefunden haben, eine neu erschaffene Bild-Welt bevölkern könnten.

Das letzte markante Element, das ich in der malerischen Grammatik von Silja Ritters Bildern herausarbeiten möchte, korrespondiert wieder mit dem amorphen und farblich unbestimmbaren Verläufen, dem Realitäts-Kompost, dem rückgeführten Ur-Chaos: Es sind die klaren, leuchtenden und sauber voneinander geschiedenen Farben. Manchmal gruppieren sie sich und bilden einzelne Formen nach, doch in den meisten Fällen scheinen sie aus den streng umrissenen Formen hervor zu leuchten, wie das Licht der Sterne in der platonischen Weltvorstellung: das reine Licht aus dem Reich der Ideen, das durch die Löcher im Firmament in unsere Welt dringt.

Silja Ritter, Treasure

In unserem Vorgespräch sagte mir Silja Ritter, manchmal wünschte sie sich, mit nichts anderem malen zu können als mit farbigem Licht, vergleichbar mit dem Licht, das durch bunte Kirchenfenster fällt und mit seinen leuchtenden Farbfeldern sogar imstande ist, die konkrete Architektur vor unseren Auge nahezu aufzulösen.

In diesem Sinne stünde die reine Farbe in Silja Ritters Bildern für ein Utopia, in dem es dem Künstler gelungen ist, die vorgefundene Welt mit ihrer Dinglichkeit und ihren Struktur zu überwinden, und das Substrat, in das sich die überwundene Welt aufgelöst hat, zu läutern und scheiden in die reinen Farben, das reine Licht des Elysiums, eine endgültige, geläuterte utopische Wirklichkeit.


Silja Ritter, In Deinem Nichts hoffe ich das All zu finden

In dem Versuch, sich diesem Ringen und diesem Prozess bildnerisch zu nähern, in dem sich der Künstler nicht mehr in ein bestehendes System integriert, sondern daran arbeitet, es zu transformieren, ist es Silja Ritter gelungen, eine im hohen Maße eigenständige Bild- und Formensprache zu entwickeln, eine Art symbolischer Grammatik der essentiellen Bedingtheit künstlerischen Schaffens, die nicht nur eine hohe intellektuelle Dichte aufweist, sondern gleichzeitig einen mitreißenden sinnlichen Sog ausübt, der sowohl den furchteinflößenden Abgrund der Formlosigkeit, als auch das elysische Utopia am Horizont des künstlerischen Schaffens erahnen läßt

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein Ausstellungserlebnis, das ihnen nicht nur einen hohen sinnlichen Genuß bereiten wird, sondern auch ihren Sinn für die Wirklichkeit und deren mögliche Transformationen bereichern kann.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VG Wort, März 2017

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