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Donnerstag, 4. Mai 2017

Die Gegenwart der Erinnerung - Eröffnungsrede zur Ausstellung "Wonek Lee - p.o.r." von Dr. Thomas Piesbergen

Die Ausstellung "p.o.r." von Wonek Lee im Einstellungsraum e.V. findet statt im Rahmen des Jahresthemas "Drehmoment".

Wonek Lee, p.o.r., 2017
Vor wenigen Tagen hatte ich ein eigenartiges Erlebnis. Ich wurde mitten in der Nacht von meinem jüngsten Sohn aus einem ausgesprochen intensiven und bildgewaltigen Traum geweckt. Während ich, noch immer ganz umfangen von den Traumbildern, den Kleinen wieder beruhigte, dachte ich, wie gut es war, daß er mich geweckt hat, sonst wäre der Traum durch die weiteren durchschlafenen Nachtstunden sicher verschüttet worden, so als hätte ich ihn nie geträumt.

Plötzlich wurde mir klar, daß das Traumgeschehen, das ich vor wenigen Momenten als akute, intensive Gegenwart empfunden habe, nicht in dem Moment für mich zu einem faktischen Teil meines Erlebniskontinuums geworden ist, in dem ich es geträumt habe, sondern erst in dem Moment, in dem ich erwachte und imstande war, mich daran zu erinnern.
Die Paradoxie, die mich bei diesem Gedanken elektrisiert hat, bestand, darin, daß die Entscheidung, ob ich das Traumgeschehen als eine intensive Gegenwart empfinden konnte, nicht in dieser akut erlebten Gegenwart begründet gewesen ist, sondern durch ein zu dem Zeitpunkt noch zukünftiges Ereignis, nämlich das Erwachen. Erst die zukünftige Möglichkeit des Erinnerns ließ also die Gegenwart bewußt erlebbare Realität werden.

Doch wenn das zukünftige Erinnern die gegenwärtige Realität terminiert, eröffnet sich gleich das nächste Problem: Dieses erst noch kommende Erinnern, das das gegenwärtige Erleben erst hervorbringt, ist zugleich so geartet, das es das Erinnerte nur subjektiv und reduziert festhält, also einer authentischen Vergegenwärtigen zuwiderläuft. Es scheint also faktisch kaum möglich, sich ein vollständiges und konsistentes Bild erlebter Ereignisse zu machen.

In seinem Werk Schöpferische Entwicklung schrieb Henri Bergson 1907:

„Ist aber alles in der Zeit, dann wandelt sich auch alles von Innen her, und die gleiche konkrete Wirklichkeit wiederholt sich nie. Wiederholung also ist nur im Abstrakten möglich: was sich wiederholt, ist diese oder jene Ansicht, die unsere Sinne und mehr noch unseren Verstand eben darum von der Wirklichkeit ablösen, weil unser Handeln, auf das alle Anstrengung unseres Verstandes abzielt, sich nur unter Wiederholungen zu bewegen vermag. So kehrt sich der Verstand, einzig auf das konzentriert, was sich wiederholt, einzig darin befangen, Gleiches mit Gleichem zu verschweißen, vom Schauen der Zeit ab. Ihn widert das Fließende, und er bringt zur Erstarrung, was er berührt. Wir denken die reale Zeit nicht. Aber wir leben sie, weil das Leben über den Intellekt hinaus schwillt.

Wir können also weder den tatsächlichen Ablauf eines Ereignisses rekonstruieren und wiederholen, noch können wir im Anschluß an ein Ereignis dasselbe in seiner Gänze in der Erinnerung wieder beleben. Das einzige, was wir können, ist die wenigen Elemente, die sich uns eingeprägt haben, zu einem sinnvollen Muster zu ordnen, das uns im Abgleich mit dem Vorgefundenen wahrscheinlich erscheint. Das Bewußtsein einer Gegenwart kann, nach Bergson, erst durch die abstrahierende Rückschau entstehen, die körperliche Gegenwart selbst ereignet sich bewußtlos.

Vernissage, Dr. Thomas Piesbergen
Die Eigenart des Verstandes Muster aufzuspüren hat in den vorgeschichtlichen Kulturen zu der "erstarrten" mythischen Vorstellung kollektiver Tierseelen geführt (Joseph Campbell). Später ordneten sie sich als Naturgeister und Gottheiten zu einem Pantheon, dem eine eigene Lebenssphäre, ein eigener Götterhimmel zugestanden wurde. In der Antike wurde dieses Wahrnehmungsprinzip von Aristoteles neu formuliert in Gestalt der aristotelischen Urbilder, den ursächlichen Ideen, die den Erscheinungen unserer Welt zugrunde liegen sollten. Der Mensch erschuf sich so eine bildhafte Gegenwelt, eine idealisierte Spiegelung der erlebten Wirklichkeit.

In der Gegenwart begegnen wir dieser Eigenart des menschlichen Verstandes, sich Spiegelungen zu schaffen, in der digitalen Protethik, den Computern und ihren Algorithmen, mit denen unsere Kapazität der Welterkenntnis und Effizienz vervielfacht werden soll.

Zunächst war das zentrale Paradigma der digitalen Gegenwelt die Simulation. Der Mensch versuchte die von ihm erkannten Muster in Algorithmen zu übersetzen, um mit darauf basierenden Rechenprozessen eine virtuelle Wirklichkeit zu schaffen, die der unsrigen soweit wie möglich entsprechen sollte, sei es, um Klimaprognosen zu erstellen, um besonders realistische Computerspiele zu programmieren oder einfach nur um Benutzeroberflächen zu schaffen, die ein Gefühl der analogen Interaktion hervorrufen.

Doch die digitalen Welten, die dadurch geschaffen worden sind, unterscheiden sich in einem maßgeblichen Punkt von unserer Lebenswirklichkeit, denn in ihnen ist es möglich, die gleiche, konkrete Wirklichkeit zu wiederholen - schließlich sind sie ein reines Produkt unserer mustergenerierenden Vernunft:
Beginnen wir ein Computerspiel von neuem, findet sich unser Avatar in der immer vollkommen identischen Situation wieder; die Abfolge der Ereignisse folgt immer dem gleichen zeitlichen Muster; die virtuellen Objekte verhalten sich immer gleich und durch die Repetition der immer gleichen Routinen lernt man schließlich das Spiel zu beherrschen.

In der digitalen Welt ist es möglich, alle Situationen zu resetten, das System zu rebooten, um noch einmal von vorne zu beginnen. Die unumkehrbare Linearität des Zeitpfeils, das Fließende scheint aufgehoben und die fatale Besessenheit des Großen Gatsby scheint auf einmal nicht mehr vergeblich zu sein, wenn er ausruft: „Die Vergangenheit nicht wiederholen?“(…)“Aber natürlich kann man das!“

Inzwischen ist das Bedürfnis des Menschen, sich in einer prothetischen Wirklichkeit ein idealisiertes Spiegelbild zu schaffen, in eine neue Phase getreten. Das neue goldene Kalb der Software-Entwicklung heißt nicht mehr Simulation, sondern Mustererkennung.
Nicht mehr der Mensch ist es, der dem Computer die Muster, die er zu erkennen geglaubt hat, einprogrammiert, sondern die Computer sollen selbsttätig in der Lage sein, in der Außenwelt Muster aufzuspüren und sie miteinander abzugleichen.
Kameras und Bildverwaltungsprogramme verfügen über selbsttätige Gesichtserkennung. Facebook und andere Dienste verknüpfen selbsttätig Gesichter mit den dazugehörigen Namen. Derzeit sollen die Mustererkennungsroutinen auf Facebook soweit verfeinert werden, daß sie imstande sind, nicht nur Gegenstände wie Stühle, Kaffeetassen oder Fahrräder auf hochgeladenen Photos zu erkennen, sondern auch sie den jeweiligen Marken und Herstellern zuzuordnen.

Dahinter stecken zwei maßgebliche Motive:

Zum einen soll die vergangene, individuell erlebte Wirklichkeit kontrollierbar gemacht werden, um sie idealisierten, normativen Mustern anzupassen. Wenn z.B. ein zu fotografierender Mensch sich selbst einem eingebauten Smile Detector hartnäckig verweigert, ist es ohne weiteres möglich, ihn nachträglich mit Hilfe einer App zum Lächeln zu bringen.

Wenn das Wetter im Urlaub schlecht gewesen ist, erkennt der Computer, was alles zum Grau des verhangenen Himmel gehört und macht es strahlend blau.
Es wird sicher auch nicht mehr lange dauern, daß er aus Aldi-Sonnenbrillen Ray-Ban-Modelle macht und die entsprechenden Reflexe auf die Gläser zaubert, daß er Zellulitis und Bierwampen selbsttätig korrigiert, den Busen und den Bizeps vergrößert und so eine idealtypisch-normierte Wirklichkeit schafft, mit der sich der User einer Weltöffentlichkeit zu präsentieren getraut.

Auf der anderen Seite stehen natürlich die eiskalt kalkulierten ökonomischen Interessen der Datenkrake, die das Konsumverhalten der User bis in die intimsten Winkel ausleuchten möchte, um sie zu kontrollieren und zu einer perfekt auszubeutenden Resource zu degradieren.

In beiden Fällen aber ist der Glaube an konsistente, sich stets wiederholende Muster wirksam, sowie das starke Bedürfnis, ein Spiegelbild zu schaffen, das unsere Wirklichkeit deutlicher, schöner, verständlicher und kontrollierbarer wiedergibt, als sie ohne diese Prothese der Wirklichkeit tatsächlich ist.

In seinen bisherigen Arbeiten hat sich Wonek Lee immer wieder intensiv mit diesen Problemen der Normierung über den Umweg durch eine digitale Gegenwelt beschäftig sowie mit der temporären Migration der Identität zwischen der analogen und der digitalen Sphäre; und wie andere Künstler, die mit ihrem Material umgehen und durch Experimente zu neuen formalen Lösungen kommen, entwickelte er, ausgehend vom Medium und dessen Auswirkungen auf unsere kulturellen Routinen, seine künstlerischen Konzepte.

Die Genesis der Arbeit „p.o.r.“, oder auch als „p.o.v.“ zu lesen (also Persistence of Vison oder Persistence of Remembrance) hat jedoch einen ganz anders gearteten Ausgangspunkt:

Als er im Februar 2017 in China war, unternahm er eine fünfstündige Wanderung um den Westsee zwischen Shanghai und Hangzhou. Als er nach 4 Stunden eine Pause machte, um auszuruhen, überkam ihn, ausgelöst durch den Schlüsselreiz des eigentlich gewöhnlichen Seegeruchs, eine ungewöhnlich heftige Erinnerung, ein akuter Flashback: Er erlebte bis ins Detail zum zweiten mal den Moment, als er zwei Monate zuvor seiner Freundin auf einem Boot inmitten des Westsees den Verlobungsring schenkte. Alle Einzelheiten kehrten in diesem Erinnerungsereignis wieder, bis hin zu der damals empfundenen Kälte und den Gesichtszügen des Bootsführers.

Aus subjektiver Sicht erlebte er etwas, das sich jeder objektiven Vernunft entzieht, nämlich einen Moment, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart berühren, also das bewußtlos fließende Körperlich-Zeitliche und das ordnende Erinnerungsgedächtnis (H. Bergson) miteinander verschmelzen, als seien sie durch ein die Raumzeit überwindendes Wurmloch miteinander verbunden.
 Zwar empfand er das Ereignis als in hohem Maße real und eindringlich, da es ja sogar mit akuten physischen Empfindungen und fast hyperrealen Details einherging, andererseits hatte es, da es allen Routinen der Vernunft widersprach, etwas Gespenstisches, denn es ließ ihn etwas empfinden, das eigentlich nur innerhalb einer digitalen Realität möglich ist: die gleiche und konkrete Wiederholung der Wirklichkeit.

Dieses Ereignis regte ihn an, sich intensiv mit den Phänomenen Zeit und Erinnerung in einem digital-medialen Kontext auseinanderzusetzen und das erlebte Phänomen in eine Form zu übersetzen, die es metaphorisch zu spiegeln versucht.

Im Zentrum der Installation "p.o.r." steht auf einem Dreibein mit bewußt gewählt menschlichen Dimensionen eine rotierende Lichtleiste mit LEDs. Die Rotation und die Lichtimpulse werden durch einen Computer so aufeinander abgestimmt, daß sie unter Ausnutzung des „Persistence of Vision“-Effekts Bilder erzeugen.

Wonek Lee, p.o.r., 2017
Die verschiedenen Eigenarten der Wahrnehmung dieses sog. P.O.V.-Displays korrespondieren mit verschiedenen Eigenschaften unserer Erinnerung. Wie das Bild des P.O.V.-Displays setzt sich unsere Erinnerung aus einer unüberschaubaren Zahl von Details und Fragmenten zusammen, die von uns zu einem Ganzen zusammengefügt werden, zu einem sinnvollen Muster, das uns im Abgleich mit der Gegenwart wahrscheinlich erscheint.
Gleichzeitig bleibt die Erinnerung geisterhaft, nicht wirklich greifbar. Sie hat keine Substanz, keinen Körper, so wie das vom P.O.V.-Display erzeugte Bild in der Luft zu schweben scheint und keine Körperlichkeit hat, ganz so wie Henri Bergson das abstrakte, aus Mustern aufgebaute Erinnerungsgedächtnis charakterisiert.

Dieses Bild wird wiederum aufgefangen und gespiegelt zwischen zwei halbdurchlässigen, runden Glasscheiben, in denen es sich bis in eine verdämmernde Unendlichkeit wiederholt. Zu Beginn der auf dem P.O.V.-Display gezeigten Bildsequenz entsteht ein Tunnel aus Licht, der gelesen werden kann als Einladung in eine erinnerte, zeitliche Tiefe einzutauchen, als ein Time Tunnel, ein Wurmloch, das zwei Punkte der Raumzeit miteinander verschmelzen läßt.
Darauf folgt das flimmernde Ziffernblatt einer Uhr, das sich rasch deformiert, einerseits als Symbol der Zeitgebundenheit, der ephemeren Qualität aller Erscheinungen, gleichzeitig auch ein Verweis auf Dalis schmelzende Uhren in dem Bild „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (engl. Persistence of Remembrance) und deren Konnotation, die Geltung der zeitlichen Linearität löse sich in der im Traum erlebten Erinnerung auf, so wie es auch Wonek Lee am Ufer des Westsees selbst erlebt hat: vollständig und tief.

Wonek Lee, p.o.r., 2017

In dem weiteren Verlauf der Bilder tauchen mehrfach Darstellungen des menschlichen Gehirns auf. Dadurch werden Assoziationen angestoßen, die die verschiedenen Reflektionsebenen auf den Glasscheiben in die Nähe der Darstellung eines MRTs rücken, eine von Wonek Lee bewußt eingesetzte gedankliche Verknüpfung: denn so wie in einem MRT versucht wird, die vollständige Darstellung des untersuchten Objekts durch seine scheibenartige Fragmentierung zu erreichen, so wäre es, der Vernunft folgend, auch notwendig, um einen erlebten Moment in der Erinnerung in seiner ganzen Tiefe wieder auferstehen zu lassen, ihn scheibchenweise, in allen Details und aus allen Blickwinkeln wahrzunehmen. Denn genauso erschien Wonek Lee die akute Gegenwart der Erinnerung am Westsee.

Um schließlich die vermeintliche Perfektion der Technik und die durch sie erträumte unbegrenzte Machbarkeit zu konterkarieren, hat Wonek Lee bewußt auf eine makellose Wiedergabe der Bildsequenz verzichtet. Denn schließlich, wie Bergson es ausdrückt, schwillt das Leben über den Intellekt hinaus, dessen Repräsentation der Computer ist. Die Spiegelung der Wirklichkeit durch die Vernunft und ihre digitale Prothese muß an ihrer wesensbestimmenden Eigenart scheitern, in etwas Fließendem nach statisch sich wiederholenden Mustern zu suchen, in etwas Fließendem, das sich wesensbestimmend der Wiederholung widersetzt.

Im Gespräch: Wonek Lee und Dr. Thomas Piesbergen
 Ein letzter Aspekt, auf den ich hinweisen möchte ist der Verweis auf diesen Unterschied zwischen der Landschaft und der Karte, zwischen der gelebten fließenden Wirklichkeit und ihrer aus Mustern aufgebauten Simulation: Jedes mal, wenn es nicht mehr von dem Leuchten des P.O.V.-Displays überstrahlt wird, stehen wir, reflektiert von der halb getönten Scheibe, erbarmungslos dem Zahn der Zeit unterworfen und in steter Veränderung begriffen, unserem eigenen Spiegelbild gegenüber. Auch wenn wir uns in eine überzeitliche Wiederauferstehung der Vergangenheit, in eine digitale ewige Gegenwart flüchten wollen, werden wir doch immer wieder und unweigerlich in die sich stets fließende, wandelnde und vergehende Zeitlichkeit unserer Körper zurück geworfen.

ⓒ Dr. Thomas J. Piesbergen / VGWort, Mai 2017






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